Das belgische Urteil zur völkerrechtlichen Bewertung der PKK

Eine kleine Revolution in der europäischen Rechtsprechung

Interview mit Mahmut Şakar


Der Kassationshof in Brüssel hat am 28. Januar 2020 endgültig die Entscheidung des Revisionsgerichts vom März 2019 bestätigt, wonach die Arbeiterpartei Kurdistan PKK keine »terroristische Organisation«, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt sei. Wir führten darüber ein Interview mit Mahmut Şakar, Rechtsanwalt und stellvertretender Vorsitzender von MAF-DAD e. V. – Verein für Demokratie und internationales Recht.

»Die europäische Politik muss nun die Realität des Krieges in Kurdistan anerkennen und sich einem politischen Wandel zuwenden, der sich für Frieden und eine Lösung des Konfliktes einsetzt.« Demonstration in Brüssel für eine friedliche Lösung in Kurdistan und die Freilassung Öcalans. Foto: anfIn Belgien hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass die PKK keine Terrororganisation sei, sondern als Kriegspartei im Konflikt mit der Türkei angesehen werden müsse. Weiterhin wurde erklärt, dass der Kampf der PKK im Rahmen des internationalen Kriegsrechts geführt werde. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Ich betrachte diese Entscheidung seit dem ersten Tag als eine kleine Revolution in diesem Rechtsstreit. Ich denke, dass sie, nach einem zehnjährigen Rechtsstreitmarathon, einige wichtige Folgen mit sich bringt. Ich möchte hier einige erwähnen:

1. Es wäre nicht falsch, den Fall unter Berücksichtigung der Ziele, der Bandbreite der Angeklagten und des Zeitpunkts seiner Eröffnung als »KCK-Fall in Belgien«1 zu bezeichnen. Tatsächlich ist das ein Fall, der die kurdische Freiheitsbewegung in einer Miniaturform abdeckt und viele Menschen und Institutionen miteinschließt, die im Namen Kurdistans Politik machen. So waren unter anderem KNK-, PJAK-, PYD-, Jugend- und Frauenaktivist*innen und Vertreter*innen von TV und Presse angeklagt. Es ist eine Art rechtlich-politischer Angriff, der als exemplarischer Fall konzipiert wurde. Wie aus den WikiLeaks-Dokumenten hervorgeht, die die Anwält*innen im Prozessverfahren eingeführt haben, wurde der Prozess in Zusammenarbeit mit türkischen und belgischen Beamt*innen unter der Schirmherrschaft der USA organisiert.

Interessant ist hierbei, dass zur selben Zeit in der Türkei und in Kurdistan die KCK-Verfahren eröffnet wurden und es zu Massenverhaftungen kam. Ein weiterer »Zufall« ist es, dass zur selben Zeit in Deutschland erstmals einem kurdischen Aktivisten im Rahmen des Paragraphen 129 b der Prozess gemacht wurde. Diese Phase der Repression, die in der Türkei, in Deutschland und in Belgien unter dem Namen der »KCK-Prozesse« begonnen und geführt wurde, war regelrecht ein globaler Angriff zur Liquidierung der kurdischen Freiheitsbewegung auf rechtlicher Ebene.

Der Kassationsgerichtshof hat dieses Vorhaben aus dem Jahr 2010 zumindest in Belgien nun ins Leere laufen lassen, so dass kurdische Politiker*innen, Parteien und Medien nun nicht mehr unter dem Deckmantel des »Terrorismus« kriminalisiert werden dürfen.

2. Der türkische Staat diffamiert die legalen Forderungen der Kurd*innen seit nun mehr als vierzig Jahren als Terrorismus. Deutschland verfolgt diese Politik seit 1993 und Europa seit 2002. Nach all den schweren Verbrechen gegen das kurdische Volk spielen die belgische Entscheidung und der damit zusammenhängende Diskurs eine große Rolle. Dass in diesem Prozess eine andere Bewertung der PKK als die einer »terroristischen Organisation« zustande kam, galt in Anbetracht des festen europäischen Diskurses um den Terrorismusbegriff als fast unmöglich. Die Sichtweise der PKK und anderer Organisationen als »terroristische Vereinigungen« schien eine allgemeine Akzeptanz widerzuspiegeln. Die Ausweitung des Terrorismusbegriffs im Westen geschah zu einer Zeit, als der Diskurs über den Begriff des »Staatsterrors« aus der Öffentlichkeit verdrängt wurde. Die sich besorgt gebenden Mächte griffen die Kurd*innen im Angesicht der Massaker des türkischen Staates mit noch hässlicheren Worten an, als die Türkei das selber tat. Mit der Entscheidung des belgischen Kassationshofes wird nun der »Terrorlegende« ein Ende bereitet, in welche diese Staaten über die Jahre hinweg stark investiert haben.

Es ist eine Premiere an sich, dass ein NATO- und EU-Staat, in vielerlei Hinsicht in den Westen integriert, nun eine solche Entscheidung für eine bewaffnete Widerstandsbewegung trifft. Das ist durchaus ein Novum.

Welche rechtlichen und politischen Konsequenzen sehen Sie?

Zunächst sehe ich auch die Justiz als ein Feld des Kampfes und des Widerstands. Es gibt in der Geschichte keine Justiz und keine Gerichtsbarkeit, die unabhängig von der Politik entstanden sind und agieren. So wie der Prozess, der zu dieser Entscheidung führte, durch ernsthafte rechtliche und politische Anstrengungen möglich wurde, ist diese Entscheidung, die schwerwiegende rechtspolitische Konsequenzen hat, als ein Teil des Kampfes und des Widerstands zu verstehen. Die Auswirkungen einer juristischen Entscheidung stehen in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise, wie sie bewertet wird.

Aus »juristisch-technischer« Sicht kann dieses Urteil als rein belgische Entscheidung in einem nach belgischem innerstaatlichem Recht eingereichten Fall angesehen werden. Ich teile diese positivistische Ansicht jedoch nicht. Meine Beweggründe beschränken sich hierbei nicht nur auf die Tatsache, dass diese Entscheidung von einem europäischen nationalen Gericht als Präzedenzfall angesehen werden kann. Es geht auch um den Prozess zur und den Inhalt der Entscheidung selbst.

Man muss hier erwähnen, dass der türkische Staat in diesen Fall involviert war. Von Anfang an erhob er gegen alle positiven Entwicklungen im Verfahrensverlauf Einwände und setzte dabei viele Rechtsmittel ein. Gleichzeitig hat er in diesem Prozess fast all seine Informationen, Dokumente, Archive, also sein gesamtes [prozessuales] Schießpulver sowohl gegen die angeklagten Personen und Institutionen als auch gegen die PKK, offengelegt und damit erschöpft. Mit einer zentralen Anweisung forderte die türkische Justiz alle Dokumente bei den lokalen Behörden an, übersetzte sie ins Niederländische und führte sie in den belgischen Prozess ein.

Darüber hinaus hat die belgische Staatsanwaltschaft alle Gerichtsverfahren, Gutachten usw. mit Bezug auf die PKK oder kurdische Politiker*innen in England, Deutschland, Italien, Frankreich, Dänemark und allen anderen Ländern für ihre Anklage verwendet.

Natürlich enthielten die Entscheidungen, die im Verlauf des langen Gesamtprozesses von verschiedenen belgischen Gerichten getroffenen wurden, Bezüge sowohl zu den Eingaben des türkischen Staates als auch zu den Entscheidungen und Berichten der Gerichte und Behörden europäischer Länder.

Mit anderen Worten, obwohl es beim ersten Blick um eine in Belgien eingereichte Klage geht, handelt es sich jedoch um einen Fall mit einer solchen Breite, dass wir den Prozess als Beispielfall einer gesamteuropäischen PKK-Klage behandeln können. Alle interessierten Staaten haben in diesem Fall gegen die PKK ihre Trümpfe ausgespielt und, was noch wichtiger ist, dabei eine Abfuhr von den belgischen Gerichten erhalten. Die Besonderheit dieser Entscheidung ist, dass sie über den juristisch-technischen Charakter einer rein innerstaatlichen Entscheidung hinausgeht.

Politisch hat diese Entscheidung ein großes Fragezeichen hinterlassen. Wenn die PKK nun keine »terroristische Vereinigung« ist und die Realität des Krieges in Kurdistan nun akzeptiert wird, wenn die PKK als Kriegspartei angesehen wird, müssen dann die politischen Entscheidungsträger*innen in Europa nun auch zu einer neuen Sprachregelung finden und einen neuen Diskurs eröffnen? Man sollte hier die Äußerungen des belgischen Botschafters, der diese Entscheidung als »politisch motiviert« zu diffamieren versuchte, nicht weiter ernst nehmen, da er Erdoğans Reaktion in Ankara fürchtet. Die europäische Politik muss nun die Realität des Krieges in Kurdistan anerkennen und sich einem politischen Wandel zuwenden, der sich für Frieden und eine Lösung des Konfliktes einsetzt. Mir ist bewusst, dass dies nicht einfach ist. Aber mit dieser Entscheidung können zumindest die demokratischen Teile Europas eine aktivere Richtung einschlagen. Wenn wir diese Entscheidung zusammen mit dem Beschluss gegen die Listung der PKK auf der EU-Terrorliste betrachten, der am 15. November 2018 eingegangen ist,2 gibt es nun keine Ansatzpunkte für die europäische Politik mehr, mit der sie die Kurd*innenfrage als »Terrorismus« abtun kann. Wir können feststellen, dass den repressiven Kräften das Garn ausgegangen ist. Wie bei vielen Dingen, die sich ändern, wird es jedoch diejenigen geben, welche die bestehende Herangehensweise beibehalten wollen, auch wenn sie dies nicht mehr so effektiv wie zuvor betreiben können.

Wie kann sich diese Entscheidung auf die Kriminalisierungspolitik gegen die Kurd*innen auswirken?

Die rechtlichen Konsequenzen des Terrorismus-Diskurses sind hierbei nicht hauptsächlich. Die politischen und sozialen Folgen sind weitaus schwerwiegender. Aus diesem Grunde wird dieser Diskurs auch schon seit Jahren geführt. Er basiert vor allem darauf, die Berechtigung des Widerstands der kurdischen Bewegung kleinzureden und der staatlichen Gewalt gegen die Kurd*innen Legitimität zuzuschreiben. Und in diesem Zusammenhang noch wichtiger: Die europäischen Staaten bemühen sich durch die Medien und auf andere Weise, diese Sichtweise als objektive Tatsachen über die kurdische Bewegung auszugeben. Damit wollen sie verhindern, dass Völker, Gesellschaften und fortschrittliche Gruppen mit dem kurdischen Volk zusammenarbeiten und gemeinsame Kämpfe führen. Wir wissen, wie sehr das kurdische Volk und seine politischen Institutionen durch die Politik der Kriminalisierung in bestimmten Zeiträumen gesellschaftlich isoliert wurden und sie zum Ziel eines Großangriffs erklärt worden sind.

Diese Sichtweise auf die kurdische Bewegung neigte in den letzten Jahren dazu, sich zu verändern. Tatsächlich handelt es sich hierbei um historische Entwicklungsprozesse, die wir als Reflexionen des Widerstands des kurdischen Volkes verstehen können. Die Hauptdynamik ging von der Revolution in Rojava aus. Sowohl das neue gesellschaftliche Projekt in Rojava, die gewissenhafte Verantwortung für die Verhinderung eines Völkermordes in Şengal, der historische Kampf gegen den IS als auch die Frauenbefreiung und die damit einhergehende Befreiung der Völker im Nahen Osten haben die Türen zu einem radikalen Veränderungsprozess geöffnet.

Die Entscheidung zur EU-Terrorliste, insbesondere auch die vom Obersten Gerichtshof in Belgien getroffene Entscheidung vom 28. Januar 2020, werden einen Änderungsprozess bezüglich der Kriminalisierungspolitik anstoßen. Es ist notwendig, diesen allmählich zunehmenden Trend gegen die Kriminalisierung zu erkennen. Entgegen allen Bemühungen verschiedener Staaten wird diese Dynamik noch weiter zunehmen. In dieser Hinsicht wird es auch sehr wichtig sein, diese Entscheidung so weit wie möglich zu reflektieren, sie in den allgemeinen politischen Diskurs in den jeweiligen Ländern zu stellen und zu versuchen, daraus auf lokaler Basis Gewinn zu schlagen. Ich denke, dass alle kurdischen Institutionen und demokratischen Personen nun diese Entscheidung Schritt für Schritt zu einem Hauptthema ihrer Gespräche und sozialpolitischen Aktivitäten machen sollten.

Wird das seit 1993 in Deutschland bestehende PKK-Verbot durch diese Entscheidung nicht entkräftet? Welche Auswirkungen wird diese Entscheidung auf die laufenden Paragraph-129a- und -129b-Fälle haben?

Die umfassendste und tief verwurzelte Praxis der Kriminalisierung des kurdischen Volkes in Europa wurde natürlich in Deutschland patentiert. Deutschland ist hier quasi der Vorreiter. Das PKK-Verbot 1993 steht als der wichtigste Wendepunkt in dieser Praxis. Es wurde ursprünglich als angebliche innenpolitische Notwendigkeit erlassen und durch Aktualisierung und Erweiterung Schritt für Schritt bis heute aufrechterhalten. Durch die Gerichtsentscheidung in Belgien werden die repressiven Maßnahmen in Deutschland gegen die kurdische Bewegung infrage gestellt. Das vom deutschen Staat durchgesetzte PKK-Verbot wurde dadurch deutlich geschwächt. Die Sinnlosigkeit dieses Verbots kann durch diese Entscheidung deutlicher gesehen und erläutert werden.

Es wäre von Vorteil, das Problem mit dem Paragraphen 129 b (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung) separat zu behandeln. Einige meiner Kolleg*innen denken, dass die belgische Entscheidung keine Auswirkungen auf §129b-Fälle haben wird. Praktisch gesehen weiß ich nicht, wie die Gerichte mit dieser Entscheidung in Deutschland umgehen werden oder ob sie sie gar ignorieren. Inhaltlich betrifft die belgische Entscheidung jedoch den Kern der §129b-Verfahren. Die Frage lautet: Handelt es sich bei der PKK um eine terroristische Organisation oder um eine bewaffnete Konfliktpartei im Sinne des internationalen Völkerrechts? Der § 129 b bezieht sich ja nicht auf Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, sondern auf »internationale Terrororganisationen«. Mit anderen Worten, wie werden die Auseinandersetzungen in der Türkei, die gemeinhin als »kurdische Frage« bezeichnet werden, in ihrer historischen und sozialen Tiefe ausgeleuchtet? Hier macht es sich der deutsche Staat sehr leicht mit einer sehr oberflächlichen Definition von »Terrorismus«. In allen Strafverfahren werden Berge von Akten eingeführt – zumeist Abhörprotokolle von Telefonüberwachungen – und es wird versucht, mit einem formalisierten Prozessverfahren Verurteilung und Bestrafung der Angeklagten zu erzwingen. Die Hintergründe des Konflikts werden in den Verfahren zwar auf Druck der Anwält*innen erörtert, sind aber für die Urteilsfindung ohne Belang. Ich möchte Sie hierbei daran erinnern, dass diese Klagen nur mit Genehmigung des deutschen Justizministeriums eingereicht werden können.

Die belgische Justiz, die mit einem sehr langen Verfahren – vom Amtsgericht zum Berufungsgericht und von dort aus zum Obersten Gerichtshof – eine umfassende Untersuchung auf der Grundlage internationaler Konventionen und des Völkerrechts eingeleitet hat, kann hierbei als Vorbild für die deutsche Justiz fungieren. Es ist möglich, diese Sichtweise auch in allen deutschen Verfahren und Gerichtsentscheidungen anzuwenden.

In diesem Zusammenhang erklärten die belgischen Gerichte beispielsweise in Bezug auf ein in Deutschland durchgeführtes §129b-Verfahren, es sei interessant, dass »PKK-Maßnahmen nicht im Lichte des allgemeinen Artikels 3 der Genfer Konvention geprüft werden sollten«. In gewisser Weise zeigen sie damit der deutschen Justiz in §129b-Fällen einen Weg auf, auch zu anderen Entscheidungen zu kommen. In einigen Fällen wurden sogar die in die Verfahren eingeführten »Experten-Berichte« über die kurdische Befreiungsbewegung, welche die Grundlage für die Verurteilung bilden, »sowohl methodisch als auch in Bezug auf die Zuverlässigkeit der verwendeten Ressourcen« infrage gestellt und abgelehnt. Dadurch wird betont, dass diese Dokumente, welche die Grundlage für die offizielle Einschätzung der PKK in Deutschland liefern, möglicherweise nicht wissenschaftlich und objektiv sind.

Anhand dieser kurz aufgeführten Beispiele kann man verstehen, wie wichtig diese belgische Entscheidung auf allen Ebenen ist, ob im engeren juristischen Sinne oder in Bezug auf die darin enthaltenen Argumente.

Auf welche Weise sollten die Brüsseler Entscheidung gegen das PKK-Verbot und die damit einhergehenden Terrorismusvorwürfe in Deutschland berücksichtigt werden? Welche Initiativen können Anwält*innen zu diesem Thema ergreifen?

Diese Entscheidung ist für Anwält*innen ganz klar ein Bezugspunkt in ihren Strafverfahren. Meiner persönlichen Meinung nach ist es aber auch notwendig, diese Entscheidung im öffentlichen Diskurs zu behandeln, um Einfluss auf das gesellschaftliche Klima zu erhalten, in dem diese Prozesse geführt werden. In der Anwaltspraxis können in den verhandelten Fällen Parallelen zwischen den Vorwürfen gegen die in Deutschland Angeklagten und den Fällen in Brüssel aufgezeigt werden. Um dies zu erreichen, brauchen wir einen langen Atem, auch wenn das aktuelle Brüsseler Urteil nicht mehr in den Medien präsent ist. Das Hauptziel ist natürlich, die belgische Herangehensweise zur Grundlage für neue Urteile in Deutschland zu machen. Es wird dann möglich sein, dass neue »Brüsseler Entscheidungen« auch von deutschen Gerichten getroffen werden.

Wie aus all meinen Erläuterungen hervorgeht, wird Deutschland der schwierigste Ort in Europa sein, um ein Umdenken zu bewirken. Deutschland behandelt politische Fälle mit einer Herangehensweise, die sich wie ein Labyrinth mit zugleich verschlossenem Ausgang darstellt. Das Vorgehen der deutschen Justiz bleibt klar hinter den zum Teil faireren Prozessen im restlichen Europa zurück. Auf die Verteidigungsstrategie, die politischen Hintergründe der Verfahren zu beleuchten, wird selten eingegangen und diese damit neutralisiert. Natürlich gebe ich zu, dass es somit in Deutschland schwieriger ist, vor Gericht Erfolg zu haben. Ich sehe dies jedoch nur als Motivation an, um noch mehr zu kämpfen. In dieser Hinsicht sollten nicht nur Anwält*innen, sondern auch die Angeklagten, zivile Institutionen und Personen, die sich für diese Problematik interessieren, diese Gerichtsentscheidungen hinterfragen und als Grundlage für ihr Vorgehen gegen den mechanischen Ablauf des deutschen Justizsystems im Zusammenhang mit der PKK machen. Auch politische Institutionen sollten dies tun. Wenn zum Beispiel die Realität des Krieges in Kurdistan starken Einfluss auf diese Gerichtsentscheidung hätte, würde ihre rechtliche Umsetzung bereits dem Geist der Brüsseler Entscheidung entsprechen.

Bisher wurden die Brüsseler Entscheidung und die Entscheidung, die PKK von der Terrorliste zu streichen, den deutschen Gerichten vorgelegt. Sie wurden jedoch bislang nicht berücksichtigt, sodass es bisher keine abweichende Entscheidung gab. Glauben Sie, dass es demnächst greifbare Konsequenzen haben wird?

Die Brüsseler Entscheidung kann den Gerichten leicht vorgelegt und eine Diskussion darüber angestoßen werden. Wenn man aber nach vergleichbaren Urteilen in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern fragt, ist die Antwort natürlich negativ. In dieser Hinsicht hat das belgische Urteil möglicherweise kein »greifbares« Ergebnis. Zumindest geschieht das nicht automatisch. Aber das Problem geht weit darüber hinaus. Der rechtspolitische Geist, die Perspektive und der Diskurs der europäischen Politik in der Kurd*innenfrage wurden durch diese Entscheidung ernsthaft infrage gestellt. Dies bietet uns neue Möglichkeiten. Die Hauptsache ist, diese Möglichkeiten zu sehen, zu fühlen und begeistert zu sein. Konkrete Ergebnisse können erzielt werden, wenn Anwält*innen, Politiker*innen oder zivile Institutionen dies auf ihrem Gebiet zur Grundlage eines eigenen Kampfes machen. Diese belgische Entscheidung ist selbst das Ergebnis eines langjährigen Rechtsstreits. Die Gerichte gingen mit ernsthaftem Bemühen auf alle vorgebrachten Diskurse, Dokumente und Ausführungen ein. Alle Argumente, die das Gericht in seiner Entscheidung verwendete, sind die Argumente, Dokumente und Präsentationen, die von der Verteidigung im Prozess eingeführt worden waren.

Abschließend möchte ich sagen: Die Realität des Krieges, insbesondere die Verpflichtung zur Einhaltung des Artikels 3 der Genfer Konvention, sollte nicht nur im Hinblick auf die PKK, sondern auch in Bezug auf den türkischen Staat berücksichtigt werden. Die Logik der Brüsseler Entscheidung besagt, dass schwere Verbrechen, insbesondere die Kriegsverbrechen des türkischen Staates gegen das kurdische Volk, auch im Rahmen des humanitären Völkerrechts behandelt werden können. Ich denke, es gibt gute Argumente, die schweren Verbrechen in Kurdistan in den Jahren 2015–2016 auf dieser Basis zur Anklage zu bringen.

Fußnoten:

1 - Unter dem Begriff »KCK-Verfahren« wurden 2009 in der Türkei Strafverfahren gegen Hunderte kurdische Oppositions- und Kommunalpolitiker*innen eröffnet.

2 - Im November 2018 beschloss der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, dass die Aufnahme der PKK in die »EU-Terrorliste« im Zeitraum von 2014 bis 2017, dem Zeitraum, auf den sich die Klage bezog, rechtswidrig war. Dagegen läuft aktuell ein Berufungsverfahren ebenfalls vor dem Europäischen Gerichtshof.