Aktuelle politische Bewertung

Widerstand, Aufstand und Aufbau zu einer Lebensweise machen

Ali Çiçek, Mitarbeiter von Civaka Azad


Demonstration in Istanbul | anfWenige Tage vor dem 5. Jahrestag des historischen Wahlerfolgs der HDP (Demokratische Partei der Völker) bei den türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 wurde den HDP-Abgeordneten Leyla Güven und Musa Farisoğulları am 5. Juni 2020 die parlamentarische Immunität und das Abgeordnetenmandat entzogen. Beide kurdische Abgeordnete wurden daraufhin verhaftet. Während sich Musa Farisoğulları weiterhin in Haft befindet, wurde Leyla Güven nach einer kurzzeitigen Inhaftierung wieder freigelassen. Leyla Güven, die zugleich Ko-Vorsitzende der zivilgesellschaftlichen Organisation DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) ist, wurde weltweit bekannt durch den von ihr Ende 2018 im Gefängnis von Amed (Diyarbakır) initiierten Hungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans, dem sich Tausende Menschen auf mehreren Kontinenten anschlossen. Der Frauenrat der HDP bewertete die Verhaftung von Leyla Güven als doppelten Angriff: zum einen auf die Demokratie und zum anderen auf den Frauenkampf.

Die Angriffe des türkischen Staates auf die kurdische Gesellschaft und ihre politischen Organisationen haben im Jahr 2020 nicht an Intensität eingebüßt. Um die heutigen vielen Brennpunkte in Kurdistan richtig einordnen zu können, hilft es, einen Blick auf die türkische Staatspolitik gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung innerhalb der letzten fünf Jahren zu richten unter Einbeziehung der regionalen Lage im Mittleren Osten.

Das Jahr 2015: Kriegsentscheidung gegen den Frühling der Demokratie

Die Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 stellten für die damals 13-jährige Ära der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) eine Zäsur dar. Die Entscheidung der HDP statt mit unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten erstmals als Partei an diesen Wahlen teilzunehmen sowie gleichzeitig das Bestreben des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, diese Wahlen quasi in ein Referendum für sein autoritäres Präsidialsystem umzuwandeln, hatte diese Wahl zu einer Schicksalswahl gemacht. Die Idee einer Partei als ein Dach für die demokratischen Bestrebungen in der Türkei ist, ging auf die Initiative des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan zurück. Bei den Wahlen überwand die HDP mit 13,1 Prozent die Wahlhürde von 10 Prozent und zog mit 80 Abgeordneten ins Parlament ein. Der 7. Juni 2015 hat nicht nur die AKP, sondern auch die historischen Fundamente des türkischen Staates nachhaltig erschüttert. Der seit 90 Jahren auf der Losung »ein Volk, eine Sprache, ein Land, eine Fahne« basierende Nationalstaat wurde durch die Millionen Stimmen für die demokratische Nation und gemeinsame Heimat in Frage gestellt. Denn der türkische Staat beruht seit seiner Gründung 1923 auf der Idee einer homogenen Staatsnation – die Türkei als Staat aller Türken. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jede abweichende Identität und Behauptung von kultureller und nationaler Vielfalt mit Staatszersetzung und Separatismus gleichgesetzt wird.

Diese Wahl markierte zudem das Entstehen eines dritten Pols in der türkischen Politikarena. Der HDP steht sowohl der islamisch-konservative-nationalistische Block gegenüber, der heute von dem Bündnis von AKP und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) dargestellt wird, als auch der laizistisch-nationale Block, der durch die CHP (Republikanische Volkspartei) repräsentiert wird. Die HDP stellt damit den demokratischen Pol dar.

Dieser Frühling der Demokratie beschränkte sich jedoch nicht auf Nordkurdistan, sondern weitete sich mit der Gezi-Bewegung 2013 symbolisch in der ganzen Türkei aus. Parallel dazu nahm der alternative Gesellschaftsaufbau in Rojava (Nordsyrien) immer konkretere Formen an und wurde zur Quelle der Inspiration demokratischer Kräfte weltweit.

Beantwortet wurden diese Demokratisierungsschübe mit einem regelrechten Vernichtungsfeldzug des türkischen Staates sowohl im eigenen Land als auch in den verschiedenen Teilen Kurdistans. Nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 setzte Erdoğans AKP auf ein Bündnis mit der faschistischen MHP und der ultranationalistischen Ergenekon. Die vielbeschworene Formel vom »Überlebenskampf des Staates« wurde in den folgenden Jahren in den türkischen Staatsmedien pausenlos wiederholt. Mit der Kriegsentscheidung der Erdoğan-Regierung trat der Plan »çökertme« (in etwa: »in die Knie zwingen«) in Kraft: die politisch-militärische Offensive zur Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung – Demokratisierungsmotor in der gesamten Region – und die Unterwerfung nicht nur der kurdischen, sondern aller demokratischen oppositionellen Kräfte innerhalb der Türkei. Türkische Staatsvertreter sprachen vom sogenannten Sri-Lanka-Modell bzw. von der »tamilischen Lösung«, was die militärische »Lösung« der kurdischen Frage bedeutete.

Protest gegen den von der Türkei eskalierten Krieg in Kurdistan | anfTürkischer Staatsterrorismus in Kurdistan

In diesem Kontext führt der türkische Staat heute einen Krieg an mehreren Fronten gleichzeitig. In der Türkei und in Nordkurdistan erfolgten im Winter 2015/16 zunächst militärische Angriffe auf nordkurdische Städte, und es ereigneten sich mehrere Selbstmordanschläge auf demokratische Massenproteste, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und jede Loyalität und die Identifizierung mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu bestrafen. Psychologische Kriegsführung war Bestandteil dieser Angriffe, wie z. B. bei der Verbrennung von mehr als zweihundert Zivilistinnen und Zivilisten und verletzten Widerständischen in den Kellern von Cizîr (Cizre). Es folgten Massenverhaftungen, die sich gegen jede demokratische Artikulation der Gesellschaften der Türkei richteten und ein so extremes Ausmaß angenommen haben, dass von einem »politischen Genozid« gesprochen werden kann. In den letzten Monaten richteten sich die Angriffe nun nicht mehr allein gegen lebende, sondern auch gegen tote Kurdinnen und Kurden. Der türkische Staat benutzt die Leichen von gefallenen Guerillakämpferinnen und -kämpfern als Mittel des Spezialkriegs. Durch die Verstümmelung von Leichen, die systematische Zerstörung von Gräbern und die Verhinderung der Umsetzung religiöser Vorschriften wie die Waschung der Leichname soll die Bevölkerung gedemütigt und ihr Widerstandswille gebrochen werden. Exemplarisch dafür ist der Fall des Guerillakämpfers Agit Ipek, dessen Leichnam seiner Mutter im April dieses Jahres per Postpaket zugeschickt wurde oder die Entdeckung sterblicher Überreste von Hunderten Guerillakämpferinnen und -kämpfern, die in Istanbul heimlich unter Gehwegplatten verscharrt worden waren.

Der türkische Staatsterrorismus hat die gesellschaftliche Atmosphäre in der Türkei regelrecht vergiftet. Es ist nicht mehr viel übrig von der Aufbruchstimmung im Frühjahr 2015. Rassistische Lynchjustiz in der Türkei ist zum Alltag geworden. So wurde zuletzt der 20-jährige kurdische Jugendliche Barış Çakan in Ankara erstochen, weil er auf seinem Balkon kurdische Musik gehört hatte.

Um gegen die Existenz eines strukturellen Rassismus in der Türkei zu argumentieren wurde in der Vergangenheit entgegnet, dass in der Türkei Kurdinnen und Kurden »sogar« das Amt von Ministern, des Ministerpräsidenten oder Staatspräsidenten bekleiden können. Die Antwort war in der Regel: »Ja, aber dafür muss man seine kurdische Identität verleugnen, verheimlichen oder sich bedeckt halten«. Eine im Monat Mai durchgeführte Studie von Dr. Nurettin Aydın legt dar, dass selbst solch eine Antwort in der gegenwärtigen Türkei nicht richtig ist. Er untersuchte in öffentlichen Quellen die Geburtsorte aller Minister, stellvertretenden Minister, geschäftsführenden Direktoren auf den oberen Etagen der Staatsbürokratie, Botschafter, Gouverneure, Bürgermeister bzw. Landräte und Polizeipräsidenten. Die Ergebnisse veröffentliche er in seinem Buch mit dem Titel »Die Kurden in den Staatsrängen«1. Sie schildert Aydın im Vorwort des Buches wie folgt: »Nach der Recherche habe ich beim Anblick des Ergebnisses lange nachgedacht, ob ich diese Daten veröffentlichen soll. Ich hatte Angst vor den Folgen.« Die Ergebnisse der Studie bringen deutlich zum Ausdruck, dass die Türkei im wahrsten Sinne des Wortes ein »Staat der Türken« ist und Kurdinnen und Kurden in den oben genannten Ämtern kaum einen Platz, um nicht zu sagen gar keinen einnehmen.

Die Ereignisse seit dem Jahr 2015 hängen wie Glieder einer Kette zusammen und lassen die Systematik der Angriffe erkennen. Die Angriffswelle begann mit der Totalisolation auf der Gefängnisinsel Imralı gegen die kurdische Stimme des Friedens, Abdullah Öcalan, und setzte sich mit Festnahmen von HDP-Abgeordneten, Zwangsverwaltungen gegen kurdische Gemeinden, patriarchalen Angriffen gegen die kurdische Frauenbewegung und rassistischen Übergriffen auf kurdische Jugendliche bis heute fort. Die exemplarisch auf Imralı verhängte Totalisolation wurde auf alle politischen Gefangenen in den türkischen Gefängnissen ausgeweitet.

Da sich die kurdische Gesellschaft in der Türkei und in Nordkurdistan trotz dieses Vernichtungsfeldzugs weiterhin auf den Beinen hält, gerät zunehmend die HDP ins Visier der türkischen Regierung. Die kurzzeitige Verhaftung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu kann als eine Warnung in Richtung der CHP und der İyi Parti (Gute Partei) interpretiert werden, sich von der HDP fernzuhalten. Die aus der AKP heraus entstandenen neuen Parteien DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt) und Gelecek Partisi (Zukunftspartei) werden ebenfalls mithilfe juristischer Barrieren (Wahlhürden, Änderung des Wahlsystems) versucht in Schach zu halten. Als größtes Hindernis für den Machterhalt von Erdoğans Regierung wird jedoch die HDP angesehen. Den letzten Umfragen zufolge stehen sowohl die Volksallianz (Cumhur İttifakı), das regierende Wahlbündnis aus AKP und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), als auch das »Bündnis der Nation« (Millet İttifakı), das vor allem von der CHP und der İyi Parti getragen wird, bei jeweils 40 Prozent. Die Rolle der kurdischen Wählerinnnen und Wähler haben also wieder eine Schlüsselposition inne. Bereits bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 und bei der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul musste die türkische Regierung eine empfindliche Niederlage einstecken, da sich unter der gegenwärtigen Parteienkonstellation ein Sieg der jeweiligen Machtblöcke an der strategischen Position der HDP entscheidet.

Bei einem Rückblick auf die Systematik der Angriffe gegen die kurdische Freiheitsbewegung wäre es nicht überraschend, wenn die türkische Regierung sich vornehmen würde, sich ihres größten Hindernisses, der HDP, mit einem Parteienverbot zu entledigen. Die vergangenen 30 Jahre der Geschichte kurdischer politischer Parteien in der Türkei führen jedoch vor Augen, dass die kurdische Politik sich entsprechend ihrer langen politischen Tradition nicht von Verboten hat abschrecken lassen, sondern im Gegenteil jedes Mal gestärkt die politische Bühne wieder betreten hat


Ein Staat, drei Fronten: Kriege der Türkei in Kurdistan

Die Kriegspolitik des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Nordkurdistan. Eine weitere Dimension des »çökertme«-Plans ist die neue außenpolitische Doktrin der Türkei, den Krieg auch außerhalb ihres Staatsterritoriums bzw. ihrer Staatsgrenzen zu führen. Zusätzlich zu Nordkurdistan eskaliert die Kriegsregierung unter Führung Erdoğans den Krieg in Südkurdistan (Nordirak) und in Rojava (Nordsyrien).

Die Türkei greift inzwischen nahezu täglich südkurdisches Territorium an. Insbesondere der Rückzugsraum der Guerilla wird anvisiert, da Ankara versucht, die von den Volksverteidigungskräften (Hêzên Parastina Gel – HPG) kontrollierten Regionen Südkurdistans an das eigene Staatsgebiet anzugliedern. Da diese an zivile Siedlungsgebiete grenzen, betreibt die türkische Regierung eine gezielte Vertreibungspolitik – vor allem durch die Zerstörung der zivilen Infrastruktur und durch Terror gegenüber der Bevölkerung. Regelmäßig werden Wohngebiete der Bevölkerung angegriffen und Todesopfer willkürlich in Kauf genommen. Die von der Demokratischen Partei Kurdistans (Partiya Demokrata Kurdistanê – PDK) in Hewlêr (Erbil) regierte Autonomieregion ignoriert die Besatzungsbestrebungen der Türkei, während sich die irakische Zentralregierung in Bagdad mit Lippenbekenntnissen zufriedengibt. Darüber hinaus existieren mittlerweile über 20 türkische Militärstützpunkte in Südkurdistan. Mit ihnen wird zum einen versucht, Guerillastellungen zu lokalisieren und entsprechend Angriffe der türkischen Luftwaffe zu dirigieren und zum anderen ein umfassendes System von Bespitzelung zu installieren. Die jüngsten Spannungen in Zînê Wertê (Südkurdistan), wo Peschmerga-Einheiten der südkurdischen Regierungspartei PDK stationiert wurden, sind in diesem Kontext zu verstehen. Die PDK-Truppen sind damit in ein Gebiet, das offiziell unter der Kontrolle der Patriotischen Union Kurdistans (Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê – YNK) steht, eingedrungen. Begleitet wurden sie von türkischsprachigem Personal, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Angehörige der türkischen Armee und des türkischen Geheimdienstes MİT handelt. Ziel der Türkei ist es hierbei, der altbewährten Strategie zu folgen, Kurden gegeneinander kämpfen zu lassen und so einen innerkurdischen Bürgerkrieg auszulösen. Begleitet werden diese Entwicklungen von einem insbesondere seit fünf Jahren intensivierten Drohnenkrieg der Türkei. Mithilfe dieser von den USA unterstützen Kriegsführung tötet die Türkei gezielt wichtige Personen der kurdischen Freiheitsbewegung und terrorisiert die Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel im Geflüchtetencamp Mexmûr oder in Şengal.

Auch in Rojava ist der türkische Staat nach wiederholten Besatzungsoperationen in den vergangenen Jahren wie in Efrîn, Cerablus, Girê Spî und Serêkaniyê weiterhin militärisch aktiv. Ihre Angriffe führt sie dabei im Rahmen der Strategie eines »Low-Intensity-Warfare« (Kriegführung niedriger Intensität) aus. »Low Intensity Warfare« wird im Kampf der NATO gegen die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) bereits seit über 30 Jahren in Nordkurdistan angewandt, insbesondere gegen die HPG-Guerilla. Nun wird dieses politisch-militärische Konzept der NATO auch in Rojava umgesetzt. Der türkische Staat verfolgt damit keine taktischen militärischen Ziele, es geht einzig darum, militärisch Druck aufrechtzuerhalten, um dadurch die Gesellschaft in Rojava zu schwächen und zu treffen.

Praktisch bedeutet dies, dass nach wie vor Menschen in Nordsyrien vor den türkischen Besatzungstruppen flüchten. Täglich erreichen Dutzende Menschen aus den türkischen Besatzungszonen das demokratische Autonomiegebiet. Bei der Invasion im Oktober 2019 sind Hunderttausende aus der Grenzregion zwischen Girê Spî und Serêkaniyê vertrieben worden. Auch Angriffe auf die Ökonomie haben sich zu einer zentralen Taktik des Krieges gegen die Selbstverwaltung entwickelt. Seit 2019 stecken der IS (Islamische Staat), die türkische Armee und ihre Paramilitärs erntereife Felder in Brand. Begleitet werden diese Angriffe von einem seit 2014 andauernden ökonomischen Embargo, dass immer wieder auch von der PDK-Regierung in Südkurdistan und dem Assad-Regime umgesetzt wird. Neben Feldbrandstiftungen sind auch schwerer Artilleriebeschuss durch die türkischen Besatzungstruppen und ihre Milizen in den an die türkische Besatzungszone angrenzenden selbstverwalteten Gebieten in Nord- und Ostsyrien mittlerweile schrecklicher Alltag. Die Türkei benutzt seit langem auch die Umwelt als Waffe. Während mittlerweile mehr als 250 Quadratkilometer erntereife Felder in Nordsyrien durch Brandstiftung vernichtet wurden, greift das Erdoğan-Regime immer wieder auch gezielt die Wasserversorgung an. Der in Nordkurdistan entspringende Euphrat steht durch ein System von Talsperren nahezu vollständig unter türkischer Kontrolle. Mithilfe der Staudämme ist die Türkei in der Lage, je nach Bedarf zu viel oder zu wenig Wasser nach Nordsyrien fließen zu lassen. Der Zufluss des Euphrat wurde beispielsweise in den letzten Monaten auf bis zu 150 Kubikmeter Wasser pro Sekunde reduziert.2

Darüber hinaus haben auch die an den Frauen begangenen Verbrechen im türkisch besetzten Efrîn einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (Tevgera Civaka Demokratîk – TEV-DEM) machte jüngst darauf aufmerksam, dass die Vorfälle in Efrîn eine Fortsetzung des Massakers in Şengal darstellen und die UNO, Russland und die USA für die dortigen ethnischen Säuberungen verantwortlich seien. Sie fordert einen Untersuchungsausschuss.

Die Regionalmacht Türkei: »Vision 2023«

Wir können die Brutalität und Aggression, mit der der türkische Staat die kurdische Freiheitsbewegung an diesen verschiedenen Fronten bekämpft, besser verstehen, wenn wir die regionalen Ambitionen der türkischen Regierung betrachten. Erdoğan formulierte die Strategie des türkischen Staates namens »Vision 2023« erstmals in den Jahren 2010/11. Bis zum hundertsten Jahrestag des Lausanner Vertrages von 1923, demzufolge nur ein kleiner Teil des ehemaligen Osmanischen Reiches der neu konstituierten türkischen Republik zugefallen war, sollen durch die Annexion von Nordsyrien und Nordirak eben diese Teile zurück an die Türkei gehen. Heute ist ersichtlich, was diese regionale Strategie in der Praxis bedeutet. Die Türkei versucht das Vakuum in der Region, vor allem im Irak und in Syrien auszunutzen, um ihren eigenen Einfluss geltend zu machen. Dabei nutzt sie die Widersprüche zwischen den internationalen Akteuren (USA und Russland) sowie den regionalen Nationalstaaten. Die völkerrechtswidrigen Militäroperationen in Nordsyrien sind ein konkretes Ergebnis dieser Politik.

Die kurdische Freiheitsbewegung zwischen Widerstand und gesellschaftlichem Aufbau

Es ist jedoch die kurdische Freiheitsbewegung und ihr regionaler Einfluss, der diese türkischen Pläne durchkreuzt und ihr einen Strich durch die Rechnung macht. Denn sie nutzt als politischer Akteur ebenfalls die Chancen, die der Neuordnungsprozess im Mittleren Osten mit sich bringt. In der Region brechen gegenwärtig die ehemaligen Gleichgewichte zusammen und es wütet ein Kampf um eine neue Ordnung. Während es den internationalen und regionalen Akteuren dabei um Machterhalt, kapitalistische Profitgier und imperiale Expansion geht, nutzt die kurdische Freiheitsbewegung die Gunst der Stunde, um der kurdischen Gesellschaft einen politischen Status zu erkämpfen, der ihr vor einem Jahrhundert durch den Lausanner Vertrag verwehrt wurde. Mit der politischen Philosophie des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan und seinem Konzept des demokratischen Konföderalismus bzw. der demokratischen Autonomie baut sie überall, wo sie präsent ist, Selbstverwaltungsstrukturen auf, die sich auf die Prinzipien der radikalen Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie stützen. Auf diese Weise treibt die kurdische Freiheitsbewegung als größter nichtstaatlicher Akteur in der Region nicht nur die Selbstorganisierung der kurdischen Gesellschaft voran, sondern bildet in geografischer und politischer Hinsicht ein antifaschistisches Bollwerk gegen die türkischen Expansionsbestrebungen in der Region.

Diese antifaschistische Barriere gegen die Türkei äußert sich in Nordkurdistan, Südkurdistan und Rojava auf jeweils unterschiedliche Weise, trägt im Wesentlichen aber den selben Kerngedanken, den Öcalan wie folgt formuliert: »Eine ­konstruktivere und gewinnbringendere Methode ist, Widerstand, Aufstand und Aufbau zu einer Lebensweise zu machen, im Freiheitsstreben nie nachzulassen und mit allen Kräften des Systems zu gegebener Zeit Kompromisse einzugehen.«

In Nordkurdistan ist der essentielle Grund, warum die HDP trotz der unvergleichbaren Repression und der Festnahme von über 10.000 Mitgliedern, Aktivistinnen und Aktivisten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Abgeordneten und Ko-Vorsitzenden noch handlungsfähig ist und ihre Schlüsselposition bei Wahlen behält, die Tatsache dass sie von einer dynamischen und widerständigen Gesellschaft getragen wird. Trotz fortgesetzter Massenverhaftungen, eines umfassenden Systems von Bespitzelung und Zensur ist die demokratische Opposition, vor allem um die HDP, Frauenorganisationen und Gewerkschaften, nicht verstummt – auch wenn die Reihen außerhalb der überfüllten Gefängnisse sichtlich ausgedünnt sind. Die Guerillakräfte der PKK und deren Bündnispartner aus der türkischen Linken, der HBDH (Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker) sind im gesamten kurdischen Gebiet und in großen Teilen der Türkei präsent. Trotz aller technologischer und absoluter materieller Überlegenheit verzeichnen die türkischen Kräfte immer wieder schwere Verluste, die von Staatsseite prinzipiell vertuscht und beschönigt werden. Die Kontrolle durch das Militär beschränkt sich auf die Städte und die unmittelbare Umgebung der Stützpunkte. Die Militärstrategie kombiniert strukturelle Besetzung (Stützpunkte, Staudamm- und Straßenbauprojekte, Ausgangssperren) und großangelegte kurzfristige Operationen in Gebieten, in denen Guerillakräfte vermutet werden – die zumeist ohne Resultat enden. Seit Beginn des Jahres mehren sich nun auch Aktionen der türkisch-kurdischen Stadtguerilla in den westlichen Metropolen der Türkei, wie in Istanbul, Ankara und Izmir.

Auch in Südkurdistan gelingt es der türkischen Armee und Konterguerillakräften (einem System von kasernierten Spezialeinheiten, Geheimdienstnetzen, paramilitärischen Kräften und einem dichten Netzwerk von Armeestützpunkten) trotz wiederholter grenzüberschreitender Operationen weiterhin nicht, die Kontrolle über die kurdischen Gebiete, vor allem die Medya-Verteidigungsgebiete, zu erlangen. Auch das Mexmûr-Camp trotzt mithilfe seines gesellschaftlichen Zusammenhalts dem seit einem Jahr bestehenden Embargo und regelmäßigem Beschuss durch die türkische Armee.

Die Dialektik des Aufbaus einer alternativen demokratischen Gesellschaft und des Widerstands gegen die Vernichtungsversuche des türkischen Staates gilt vor allem für die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien. In den knapp 10 Jahren Revolution wehren sich die nordsyrischen Völker nicht nur militärisch gegen die Angriffe der zweitgrößten NATO-Armee sowie gegen den IS, sondern haben es auch geschafft, ein gesellschaftliches System aufzubauen, das Krisen wie die Corona-Pandemie aushalten und Antworten auf die Bedürfnisse der Gesellschaft geben kann.

Auch international ein Dorn im Auge

Die kurdische Freiheitsbewegung ist jedoch nicht nur der Türkei, sondern auch den internationalen Akteuren ein Dorn im Auge. Mit der gezielten Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani am 3. Januar 2020 in Bagdad hat sich eine neue Stufe im Mittelost-Konflikt abgezeichnet, in dessen Zentrum der Konflikt zwischen den USA und dem Iran steht. Die Erklärung3 der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (Koma Civakên Kurdistan – KCK) zum Tod des hochrangigen iranischen Generals zeigt die prinzipientreue Position der kurdischen Freiheitsbewegung: »Wie Nationalismus und Konfessionalismus, führen auch Interventionen von außen zu Spaltungen und Kämpfen. In diesem Sinne ist es wichtig, sich vehement gegen Interventionen von außen, als auch gegen den Nationalismus und Konfessionalismus zu stellen, wenn man Frieden und Stabilität im Mittleren Osten erreichen möchte.«

Der Vertrag von Lausanne sah die kurdische Gesellschaft als Verliererin und als Instrument der »Teile-und-herrsche-Politik« vor. Während die regionalen und internationalen Mächte mit der altbekannten Methode des »Teile und herrsche« oder der sogenannten kurdischen Karte mal auf Konfrontation, mal auf Kooperation setzen, hat es die kurdische Freiheitsbewegung geschafft, sich aus der passiven Opferrolle weitestgehend zu befreien.

So wie die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien an ihrer Politik des »dritten Weges« im syrischen (Bürger-)Krieg festhält, hat auch die ostkurdische Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – PJAK) auf ihrem sechsten Kongress im März dieses Jahres bekräftigt, sich im nahenden Iran-USA-Konflikt weder von regionalen noch von internationalen Akteuren instrumentalisieren zu lassen.

In diesem Kontext lassen sich auch die Angriffe auf die kurdische Freiheitsbewegung unter der Führung der PKK verstehen. Sie wehrt sich in allen Teilen Kurdistans gegen die Bemühungen der Vereinnahmung und hält an ihrem politischen Konzept des demokratischen Konföderalismus fest, statt sich der imperialistisch-westlichen Politik der Kleinstaaterei und der Zerstückelung zu fügen. Dagegen wird weiterhin die PDK als Counterpart zur PKK unterstützt, um den kurdischen Nationalismus in Verbindung mit Neoliberalismus, NATO-Abhängigkeit und westlicher Schirmherrschaft – auch mit Unterstützung der deutschen Regierung – in der Region zu fördern.

Neudefinition der Solidarität mit Rojava

Es war die kurdische Diaspora und die Zivilgesellschaft in Deutschland und Europa, die es geschafft haben, während des Angriffskrieges der Türkei auf Rojava im Oktober 2019 eine internationale Aufmerksamkeit zu schaffen, die neben der militärischen Selbstverteidigung ein wesentlicher Faktor für die Behauptung der Revolution in Rojava war.

Angesichts der oben geschilderten Zusammenhänge gilt es nun, diese Solidarität neu zu definieren. Die Türkei, als NATO-Staat mit internationaler Unterstützung, ist die Hauptgefahr für alle Errungenschaften der kurdischen Freiheitsbewegung in der Region. Die kurdische Freiheitsbewegung ist nicht nur ein antifaschistisches Bollwerk gegen den türkischen Faschismus und seine internationale Unterstützung, sondern auch der Demokratisierungsmotor für die gesamte Region. Eine Solidarität mit der praktischen Umsetzung der Philosophie Öcalans, der demokratischen Selbstverwaltung in Rojava, bedeutet in diesem Sinne, die Türkei in den Fokus des Protestes zu nehmen. Es gilt, den Widerstand und die Offensive der kurdischen Freiheitsbewegung gegen den türkischen Staat auf unterschiedliche Weise zu unterstützen, um so die Türkei zu isolieren.

Die Worte von Leyla Güven in einer Botschaft nach ihrer Inhaftierung, die sie nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis von Amed wiederholte, geben einen Ausblick auf die Perspektiven in Kurdistan: »Berxwedan Jiyan e! (Widerstand ist Leben). Der dunkelste Moment in der Nacht ist der kurz vor dem Morgengrauen. Seid beruhigt. Wir sind dem Erfolg sehr nahe.«

Fußnoten:

1- Das Buch ist in türkischer Sprache im Internet unter dem Titel »Devlet kademelerinde Kürtler« frei zugänglich.

2 - Im Abkommen mit der syrischen Regierung von 1977 ist eine Mindestmenge von 500 Kubikmetern pro Sekunde vereinbart.

3 - https://anfdeutsch.com/kurdistan/erklaerung-der-kck-zum-tod-von-soleimani-16485