Mutmaßlichen Funktionär des IS in Frankfurt am Main vor Gericht

Anklagepunkt Völkermord

Luqman Guldivê, Journalist


In Frankfurt läuft gerade ein Prozess gegen einen mutmaßlichen Funktionär des sogenannten Islamischen Staat (IS), unter anderem wegen Völkermordes. Es fällt schwer, daran zu glauben, dass die deutsche Justiz endlich einmal einen solchen Fall verhandelt. Die Vergangenheit der bundesdeutschen Politik und Justiz beweist uns, dass sich dies als äußerst schwierig gestalten kann. Es werden sich nicht viele daran erinnern können, aber im März 2013 gab es im Bundestag eine Sondersitzung über die Anfal-Operation, wie Saddam Husseins Völkermord an den Kurden und Kurdinnen bezeichnet wird. Der Anlass damals war der 25. Jahrestag des Giftgas-Angriffes gegen Helepçe (Halabdscha); mehr als 5000 Menschen starben an diesem 16. März 1988 einen qualvollen Tod. Mehrere Tausend Menschen starben später an den Folgen. Tausende weitere Opfer leiden heute noch an den Vergiftungen. Mindestens 52 % der Anlagen, in denen Giftgas produziert wurde, wurden aus der BRD geliefert. Dies zeigt eine sehr klare Mitverantwortung Deutschlands, zumindest weil die Lieferung weder durch die Gesetzgebung noch durch Kontrolle verhindert wurde.

Flucht vor den türkischen Besatzern und seinen dschihadistischen MilizenEine sonst kaum vorhandene Einigkeit fast aller im Bundestag vertretenen Fraktionen war zu beobachten. Fast alle waren sich einig, dass es sich um eine sehr schlimme Angelegenheit handle, bezeichneten den Völkermord aber nicht als solchen. Dieselben sagten mehrmals, dass die Bundesrepublik Deutschland keine Mitverantwortung an der »Tragödie« der Kurd*innen in Helepçe trage. Der Antrag der Sozialdemokraten und der Grünen-Fraktion forderte keine Anerkennung als Völkermord, sondern nur, dass weiter Geld für humanitäre Projekte in Helepçe zur Verfügung gestellt wird. Die damalige Koalitionspartnerin, die CDU/CSU, wollte ursprünglich diesen Antrag unterstützen, aber wegen der Formulierung, das Geld für die Opfer könne »bei Bedarf« aufgestockt werden, zog sie ihre Unterstützung zurück. Philipp Mißfelder, damaliger außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, brachte die Begründung auf den Punkt: »Als Regierungsfraktionen müssen wir uns mit dem Auswärtigen Amt abstimmen, wenn sich aus einem Antrag finanzielle Ansprüche ergeben.« Die Frage, warum Deutschland das Massaker von Helepçe nicht als Völkermord anerkennt, kann nur mit »Weil sich die Bundesregierung vor den finanziellen Konsequenzen fürchtet«, beantwortet werden. Nur die Linkspartei tanzte aus der Reihe, sie forderte die Anerkennung des Völkermordes als solchen, genauso wie die Mitverantwortung der BRD. Es blieb natürlich bei der sonderbaren Einigkeit: »Durch die damalige Gesetzgebung habe die Regierung nicht anders handeln können.« Somit wurde ihnen keine Schuld zuteil. Auch spätere Gesetzesgeber*innen und Regierungen haben kaum etwas unternommen, sodass fast alle beteiligten Firmen unangefochten blieben.

Die Teestunde Gabriels mit Çavuşoğlu und der saubere Völkermord in Efrîn

Anfang des Jahres 2018, als die ethnische Säuberungsaktion der Türkei gegen die Kurd*innen in Efrîn in vollem Gange war, stand die BRD voll hinter ihrem NATO-Partner Türkei, sodass Leopard-Panzer eine wichtige Rolle in diesem Völkermord spielen konnten. Eine Teestunde des damaligen Außenministers Sigmar Gabriel mit seinem türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu wird wahrscheinlich später vom Bundestag auch nicht als Mittäterschaft betrachtet, der Einsatz der Leopard-Panzer erst recht nicht. Die BRD tut sich wirklich schwer mit der eigenen Geschichte; sie hat die volle Verantwortung der politischen Entscheidungen ihrer Vorgänger nicht wirklich und erst gar nicht ehrlich verarbeitet; der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und das Massaker vom 19. Februar in Hanau sind sehr deutliche Anzeichen dafür.

Unerwartet und durch Zufälle zu einem besonderen Prozess in Deutschland

Wie kommt es nun zu einer Anklage des Generalbundesanwalts wegen Völkermordes (an den Êzîd*innen)? Insbesondere, da die Ehefrau des Angeklagten IS-Funktionärs in Frankfurt, Jennifer W., eine deutsche Staatsbürgerin, in München nicht wegen Völkermordes angeklagt wird; ihr wird Beistand zum Mord an einem 5-jährigen êzîdischen Mädchen, das sie als Sklavin hielt, vorgeworfen. Der in Frankfurt Angeklagte Taha al-J. ist Iraker; im Irak selbst ist der Völkermord gegen Êzîd*innen als solcher anerkannt.

Das erklärt selbstverständlich nicht, warum es zu dieser Anklage gekommen ist, sondern nur, warum diese Anklage nicht verhindert wurde. Bekannt ist, dass das Ganze nur zufällig ins Rollen geraten war: Die BRD versuchte, eine deutsche Staatsangehörige daran zu hindern, erneut nach Syrien einzureisen. Dort würde sie sich erneut dem IS anschließen, waren die sie observierenden Beamt*innen fest überzeugt. Sie wird also verhaftet. Unterwegs nach München erzählte Jennifer W. von der Sklaverei, die sie in Syrien betrieben hatte, und vom Mord an einem 5-jährigen Mädchen. Jennifer W. wurde festgenommen und angeklagt. Sie versuchte, die ganze Schuld auf ihren Ehemann (bzw. ehemaligen Ehemann) Taha al-J. zu schieben. Und derselbe Taha al-J. wurde im Mai 2019 in Griechenland festgenommen. Im Oktober 2019 wurde er an die BRD ausgeliefert und nach Frankfurt geflogen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen den mutmaßlichen Mörder, Sklavenhalter, Kriegsverbrecher und Völkermordbeteiligten – er selbst bot in der Türkei Menschen an, sie im Umgang an Sprengstoffen auszubilden.

Mögliche Folgen einer Verurteilung

Am 27. April 2020 hat die Hauptverhandlung vor dem 5. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main begonnen. Bis jetzt konnten die Zeug*innen und Expert*innen eher nur allgemeine Tatsachen untermauern. Die Tatsache der Sklavenhaltung und dass der Angeklagte auch in der Türkei für den IS Propaganda machte und bereit war, Menschen auszubilden, die mit Sprengstoff umgehen sollten, weisen darauf hin, dass der Angeklagte bewusst am Völkermord teilgenommen hat.

Die Verhandlungen dauern an und es werden womöglich noch viele Zeug*innen aussagen. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, ob der Angeklagte tatsächlich wegen Völkermordes verurteilt wird. Das würde auch justiziell Geschichte machen, da in der BRD sehr selten wegen Völkermordes angeklagt oder gar verurteilt wurde. Eine Verurteilung aus diesem Grund könnte möglicherweise dazu führen, dass der (ehemaligen) Ehefrau des Angeklagten auch wegen Völkermords der Prozess gemacht wird. Es bestünde auch die Möglichkeit der Forderung, dass mit denselben Anklagepunkten Prozesse gegen deutsche IS-Mitglieder, die sich in Rojava/Nord- und Ostsyrien in Haft befinden, geführt werden.

Vernetzung und Zusammenarbeit organisieren

Wie die offizielle Haltung dazu auch sein wird, es ist wichtig, die Nebenklage zu unterstützen: mit Informationen, Zeug*innenaussagen aus Rojava, Şengal und südkurdischen Flüchtlingslagern sowie mit offiziellen Gesuchen seitens der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Eine Zusammenarbeit aller kurdischen, êzîdischen Akteure und Frauenorganisationen ist diesbezüglich entscheidend. Organisationen wie Maf-Dad (Verein für Demokratie und internationales Recht) könnten gegebenenfalls ihre Expertise für all diese Akteure zugänglich machen und eine begleitend-beratende Rolle spielen, gar in anderen Fällen als Teil der Nebenklage agieren. Denn in diesem Prozess geht es für all diese Akteure tatsächlich nicht darum, dass der Angeklagte unter anderem wegen Völkermordes verurteilt wird. Es geht vielmehr darum, dass der Völkermord gegen die Êzîd*innen juristisch thematisiert wird und damit ein Präzedenzfall für zukünftige Anklagen wegen Völkermordes darstellen kann.

Die von mir oben in Erwägung gezogene Zusammenarbeit und Vernetzung könnte auch über die Kurd*innen und Êzîd*innen hinausgehen und noch weitere Akteure erreichen. Menschenrechtsorganisationen, die in früheren Völkermordprozessen in Den-Haag oder während der vielen Ruanda-Völkermordprozesse eine Rolle als Nebenkläger spielten oder als Beobachter fungierten, könnten sich allein durch ihre Erfahrung als mehr als hilfreich erweisen.

Der Prozess in Frankfurt ist daher nicht irgendein Prozess gegen ein mutmaßliches IS-Mitglied, sondern eine Möglichkeit, in der sich die sonst verschlossene deutsche Justiz öffnet und, wenn auch nur begrenzt, einen kleinen Teil von Gerechtigkeit herstellen könnte. Wenn auch nur wenig Hoffnung besteht, müssen wir dennoch versuchen, sie dazu zu bewegen, denn von sich aus würde sie das nicht tun.