Der Kampf gegen den Faschismus liegt nicht nur in der Verantwortung der Kurd*innen

Die HDP in der Türkei: Gestern, heute und morgen im Widerstand

Interview mit Berdan Öztürk, HDP-Abgeordneter und Ko-Vorsitzender des DTK


Leyla Güven in Amed nach ihrer Haftentlassung | anfDie Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Leyla Güven und Musa Farisoğulları, sind am 4. Juni in Amed (türk. Diyarbakır) verhaftet worden. Die Inhaftierung erfolgte nur wenige Stunden, nachdem das Parlament in Ankara ihnen ihre Mandate und damit auch ihre Immunität entzogen hatte. Als Begründung wurden rechtskräftige Urteile herangezogen. Dem CHP-Politiker Enis Berberoğlu wurde ebenfalls der Abgeordnetenstatus aberkannt. Keine 24 Stunden nach seiner Verhaftung wurde er bereits wegen der Corona-Pandemie »amnestiert« und in Hausarrest geschickt. Für Musa Farisoğulları greift diese Regelung nicht. Als politischer Gefangener aus einem sogenannten »Terrorverfahren« ist er von einem Straferlass explizit ausgenommen. Leyla Güven wurde nach fünf Tagen entlassen, weil sie kurz vor dem regulären Ende ihrer derzeitigen Haftstrafe stand.

Die kurdische Politikerin, die zugleich Ko-Vorsitzende der zivilgesellschaftlichen Organisation DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) ist, und Farisoğulları waren im März 2011 im Rahmen des international scharf kritisierten KCK-Hauptverfahrens zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden und saßen zwischen 2009 und 2014 knapp fünf Jahre in Untersuchungshaft. Farisoğulları befindet sich inzwischen in einem Gefängnis in Amed. Die HDP-Fraktion bezeichnete das Vorgehen der Regierung als »gesetzeswidrigen Schritt« und »korrupten, unmoralischen und faschistischen Putsch«, der sich gegen den »freien Willen des Volkes« richte und die Feindseligkeit gegenüber der kurdischen Bevölkerung zum Ausdruck bringe.

Wir sprachen vor der Haftentlassung von Leyla Güven mit dem HDP-Abgeordneten Berdan Öztürk über die Verhaftungen. Öztürk ist zugleich Ko-Vorsitzender des DTK.

Wie bewerten Sie die Aufhebung der Immunität und die Verhaftung von Leyla Güven – mit der sie gemeinsam den Ko-Vorsitz des DTK führen – und von Musa Farisoğulları?

Derlei Ereignisse haben das Ziel zu verhindern, dass die Kurd*innen eine demokratische Politik ausüben können. Die aktuelle Phase begann mit der Verhaftung unserer Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie weiteren Abgeordneten am 4. November 2016. Der Staat hatte ein ähnliches Vorgehen bereits in den 1990er Jahren erprobt, als er die Abgeordneten der DEP (Demokratiepartei) verhaftete, sie über 10 Jahre inhaftierte und so verhindern wollte, dass die Kurd*innen Politik in Ankara machten. Solange der Staat und seine Regierungen fortfahren unsere Politik zu behindern, werden wir mit Beharrlichkeit und Entschlossenheit unsere demokratische Politik gegen sie durchsetzen.

Auf welcher Entscheidung beruht die Aufhebung der Immunität der beiden HDP-Abgeordneten?

Die Maßnahmen beruhen auf den Haftstrafen im Rahmen des KCK-Hauptverfahrens im Jahr 2009, die von Fetullah Gülen nahestehenden Richtern verhängt wurden. Beide saßen auf Grund dieser festgelegten Urteile für längere Zeit in Untersuchungshaft und wurden 2014 auf Bewährung freigelassen. Leyla Güven wurde zuletzt aufgrund ihrer Kritik an der Besatzungsoperation gegen das nordsyrische Efrîn erneut inhaftiert und während ihres Gefängnisaufenthalts zur Abgeordneten gewählt. Herr Farisoğulları wurde ebenfalls zum Abgeordneten gewählt und setzte sein Engagement für demokratische Politik in Ankara fort. Zudem sollten wir nicht vergessen, dass die AKP-Regierung die KCK-Verfahren später als »Verschwörungs-Prozesse« bewertete. Sowohl der vorsitzende Richter als auch der Staatsanwalt dieser Prozesse wurden ihrerseits in Prozessen gegen Gülen-Anhänger zu Haftstrafen verurteilt und befinden sich seitdem im Gefängnis. Leyla Güven und Musa Farisoğulları wurden also aufgrund eines Prozesses inhaftiert, den Fetullah Gülen-Anhänger geführt hatten. All diese Einzelheiten zeigen uns die Dimension der Angelegenheit.

Was hat dazu geführt, dass die Urteile im türkischen Parlament verlesen wurden und die Immunität beider Abgeordneter aufgehoben wurde?

Es war geplant und ein gut eingeübtes Theaterstück. Die AKP und MHP haben damit eine neue Verschwörung an diejenige von Fetullah Gülen im Jahr 2009 angehängt. Sie setzten die feindliche Gesinnung gegen die kurdische Gesellschaft weiterhin in die Praxis um.

Wann wurden die Urteile gegen Leyla Güven und Musa Farisoğulları vom Obersten Gerichtshof bestätigt?

Sie wurden vor etwa vier Monaten bestätigt und vor einiger Zeit dem Parlament vorgelegt. Doch die Entscheidung wurde nicht verlesen. Eine Woche vor den Verhaftungen hat dann der Vorsitzende der MHP, Devlet Bahçeli, mit den Worten »Die Erwartungen bezüglich der Immunität der Abgeordneten müssen erfüllt werden« den grünen Knopf gedrückt. Erfahrungen und Beobachtungen zeigen, dass sobald Bahçeli etwas fordert, dies innerhalb kürzester Zeit erfüllt wird. Was Devlet Bahçeli will, wird von der Regierung umgesetzt. Und das buchstäblich!

Was bedeutet das für Sie?

Seit langem dominiert ein nationalistischer und chauvinistischer Grundsatz die Politik des Staates. Jene, die vorhersagen wollen, was die AKP tun wird, können sich statt auf die Worte Erdoğans auf diejenigen Bahçelis konzentrieren. Mit der Ausübung des Feindstrafrechts im Rahmen der Änderung der Strafvollzugsgesetze hat die AKP die Forderungen der MHP erfüllt. Sie haben dies auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie getan, damit sich kein gesellschaftlicher Protest gegen die Freilassung von Schwerkriminellen entwickeln konnte.1 Die Verhaftung der Abgeordneten, die Zwangsverwaltung der Gemeinden, die systematische Zerstörung von Friedhöfen und der Versuch, den Kurd*innen die Ausübung demokratischer Politik zu verwehren, beruht auf der Ideologie des Türkentums. So gesehen kann gesagt werden, dass die von der MHP getragene Ideologie nun auch in der AKP vorherrscht. Eine islamistische und eine türkisch-nationalistische Seite haben sich zu einem grünen2 Nationalismus verbunden. Wir müssen uns die letzten fünf Jahre genau ansehen, in denen versucht wurde, alles Erreichte zu zerstören und überall die gleiche einförmige Struktur einzuführen. Gegen das Ziel, die Kurd*innen zu assimilieren und aus einer politisch aktiven Rolle herauszudrängen, wächst der kurdische Widerstand immer weiter. Schauen Sie nicht auf die Trümmer. Über jeden Stein der von ihnen verursachten Trümmer stolpern sie wieder. Je mehr sie zertrümmern, desto schwerer kommen sie vorwärts.

Was für eine Zukunft können Sie für die kurdische Politik und für die Regierung angesichts dieser Situation und dieses Trümmerhaufens skizzieren?

Die Zukunft gestaltet sich entsprechend unserer Handlungen in der Vergangenheit. Die Regierung der AKP und MHP hat die gesamte Türkei in den Ruin getrieben. In der zweijährigen Phase des Friedensprozesses konnte die Türkei Luft holen. Es gab vorsichtige Entwicklungen in Richtung Freiheit und Demokratie. Die Wunden der Vergangenheit wurden gepflegt. Doch durch die Beendigung des Friedensprozesses und die Rückkehr zu den Methoden der 1990er Jahre ist die Türkei sowohl was Grundrechte und Freiheiten als auch was Wirtschaft, Politik, Kultur und Kunst betrifft, am Boden. Heute sind alle staatlichen Einrichtungen inhaltlich entleert. Mit einer solchen Mentalität gibt es keinen Fortschritt. Wenn so weitergemacht wird, wird der Trümmerhaufen immer größer, und die Regierung wird keinen Ausweg mehr haben. Wir als demokratische Kräfte sind uns dessen bewusst.

Reicht es denn, ein klares Bewusstsein zu haben?

Wir definieren die Methoden des gegenwärtigen Regimes als Faschismus, und es bleibt keine andere Option, als Widerstand gegen den Faschismus zu leisten. Das tun wir. Aber der Kampf gegen den Faschismus liegt nicht nur in der Verantwortung der Kurd*innen, sondern wir rufen alle demokratischen Kräfte dazu auf, für eine demokratische Republik gegen den Faschismus Widerstand zu leisten.

Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu und viele andere CHP-Politiker*innen haben mit Stellungnahmen gegen die Festnahme von Enis Berberoğlu reagiert aber die beiden HDP-Abgeordneten nicht erwähnt. Wie bewerten Sie das?

Heute hat Herr Kılıçdaroğlu erklärt, dass die Verhaftung von Enis Berberoğlu verfassungswidrig sei. Doch vor vier Jahren sagte Herr Kılıçdaroğlu »ja« bei der Abstimmung über die Aufhebung der Immunität bestimmter Abgeordneter. »Es ist verfassungswidrig, aber wir werden Ja sagen«. Diese Haltung trägt eine große Mitverantwortung für die gegenwärtige Situation. Wenn die CHP damals eine andere Position eingenommen hätte, hätten wir heute vielleicht andere politische Bedingungen. Nun wurde die Immunität von drei Abgeordneten aufgehoben, obwohl diese drei Personen mit den Stimmen von zehntausenden Menschen gewählt wurden. Wer eine Stellungnahme für nur einen der verhafteten Abgeordneten abgibt, fordert nur für sich selbst Recht und Gerechtigkeit. Der Stein, der heute auf die HDP geworfen wird, wird morgen euch treffen. An dieser Wahrheit führt kein Weg vorbei und sie bietet unzählige Beispiele. Die HDP ist heute trotz fünf Jahre währender Repression auf den Beinen. Wir werden auch morgen noch bestehen. Doch die Angriffe können nur gestoppt werden, wenn Gerechtigkeit für alle gefordert wird.

Welche Spuren hinterlassen diese repressiven Methoden in der Verfassung der kurdischen Gesellschaft?

Städte in Kurdistan wurden zerstört, und ohne einen Funken an Respekt werden nun Leichen, Gräber und Friedhöfe angegriffen. Ein Jugendlicher wurde in Amed (Diyarbakır) gefoltert, und die Aufnahmen wurden in den sozialen Medien verbreitet. Die rassistischen Übergriffe nehmen zu. All dies führt dazu, dass sich Wut in der Gesellschaft aufstaut. Die nationalistischen und chauvinistischen politischen Machenschaften und die faschistoiden Methoden der AKP und MHP vergrößert diese Wut. Trotz alledem legt die kurdische Gesellschaft dar, dass sie von ihrem Weg zu einem würdevollen Frieden nicht abweicht und zeigt dies bei Wahlen und in ihrem Widerstand. Nicht nur die Kurd*innen sind Ziel des Faschismus in der Türkei. Deshalb werden wir entweder alle frei sein oder alle weiterhin in der Dunkelheit bleiben. Ohnehin leben wir alle heute in einem offenen Gefängnis. Auf zweierlei Weise können wir es verlassen: Entweder wandern wir ins Gefängnis, oder wir wählen die Freiheit.

Seit zwei Legislaturperioden werden die von Kurd*innen gewählten Bürgermeister*innen mithilfe von Zwangsverwaltungen erst ihres Amtes enthoben und dann verhaftet. Ein großer Teil Ihrer Abgeordneten befindet sich seit 2016 im Gefängnis. Nun wird dieses Vorgehen schon wieder angewandt. Wie wirkt sich das auf ihre Wähler*innenschaft aus?

Unsere Gesellschaft geht nicht zur Wahl, um ihren Verwalter oder Abgeordneten zu wählen, sondern um ihre Existenz und Entschlossenheit zum Ausdruck zu bringen. Deshalb wirken sich die Zwangsverwaltungen und die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten nicht auf den Willen aus. Aber ja, da dadurch das Recht auf freie Wahlen verletzt wird, provoziert es selbstverständlich Wut. Doch unsere Gesellschaft verwandelt ihre Wut nicht in Verzagtheit sondern in Entschlossenheit. Trotz Repression, Festnahmen, Angriffen, faschistoiden Methoden, Zwangsverwaltungen und der Inhaftierung von Abgeordneten geht unsere Gesellschaft zu den Wahlen und sendet die Botschaft »Wir sind hier«.

Wie bewerten Sie die Aufrufe aus bestimmten Kreisen, die nach jeder Festnahmewelle oder anderweitiger Repression erklären, die HDP solle sich aus dem Parlament zurückziehen?

Dass wir im türkischen Parlament vertreten sind, ist eine Errungenschaft und das Ergebnis enormer Mühe und Arbeit unserer Gesellschaft. Es gibt Menschen, die nur für die Stimmabgabe kilometerweite Strecken zu Fuß zurücklegen. Das einzige Ziel dabei ist, den eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen. Die Abgeordneten und Bürgermeister*innen sind diejenigen, die diese Mühe, Entschlossenheit und Arbeit repräsentieren und sichtbar machen. Was wird sich ändern, wenn wir die gewonnenen Parlamentssitze verlassen? Gibt es konkrete Vorschläge dieser Kreise? Wir sind die Vertreter*innen, die versuchen, die Existenz unserer Gesellschaft sichtbar zu machen. Vielleicht haben wir unter dem Dach des Parlaments nicht die Möglichkeit, Gesetze zu beschließen, aber allein unsere Präsenz bringt den Widerstand unserer Gesellschaft zum Ausdruck. Seit zwei Legislaturperioden werden unsere Kommunen besetzt, doch wenn morgen Wahlen wären, würde unsere Gesellschaft entschlossen ihre Repräsentant*innen wählen. Diese Entschlossenheit müssen sowohl unsere Freund*innen als auch unsere Feinde zur Kenntnis nehmen.

Was für einen Weg wird die HDP angesichts dieser Repressionen gehen?

Die HDP erhält ihre Kraft wirklich von den Völkern. Sie bleibt mithilfe der Entschlossenheit ihrer Basis auf den Beinen. Wir haben vor Kurzem eine 9-Punke-Erklärung veröffentlicht. Dieses Dokument formuliert die Basis des Ziels, unseren Kampf voranzutreiben. Überall wird über die HDP gesprochen, doch vor die HDP-Abgeordneten wird ein Vorhang zugezogen. Dieser Vorhang kann so dick sein wie er will, doch die Existenz und die Kraft der HDP lassen sich nicht verstecken. Die Behauptung, das Interesse der HDP beschränke sich auf Kurdistan, ist falsch. Die HDP setzt sich überall gegen Repression ein. Wir haben keinerlei Zugeständnisse im Hinblick auf unsere Prinzipien, auf unser Programm und auf unsere Satzung gemacht und werden das auch in Zukunft nicht tun.

Denken Sie, dass die staatliche Repression den kurdischen Nationalismus befördert?

Ich habe eben erklärt, dass die Gesellschaft wütend ist. Diese Wut richtet sich nicht gegen die türkische Gesellschaft oder andere ethnische Gruppierungen oder Glaubensgemeinschaften. Unsere Gesellschaft ist voller Wut gegen die Verantwortlichen im Staat und ihre islamistisch-nationalistische Ideologie. Selbstverständlich kann es in der aktuellen Situation emotionale Ausbrüche geben. Dass es angesichts Taybet İnans Leichnam3, der sieben Tage lang nicht von der Straße geborgen werden konnte, bis hin zu den heutigen Grabschändungen keinen Aufschrei gegen diese Brutalität gibt, verursacht Verletzungen. Doch niemand kann sagen, dass sich diese Verletzungen in Feindschaft verwandeln. Der Ansprechpartner für die Wut ist der Staat, die Regierung von AKP und MHP.

Waren Sie bei Leyla Güven, als sie festgenommen wurde?

Ja, ich war an ihrer Seite.

Wie war die Atmosphäre im Raum, als Sie die Nachricht der nahenden Verhaftung erreichte?

Sowohl Leyla Güven als auch Musa Farisoğulları sind beides Persönlichkeiten, die jahrelang im Gefängnis waren und unterschiedliche Aufgaben in der demokratischen Politik übernommen haben. Sie sagten bei ihrer Verhaftung: »Berxwedan jîyan e«. Wir werden nicht hinter diesen Worten zurückstehen: Widerstand heißt Leben. Wir haben gestern Widerstand geleistet, tun dies auch heute und werden auch morgen weitermachen.

Fußnoten:

1 - Die Änderung der Strafvollzugsgesetze im März dieses Jahres ermöglichte der Regierung die Amnestierung von ca. 90.000 Gefangenen, um die Gefängnisse in der Corona-Pandemie zu entlasten. Explizit ausgenommen von der Amnestie sind politische Gefangene. Entlassen wurden hingegen auch viele Schwerkriminelle wie z. B. Vergewaltiger.

2 - »Grün« als die symbolische Farbe des Islams

3 - Taybet İnan wurde im Dezember 2015 während der türkischen Belagerung in Silopî in der Provinz Şirnex erschossen. Ihr Leichnam hatte sieben Tage auf der Straße gelegen, da die Armee sämtlichen Rettungskräften die Bergung verwehrte. Angehörige und Anwohner*innen wurden bei dem Versuch, den Leichnam der 57-jährigen Mutter von elf Kindern zu bergen, beschossen.