Aktuelle Bewertung

Die Kriege im Schatten der Pandemie

Mako Qoçgirî, Politikwissenschaftler und Mitarbeiter von Civaka Azad


Rojava/Nordsyrien ist in der Corona-Krise auf sich allein gestellt. Um die Bevölkerung zu schützen, sind die Menschen aufgerufen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Grundnahrungsmittel werden an die Bevölkerung verteilt. Foto: anhaEs gibt derzeit nur ein Thema in den Medien – das Corona-Virus. Die Pandemie scheint den Alltag der Menschheit lahmgelegt zu haben. Jeden Tag gibt es Updates zu den neuen Infektions- und Todeszahlen. Und alle fragen sich, wann wir wieder zur Normalität zurückkehren können.

Die gegenwärtige Pandemie hat offen zu Tage gelegt, wie verwundbar das globale System ist, in dem wir leben. Debatten, die in westlichen Staaten darüber geführt werden, inwieweit Maßnahmen gegen das Virus für die Wirtschaft noch aushaltbar sind, während es offensichtlich um den Schutz von Menschenleben gehen müsste, zeigen zudem, wie sehr der Stellenwert von moralischen Werten innerhalb unseres Systems gefallen ist. Wie von einer plötzlichen Panik erfasst, versucht nun ein jeder Staat im globalen Norden auf eigene Faust Herr der Lage zu werden. Wurden noch vor wenigen Monaten die drastischen Maßnahmen in China gegen die Ausbreitung des Virus und die Situation in der Region Wuhan belächelt, weil Zustände wie diese ja in autoritären Regimen so wenig überraschend sind, gelten Ausgangssperren und die Einschränkung von Grundrechten nun auch in der westlichen Hemisphäre als probate Mittel, um die Ausbreitung des Virus zu entschleunigen. Auch Meldungen über verwahrloste Zustände in Altenpflegeheimen in Spanien oder die Aushebung von Massengräbern in den USA können uns mittlerweile kaum noch erschüttern. Und wenn nun die USA 200.000 Atemschutzmasken, die eigentlich für Berlin bestimmt waren, in Thailand abfangen lassen, nehmen wir das auch nur noch mit einem müden Achselzucken zur Kenntnis. Eine Begleiterscheinung der Pandemie wird wohl bleiben, dass die Abgründe des herrschenden Systems für sehr viele Menschen erstmals so nackt ersichtlich wurden.

Vor dem Hintergrund dieser weltumspannenden Krise hatte der UN-Generalsekretär António Guterres bereits am 23. März zu einem globalen Waffenstillstand aufgerufen. Die bewaffneten Konflikte sollten zumindest so lange ruhen, bis die Pandemie halbwegs unter Kontrolle gebracht werden kann. Denn es ist klar, dass in Ländern wie Syrien, dem Jemen, Libyen oder dem Irak die Gesundheitssysteme infolge jahrelanger Kriegssituation schwer beschädigt sind. Bereits unter Ausklammerung des Corona-Virus können in Teilen des Mittleren Ostens (und natürlich nicht nur dort) viele Menschen nur unzureichend bis gar nicht medizinisch versorgt werden. Doch nur wenige Konfliktparteien schenkten dem Aufruf des UN-Generalsekretärs Gehör und so werden vielerorts nicht nur bewaffnete Auseinandersetzungen fortgesetzt, sondern auch die Menschen, die vor den Kriegen flüchten, in Zeiten der Pandemie sich selbst überlassen.

Türkei: Das Krisenmanagement offenbart die Krise des Regimes

Einer der Staaten, die am Krieg festhalten, ist zweifelsohne die Türkei. Und der türkische Staat führt derzeit Krieg an vielen Fronten: in Nord- und Südkurdistan, in Rojava und im nordsyrischen Idlib, und auch in Libyen gegen General Haftars Truppen. Diese Kriege dienten dem Erdoğan-Regime über lange Zeit dazu, die Krise im eigenen Land zu übertünchen. Mit nationalistischen Parolen wurde die eigene Bevölkerung in Schach gehalten. Jegliche Kritik an der Regierungspolitik in Zeiten des Krieges kam dem Vaterlandsverrat gleich.

Doch auch das Regime in Ankara ist von der Corona-Epidemie voll erfasst worden. Zunächst wurde zwar noch in Diskussionsrunden in regierungsnahen Fernsehsendern darüber spekuliert, ob türkische Gene gegen das Virus immun seien. Doch mittlerweile tritt auch in der Türkei der Gesundheitsminister Fahrettin Koca täglich vor die Medien, um über die aktuellen Fallzahlen der Epidemie zu informieren. Dass diese offiziellen Zahlen stark untertrieben sind, bezweifelt faktisch niemand. Doch das öffentlich auszusprechen, kann ähnliche Konsequenzen mit sich bringen wie vor einigen Monaten den völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei in Nordsyrien zu kritisieren. Und selbst die beschönigten Statistiken aus der Türkei sind dramatisch, denn die Ausbreitungsrate der Pandemie im Land ist vergleichsweise hoch.

Das Regime ist allem Anschein nach überfordert mit der Pandemie. Die Kassen der Regierung sind so leer, dass Erdoğan im Kampf gegen Corona bereits zu einer nationalen Spendenkampagne aufgerufen hat. Parallel dazu werden die Solidaritätskampagnen der Oppositionsparteien in Zeiten der Pandemie kriminalisiert. Die Bevölkerung soll allein von der Regierung abhängig gemacht werden, doch die Regierung hat nicht zuletzt auch wegen der kostenspieligen Kriege, die sie führt, keine Almosen mehr, die sie verteilen könnte. Wie also die fatalen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise aufzufangen sind und wohin das Ganze noch führen soll, bleibt offen. Dass diese Regierung zwei Stunden vor Inkrafttreten eine 48-stündige Ausgangssperre im Land ausruft, was in den Städten zu chaosartigen Hamsterkäufen in letzter Sekunde führt, beweist zur Genüge, wie kopflos die AKP mit der Krise umgeht.

Von besonderer Bedeutung ist vor diesem Hintergrund die Lage in den überbelegten Haftanstalten der Türkei. Eine Verbreitung des Virus in den Gefängnissen wäre eine Katastrophe. Auf die Forderungen nach einer Freilassung der Gefangenen reagierte die Regierungspartei mit einem Amnestiegesetz. Eigentlich lag das Gesetz schon seit knapp einem Jahr in den Schubladen des Kabinetts. Der passende Zeitpunkt, um es wieder auszukramen, war mit der Corona-Krise gekommen. Nun sollen rund ein Drittel der etwa 300.000 Gefangenen in der Türkei freikommen. Doch die politischen Gefangenen des Landes sind von dieser Regelung explizit ausgenommen.

Dass die türkische Regierung sich trotz der Pandemie nicht von ihrem Kampf gegen die kurdische Bevölkerung abbringen lässt, hat sie Ende März auch mit der Absetzung von Bürgermeister*innen in acht HDP-geführten Kommunen, einschließlich Elîh (Batman), unter Beweis gestellt. Knapp einen Monat zuvor testete der türkische Innenminister Süleyman Soylu die Reaktionsbereitschaft der kurdischen Bevölkerung, indem er während eines Fernsehauftritt quasi in einem Nebensatz erwähnte, dass auf der Gefängnisinsel Imralı, auf der unter anderem Abdullah Öcalan inhaftiert ist, ein Brand ausgebrochen sei. Das Feuer sei allerdings schnell wieder unter Kontrolle gebracht worden, so Soylu. Die darauffolgenden Proteste in Kurdistan und Europa müssen allerdings die AKP-Regierung so sehr überrumpelt haben, dass sie wenige Tage nach dieser Ankündigung einen Besuch der Angehörigen Öcalans auf der Gefängnisinsel zuließ. Dies stellte zugleich den ersten Besuch auf Imralı seit acht Monaten dar.

Syrien: Zwischen Besatzung und Corona

Der Druck auf das Erdoğan-Regime ist enorm, auch in Syrien. Hier hat die AKP zwar einen Waffenstillstand mit Russland für die Provinz Idlib ausgehandelt, doch vom Tisch ist die Angelegenheit noch lange nicht. In dem Konflikt um die nordsyrische Provinz agiert die Türkei als Schutzmacht eines Konglomerats islamistischer Gruppierungen. Die stärkste unter diesen Gruppen ist Hayat Tahrir al-Sham, vormals Al-Nusra-Front und zugleich Ableger der Al-Qaida in Syrien. Russland hat lange genug versucht, den Problemfall Idlib über die Türkei und ihren Einfluss auf diese islamistischen Gruppierungen zu lösen. Doch irgendwann ist dann der Geduldsfaden gerissen und Russland sowie das Assad-Regime haben zum Angriff aufgerufen. In den wochenlangen Kämpfen kamen auch zahlreiche türkische Soldaten ums Leben, während die Truppen Assads wichtige Gebiete einnehmen konnten. Der erneute Waffenstillstand ist wohl zumindest in Teilen auch auf den internationalen Druck aus den USA und der EU auf Russland zurückgeführt worden, die sich auf die Seite der Türkei stellten. Zwar setzte Erdoğan insbesondere gegen die EU auch auf die »Flüchtlingskarte« und sorgte über Wochen hinweg für Bilder an der türkisch-griechischen Grenze, die in der europäischen Führungsebene nicht gern gesehen wurden. Doch scheint darüber hinaus auch die NATO ein dringendes Interesse daran zu haben, dass Idlib nicht in die Hände des Assad-Regimes fällt, um nicht vollständig ihren Einfluss bei der Neugestaltung Syriens zu verlieren. Die Türkei gilt hier also als Trumpfkarte. Erdoğan verlangt im Gegenzug für seine Dienste in Idlib die volle Unterstützung der NATO in seinem Kampf gegen die Demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien. Und diese Unterstützung scheint er weitgehend zu bekommen, auch aus Deutschland.

Allein seit dem Waffenstillstand mit Russland hat das Erdoğan-Regime Schätzungen zufolge zwischen 20.000 und 29.000 Soldaten in Idlib stationiert. Ein weiterer blutiger Krieg scheint damit nur noch eine Frage der Zeit. Parallel dauern die Angriffe der protürkischen Islamisten auf die nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiete – wenn auch derzeit mit niedriger Intensität – weiter an. Die Türkei wird ohne Zweifel Idlib auch zur Verhandlungsmasse machen, um ihrem Bestreben nach einer Ausweitung der Besatzung in den kurdischen Gebieten Nordsyriens Nachdruck zu verleihen. Auf der anderen Seite würde eine militärische Niederlage der Türkei in Idlib bedeuten, dass wohl als Nächstes die Region Efrîn in der Liste der zu befreienden Gebiete nach oben rücken würde. Das will Ankara unbedingt verhindern und deshalb bleibt Idlib von enormer Wichtigkeit in der türkischen Syrienpolitik.

Die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ist unterdessen neben den Angriffen durch die türkischen Besatzungskräfte und dem Wiedererstarken des IS auch den möglichen Gefahren durch eine Ausbreitung des Corona-Virus ausgesetzt. Zwar hat die Verwaltung frühzeitig einen Einreisestopp für Nordsyrien verkündet, doch gerade vor dem Hintergrund der kriegsgeschädigten Gesundheitsstruktur in der Region bleibt die Angst vor der Epidemie groß. Noch sind keine Fälle des Corona-Virus in den Gebieten, die von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) kontrolliert werden, bekannt. Doch Berichten zufolge soll die Türkei Menschen mit Corona-Infektion in das von ihr besetzte Krankenhaus von Serêkaniyê (Ras al-Ain) gebracht haben. Kritik übt die Selbstverwaltung auch am sorglosen Umgang des Assad-Regimes mit der Virusgefahr. So sollen Personen, die auf dem vom Regime kontrollierten Militärflughafen von Qamişlo landen, nicht auf das Virus getestet worden sein. Die Gesundheitskommission der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyrien hat trotz der von ihnen eingeleiteten präventiven Maßnahmen in einem internationalen Aufruf zur Unterstützung insbesondere in Form von medizinischem Equipment gegen die mögliche Ausbreitung des Virus aufgerufen.1

Irak: Chaos nach Regierungsrücktritt und ein Stellvertreterkrieg

Ähnlich große Furcht wie in Syrien herrscht auch im Irak aufgrund einer möglichen Ausbreitung des Corona-Virus. Hinzu kommt, dass es im kriegserschütterten Irak derzeit keine handlungsfähige Regierung gibt, die effektive Maßnahmen gegen die Pandemie vornehmen könnte. Denn seitdem der ehemalige Ministerpräsident Adil Abd al-Mahdi nach wochenlangen Protesten mit über 500 Toten Ende November vergangenen Jahres zurückgetreten war, können sich die politischen Akteure im Land auf keinen Nachfolger einigen. Der bisherige Geheimdienstchef Mustaraf al-Kasimi ist nun der jüngste Kandidat für diesen schwierigen Posten. Vor ihm waren zwei weitere Personen, die mit dieser Aufgabe betraut worden waren, gescheitert. Grund hierfür sind die tiefen Spaltungslinien im Land, die sich längst nicht mehr bloß zwischen den Kurd*innen, den Sunnit*innen und den Schiit*innen im Land ziehen lassen.

Der Irak ist mittlerweile Austragungsort des Konflikts zwischen dem Iran und den USA geworden. Der vorläufige Höhepunkt dieses Konflikts wurde mit der Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani durch die USA im Januar dieses Jahres erreicht. Die Regierungsproteste, die zum Sturz von al-Mahdi führten, richteten sich zwar explizit auch gegen den iranischen Einfluss im Land, doch das bedeutet keineswegs, dass die politischen Akteure im irakischen Zentralstaat über die militärische Präsenz der USA in ihrem Land sonderlich erfreut sind. Vor allem wünscht sich niemand im Irak einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und dem Iran auf heimischem Boden.

Die USA unterhielten seit dem im Jahr 2014 begonnenen internationalen Kampf gegen den IS 14 Militärstützpunkte im Irak, von denen einige in den letzten Monaten immer wieder von proiranischen Teilen der Haschd-al-Schaabi-Miliz mit Raketen beschossen wurden. Einige der Militärstützpunkte wurden nun geschlossen. Andere sollen aber in die südkurdische Autonomieregion übergesiedelt werden. Denn ein kompletter Rückzug aus dem Irak, wie es im Übrigen aus Bagdad gefordert wird, würde bedeuten, dass die USA diese Front in einem möglichen Konflikt mit dem Iran aufgeben würden. Nun wird diese Front nach Südkurdistan verlegt, was schließlich nichts anderes bedeutet, als dass die Autonomieregion Kurdistan sich inmitten eines iranisch-amerikanischen Konflikts befinden würde.

Im Schatten des iranisch-amerikanischen Konflikts im Irak erlebt aktuell der sogenannte Islamische Staat (IS) ein Revival. Während die Organisation in Nordsyrien dank des türkischen Besatzungskrieges an Boden gewinnt und Revolten in Gefängnissen und den Camps probt, macht sie im Zentralirak und in den umstrittenen Gebieten mit Angriffen gegen irakische und südkurdische Sicherheitskräfte von sich reden. Das Wiedererstarken des IS bedeutet auch, dass die Gefahr für die Menschen im Geflüchtetencamp Mexmûr anwächst. Der Aktionsradius der IS-Zellen befindet sich nämlich in unmittelbarer Nähe des Camps. Doch die Gefahr durch den IS ist nicht das einzige Problem, mit dem die rund 12.000 Bewohner*innen von Mexmûr zu kämpfen haben. Seit über neun Monaten wird das Camp durch die Sicherheitskräfte der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) auf Druck der Türkei einem Embargo ausgesetzt. Gerade in Hinblick auf die Gefahr durch das Corona-Virus und die sich dem Ende neigenden Medikamentenvorräte im Camp droht das Embargo zu einer Frage von Leben und Tod zu werden.

Iran: Sanktionen, Wahlen und Corona-Krise

Der Konflikt mit den USA beherrscht wie bereits oben angerissen die politische Agenda des Landes. Die Fronten sind verhärtet und die USA haben kein Interesse daran, auch in Zeiten der Pandemie nur einen Gedanken an die mögliche (temporäre) Aufhebung der Sanktionen zu verschwenden. Dabei wurde der Iran von der Pandemie schwer getroffen. Der erste registrierte Fall geht auf Anfang Februar zurück: Ein iranischer Geschäftsmann soll die Infektion nach einer Reise nach China in die Stadt Ghom gebracht haben. Von dort breitete sich das Virus rasant aus, auch weil die iranischen Behörden zu lange die Gefahr ignorierten. So soll aus Regierungskreisen die anfängliche Behauptung stammen, dass die USA mit dem Virus übertreiben würden, um die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen vom 21. Februar niedrig zu halten.

Tatsächlich war die Wahlbeteiligung am Wahltag sehr niedrig. Das Innenministerium musste bekanntgeben, dass nur etwas mehr als 42 % der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen waren. Doch die Ursache für die niedrige Wahlbeteiligung dürfte weniger an der Furcht vor dem Virus gelegen haben, als es die Regierung gerne hätte. Denn viele Oppositionelle hatten zu einem Boykott der Wahlen aufgerufen. Auch die Demokratische und Freie Gesellschaft Ostkurdistans (KODAR) und die Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK) riefen die Bevölkerung Ostkurdistans dazu auf, nicht an den Wahlen teilzunehmen, um gegen das autoritäre Regime in Teheran zu protestieren. Die konservativen Kräfte erhielten erwartungsgemäß den größten Stimmenanteil, doch das eigentliche Ergebnis der Wahlen dürfte wohl eines gegen das Regime gewesen sein.

Nach einer rasanten Verbreitung hat die Corona-Krise wohl ihren Höhepunkt im Iran hinter sich gelassen. Die Neuinfektionsrate sinkt derzeit. Nach anfänglichem Zögern hat sich das Regime der Pandemie ernsthaft angenommen. Das liegt auch daran, dass überraschend viele Politiker mit dem Virus infiziert wurden. Mindestens zwölf Politiker oder hochranginge Beamte haben sogar ihr Leben verloren. Die offizielle Todeszahl infolge der Virusinfektion wird mit über 4.000 angegeben (Stand: Mitte April), doch ähnlich wie in der Türkei halten viele diese Zahlen für stark untertrieben.

Der Kontrollverlust autoritärer Regime

Das Muster ist sehr ähnlich: Autoritäre Regime wie die Türkei oder der Iran spielten anfangs die Gefahr durch die Corona-Krise herunter. Als sie dann den Ernst der Lage erkannten, war die Epidemie schon so sehr verbreitet, dass der Kontrollverlust schon im vollen Gange war. Selbst drastische und für die Bevölkerung nun völlig überzogene und irrational wirkende Maßnahmen können den entstandenen Schaden nur noch teilweise beschränken. Es ist kaum vorstellbar, dass die Bevölkerung in den jeweiligen Staaten nach dieser Erfahrung der tödlichen Unfähigkeit ihrer Regime keinen weiteren Vertrauensverlust gegenüber den Machthabern ihres Landes erfährt. Folglich werden auch die Regime die Corona-Epidemie wohl kaum unbeschadet überstehen.

Wir dürfen aber nicht die Augen davor verschließen, dass es auch die umgekehrte Tendenz gibt: Bevölkerungsgruppen, die vor der schier verzweifelten Lage, der sie infolge der Epidemie ausgesetzt sind, sich an ihre Regierungen wenden, ja sogar nach einer starken Führung suchen und die Einschnitte in ihre Grundrechte ohne zu hinterfragen in Kauf nehmen. Gerade in völlig vom Individualismus durchzogenen Gesellschaften wird der Staat in der Krise als großer Schützer seiner kleinen Bürger*innen stilisiert.

Ob letztlich die gegenwärtige Krise dazu führen wird, dass der autoritäre Nationalstaat ein Comeback feiert oder nicht, hängt auch von der Frage ab, wie die Gesellschaft mit der Pandemie umgeht. Sind die Menschen in der Lage, ihren gesellschaftlichen Selbstschutz durch den Aufbau von solidarischen Strukturen zu organisieren? Können sie die Lücken füllen, die der Staat inmitten der Pandemie aufgerissen hat? Wird also die Demokratie, was heißt: die demokratische Selbstorganisierung der Gesellschaft, den Staat in der Corona-Krise zurückdrängen oder der Staat die Demokratie? Von der Beantwortung dieser Fragen hängen nicht nur die weiteren Entwicklungen im Mittleren Osten ab.

Fußnote:

1 - https://civaka-azad.org/covid-19-nordostsyrische-selbstverwaltung-bittet-um-hilfe/