Südkurdistan: Militärische Angriffe, Embargo, Vertreibung, Besatzung

Südkurdische Regierungspartei PDK als Handlanger der Türkei

Elif Aydoğmuş im Gespräch mit Esra Mikyaz


Südkurdische Regierungspartei PDK als Handlanger der TürkeiNachdem nun schon seit einem Jahr das Geflüchtetenlager Mexmûr de facto einem Embargo unterliegt, hat sich nun eine weitere Krise im Gebiet um Zînê Wertê in der Autonomen Region Kurdistan (Nordirak) ereignet. Nachdem die Gegend am 15. April1 vom türkischen Militär bombardiert worden war und daraufhin die PDK (Demokratische Partei Kurdistans2) Truppen dorthin verlegte, kam es zu heftigen Reaktionen. Die Öffentlichkeit war sich einig und kritisierte, dass sich die PDK in dieser Region zum Handlanger der Türkei habe machen lassen, und die kurdische Bevölkerung wurde von zahlreichen Seiten dazu aufgerufen, nicht auf dieses Spiel hereinzufallen und die Probleme im Dialog zu lösen. Schließlich sprach auch der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan die Situation in einem Telefonat mit seinem Bruder Mehmet Öcalan an. In dem 20- bis 25-minütigen Gespräch betonte er die Wichtigkeit der nationalen Einheit in Bezug auf die Situation in Zînê Wertê. Öcalan erinnerte an das im Jahre 1982 mit der PDK unterzeichnete Abkommen und rief dazu auf, sich daran zu halten und über einen Dialog eine Lösung für die Situation zu finden. Seitdem herrscht zwar Ruhe, die 450-köpfige Spezialeinheit der PDK hat sich jedoch bisher nicht aus der Gegend zurückgezogen.
Die seit vielen Jahren aus der Region berichtende Journalistin Esra Mikyaz fasst die aktuelle Situation zusammen, erklärt die Hintergründe und bewertet die Reaktionen auf Öcalans Forderung.

Was ist der Grund für das seit einem Jahr über das Camp Mexmûr verhängte Embargo?

In Mexmûr leben Menschen, die Anfang der 1990er Jahre aufgrund des (noch immer anhaltenden) Einsatzes von Dorfschützern durch den türkischen Staat gezwungen waren zu fliehen und ihre Heimat im nordkurdischen Colemêrg (Hakkari) zu verlassen. Die Türkei versucht, die Opposition im Inland zu unterdrücken und zu vernichten. Das hat sie auch mit dem Camp Mexmûr vor. Die Türkei möchte unter Anwendung von nachrichtendienstlichem, diplomatischem und politischem Druck das Lager auflösen. Solange das Camp besteht, wird sie es immer als Gefahr ansehen. Sie versucht ebenfalls durch ihre guten Beziehungen zur PDK, die in der Regionalregierung Kurdistans vertreten ist, Einfluss auf den Status des Lagers zu nehmen. So herrscht seit dem 17. Juli 2019 ein durch die Sicherheitskräfte der PDK umgesetztes Embargo über Mexmûr.

Mexmûr ist in einem Gebiet innerhalb der irakischen Staatsgrenze gelegen, dessen Status nach § 140 des irakischen Gesetzes noch nicht geklärt ist. Während einerseits die irakische Armee dort patrouilliert, kontrolliert andererseits die PDK das Gebiet um Hewlêr (Erbil)3. Auch der sog. Islamische Staat (IS) ist immer wieder in der Gegend um Mexmûr aktiv, und so hat das Embargo auch negative Auswirkungen im Kampf gegen den IS. Nicht nur militärisch, sondern auch in der medizinischen Versorgung gibt es ernsthafte Probleme. Die Führung in Hewlêr behindert die Behandlung der im Kampf gegen den IS Verletzten. Das sind jedoch nur die unmittelbar sichtbaren Folgen des Embargos. Das Embargo erschwert das Leben der im Camp lebenden Menschen auch in den Bereichen der Ökonomie und der Bildung.

Wie bewerten Bevölkerung und Politiker*innen dieses Embargo?

Innerhalb der PDK-Führung gibt es sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Aufrechterhaltung des Embargos. Erinnern wir uns daran, dass Voice of America (VOA) Dossiers anfertigte, als schwangere Frauen Fehlgeburten erlitten. Die Parteiführung in Hewlêr bezog keine Stellung und behauptete, es existiere kein Embargo. Denn viele der im Camp lebenden Menschen waren auch einmal Peschmergas der PDK. Es ist derselbe Clan. Sie wollen nicht, dass sich die Bevölkerung innerhalb ihres Einflussbereichs gegen sie wendet. Es gab jedoch einige Anläufe von südkurdischen Intellektuellen, Künstler*innen und Politiker*innen, das Embargo zu kritisieren und sein Ende zu fordern. Dies geschah vor allem mit Bezug auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Führungsriege der PDK und der Türkei.

Wie sieht es mit den Angriffen auf Mexmûr und Zînê Wertê aus? Was, glauben Sie, steckt hinter diesen Angriffen?

Um die Ereignisse in Mexmûr und Zînê Wertê verstehen zu können, müssen wir die strategische Ausrichtung der Türkei seit 2010/11 verstehen. Seitdem intensiviert sie im Rahmen ihrer Annektionsvorhaben ihre militärischen, geheimdienstlichen und politischen Operationen jenseits ihrer Grenzen. Damals begann sie ihre neoosmanische Politik. Von Palästina über Syrien, Jemen, Sudan bis nach Südkurdistan reichen ihre Interessen. Trotz einiger Gemeinsamkeiten unterscheidet sich ihre Politik gegenüber Südkurdistan natürlich. Denn die Türkei unterhält seit den 1990er Jahren nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche Beziehungen zu einigen Parteien in Südkurdistan, die mit Öllieferungen begannen. Es gibt bilaterale Verträge zwischen der PDK und der Türkei über Erdöl- und Erdgaslieferungen mit Vertragsdauern von bis zu 50 Jahren. Dies ist auch dem SETA-Report4 zu entnehmen, der vom stellvertretenden Generalkoordinator der Stiftung, Fahrettin Altun, vorgelegt wurde. Mit ihrer Wirtschafts-, Militär-, Diplomatie- und Sozialpolitik in Südkurdistan möchte die Türkei alle ihr im Weg stehenden Organisationen und die Region vernichten. Hervorzuheben ist, dass dem SETA-Bericht entnommen werden kann, wie die Türkei plant, militärisch von Zaxo aus bis nach Çûwarte bei Silêmanî, vorzurücken. SETA ist jetzt ein Strategiezentrum des AKP-MHP-Regimes geworden.

SETA-Funktionären, die in einer Sendung eines Nêçîrvan Barzanî gehörenden Senders zu Wort kamen, wurde vom Moderator viel Erfolg gewünscht, als sie ihre Pläne bezüglich Çûwarte erklärten. Auch dies ist der Bevölkerung nicht entgangen.

Es wurde vieles gesagt, das auf die enge Verbindung zwischen SETA und der türkischen Regierung schließen lässt. So hat ein Sprecher der gegen General Haftar in Libyen agierenden militärischen Kräfte erklärt, dass auch Einheiten der Roj-Peschmerga5 unter den von der Türkei nach Libyen gesandten Gruppierungen sind. Die Roj-Peschmerga sind eine unter dem Schutz der PDK stehende Gruppe aus Rojava, die nach Südkurdistan emigrierte. Sie werden von der PDK ausgebildet, bezahlt und sowohl militärisch als auch logistisch von ihr unterstützt. Der ehemalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu inspizierte mal ein in Başika gelegenes Trainingscamp. Auch diese Bilder werden als Zeugnis der Kollaboration zwischen PDK und Türkei nicht vergessen. Die Türkei möchte ihre Grenzen bis nach Silêmanî ausdehnen. Wie konnte das AKP-Regime nun bis nach Zînê Wertê vordringen? Natürlich war die PDK das Mittel.

Die Pandemie ist ihm Frühjahr zum wichtigsten Thema auf der ganzen Welt geworden. Die Türkei und die mit ihr eng verflochtene PDK haben versucht, diese Krise ausnutzen, und so kündigte die PDK an, sie wolle zum Schutz der eigenen Grenzen rund 450 Spezialkräfte in Zînê Wertê stationieren. Natürlich protestierten sofort Intellektuelle, Künstler*innen und Politiker*innen unterschiedlichster Kreise. Es geht hier nicht, wie vom Präsidenten der KRG6 Nêçîrvan Barzanî behauptet, um die Grenze zum Iran. Die liegt 30–35 km entfernt. Warum also wurden ausgerechnet dort von Deutschland ausgebildete Spezialkräfte stationiert? Wenn die Gegend doch unter der Kontrolle der YNK7-Peschmerga steht, wieso übernehmen dann die der PDK unterstehenden 450 Spezialkräfte die Coronavirus-Vorkehrungen? Vor allem, wenn man bedenkt, dass diese Region die vom Coronavirus am wenigsten betroffene der KRG ist und die Maßnahmen Stück für Stück gelockert werden. Die Bevölkerung Südkurdistans stellte diese Fragen und protestierte. Die PDK verlor an Ansehen.

Sie versucht die hitzigen Debatten abzukühlen und hüllt sich in Schweigen. Das Volk setzte den Streitkräften eine Frist von 48 Stunden. Ohnehin unterstand die Region der YNK, die dort auch Streitkräfte unterhält. Nun sind dort auch die 450 Spezialkräfte, deren Kommandeur Berhem Arif Yasin in einem Interview sagte: »Wir sind hier mit 450 Peschmerga angerückt und werden uns nicht zurückziehen.« Aus dem Interview, erschienen auf der Webseite Xandan, geht hervor, dass man abwarten will, bis sich die Gemüter beruhigt haben, um dann die Operation weiterzuführen.

Auch im südkurdischen Silêmanî kamen Hunderte Menschen zusammen, um gegen die tödlichen Angriffe des türkischen Besatzungsstaates zu protestieren.Wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen PDK und YNK?

Wenn es auch von Zeit zu Zeit zu Auseinandersetzungen kommt, so pflegen die beiden Regierungsparteien weiterhin Beziehungen zueinander. Trotz aller Differenzen finden sie doch immer wieder einen Weg der Zusammenarbeit.

Natürlich ist die jetzige Situation keine, die zwischen nur zwei Parteien geklärt werden kann. Qendîl als eines der wichtigsten Zentren Kurdistans wird angegriffen, um es unter die Kontrolle der Türkei zu bringen. Es geht hier nicht nur darum, das Gebiet der Türkei zugänglich zu machen. Das Gebiet wäre auch für die USA ein neues Tor zum Iran. Wir wissen, dass es bisher keine nennenswerten direkten Beziehungen zwischen der YNK und den USA gab. Vielmehr pflegt die YNK Beziehungen zum Iran. Die PDK und die Türkei jedoch haben direkte Beziehungen zu den USA. Die Qendîl-Gebirgskette erstreckt sich bis in den Iran. Das Gebiet, in das die PDK nun eingedrungen ist, ist das Karox-Gebirge, von dessen Gipfeln aus man Qendîl sehen kann. Ein Gebirgspass verbindet das Karox-Gebirge mit den Qendîl-Bergen. Das Medya-Verteidigungsgebiet wiederum ist ein Gebirgspass, der Gare, Behdînan, Xinêre und Xakurke in Südkurdistan miteinander verbindet. Darum wird dieses Gebiet wichtig werden, um militärisch gegen die Guerilla und gegen den Iran vorzugehen. Dieses Gebiet zu kontrollieren bedeutet, in Kurdistan militärisch manövrieren zu können; darum ist die momentane Situation sowohl für diese beiden Parteien als auch für die PKK ebenso kompliziert wie strategisch wichtig. Ein nationales Problem also. Wenn dieses Gebiet an den Feind verloren ginge, würde das einen dunklen Fleck in der Geschichte des kurdischen Volkes hinterlassen.

Wie beeinflusst die Ölkrise zwischen Bagdad und Hewlêr die politische Krise?

Dieses Thema hat den größten Einfluss auf die Krise der aktuellen irakischen Regierung. Denn Hewlêr vertieft seine Beziehungen zur Türkei, statt die zur irakischen Zentralregierung. Die Regionalregierung hat sehr langfristige Ölverträge mit der Türkei unterzeichnet. Jedoch hat die Zentralregierung in Bagdad vor kurzem mitgeteilt, sie zahle die Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht mehr. Grund dafür war die Tatsache, dass die Verabredung über die Abgabe von 250.000 Barrel Öl durch die südkurdische Regionalregierung nicht eingehalten wurde. Das bedeutet, dass die Zentralregierung von der Regionalregierung abhängig und auf internationaler Ebene nicht in der Lage ist, das Land als Ganzes zu vertreten. Es gibt weder eine Zusammenarbeit bei Regierungsbildungen noch bei der Lösung wirtschaftlicher Probleme oder anderer politischer Probleme. Stattdessen sorgen sie für Schlagzeilen mit gegenseitigen Ultimaten und Zugeständnissen. Zum ersten Mal hat die irakische Zentralregierung den Botschafter der Regionalregierung einbestellt und sich damit auf höchster diplomatischer Ebene den Angriffen der Türkei entgegengestellt. Der Präsident der Regionalregierung Nêçîrvan Barzanî jedoch beschuldigte das Volk in Mexmûr, schuld an den Angriffen zu sein. Auch dies war ein Ausdruck der politischen Beziehungen.

Warum duldet Hewlêr immer noch türkische Truppen in der Region und lässt sie den Flugraum nutzen? Liegt das an den wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei?

Um ehrlich zu sein, auch wir stellen Journalist*innen und Politiker*innen diese Fragen. Meistens erhalten wir die Antwort, die wirtschaftliche Lage zwinge sie dazu. In Hewlêr sticht sofort ins Auge, dass sämtliche Schilder von Einzelhandelsgeschäften, Baufirmen, Schönheits- und Gesundheitszentren in türkischer Sprache sind. Es ist auch irritierend, wie viele Türkisch sprechende Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter dort stationiert sind. Die Beziehungen zur Türkei gehen über normale zwischenstaatliche Beziehungen hinaus. Man hört kaum Arabisch, umso mehr Türkisch. Die Türkei unterhält in den von der PDK kontrollierten Gebieten mehr als 20 militärische Stützpunkte. Das hat natürlich Auswirkungen auch auf dortige Bildungseinrichtungen. Seit 1997 nimmt die Türkei immer mehr Einfluss auf das Bildungswesen, was wiederum zeigt, dass sie auch Einfluss auf die Politik hat. Ich beschäftige mich in meiner Arbeit hauptsächlich mit der Situation der Frauen. Da sehen wir, dass auf allen der PDK unterstehenden TV-Kanälen türkische Serien ausgestrahlt werden, die die Haltung der AKP gegenüber Frauen widerspiegeln. Zuletzt strahlte der Sender Rudaw zu Ramadan eine Sondersendung aus: »Giftûgoye kecan«, zu Deutsch »Frauen unterhalten sich«. In dieser Sendung traten männliche Sänger auf, und es wurde gesagt, Frauen sollten sich ihren Männern unterordnen. Sie seien schwach und sollten sich darum kümmern, ihre Kinder zu verheiraten. Es gibt also eine den türkischen Vorstellungen gegenüber völlig offene Struktur, die selbst ihren Luftraum für die Türkei offen lässt.

Wie Sie vielleicht wissen, untersteht dieser Luftraum seit 1992 der Kontrolle der NATO, nicht der der irakischen Regierung. Auch wenn der Irak die Türkei für ihre Angriffe auf Mexmûr kritisiert hat, so ist es die NATO, die den Luftraum kontrolliert. Jedoch müssen wir festhalten, dass die Regierung in Hewlêr den Angriffen nicht widersprochen, sie nicht einmal kritisiert hat.

Die PDK hat keine anderen Einnahmen als die aus den Ölexportgeschäften und ist hinsichtlich der landwirtschaftlichen Produktion von der Türkei abhängig. Gibt es Versuche, die eigene Landwirtschaft zu beleben?

Für viele Länder, in denen es Erdöl gibt, ist dieses auch die Haupteinnahmequelle. Lokale Produzent*innen werden nicht unterstützt. Es ist meist günstiger, Nahrungsmittel, Textilien und Baumaterial zu importieren. Aus diesem Grund wurde nicht in die Eigenproduktion investiert. Ich hatte es schon angedeutet, möchte es aber nochmal wiederholen. Als die Türkei Serêkaniyê und Girê Spî angegriffen hat, hat das Volk in Südkurdistan türkische Produkte boykottiert. Dies verursachte einen Schaden von fast 500 Millionen Dollar. Das türkische Konsulat in Hewlêr berief die Provinzgouverneure einzeln ein und forderte ein Ende des Boykotts. Aber die Initiative für diesen Boykott ging von der Bevölkerung aus, sodass er nicht beendet werden konnte. Das hat auf die Region größere Auswirkungen als die Coronakrise. Aber für die Regionalregierung war dies doch nur eine kleine Spielerei. Es gab aber nur wenig Bewegung in der lokalen Produktion. Ich denke nicht, dass der Boykott langfristige Entwicklungen und Veränderungen für die lokale Produktion nach sich zieht. Inzwischen versuchen die Türkei und Hewlêr, den schlechten Ruf der Verträge zwischen den beiden Ländern zu umgehen, indem Verträge nun auf privatwirtschaftlicher Ebene geschlossen werden.

Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan betonte in einem Telefonat mit seinen Angehörigen die Dringlichkeit der nationalen Einheit. Wie wurde dies von den regionalen politischen Kräften und der Bevölkerung aufgenommen?

In einigen Sendungen stellten wir politischen Akteur*innen diese Frage auch. Der erste Reflex ist immer, dass man Öcalans Stimme nicht selbst gehört habe und dass solche Botschaften nicht über Hören-Sagen funktionieren. Öcalan wird als wichtiger Akteur in der Lösung der kurdischen Frage wahrgenommen. Vor allem haben die Errungenschaften von Rojava die Überzeugung gestärkt, dass er ein Anführer sein kann, der das kurdische Volk voranbringen kann. Selbst die alten Peschmerga, die damals gegen die PKK gekämpft hatten, sagen nun, wenn jemand etwas anbieten kann, dann Öcalan. Das Vertrauen in ihn wird außerdem durch das Versagen der gegenwärtigen Regierung verstärkt. Auch haben die Menschen den Eindruck, dass Öcalans Theorie und seine Verteidigungsschriften tatsächlich eine alternative Antwort auf die gegenwärtige Politik sein können. Alle Politiker*innen, die Sie fragen, werden Ihnen sagen, dass es ohne nationale Einheit keine Lösung geben wird. Darauf, wie diese nationale Einheit erreicht werden kann, haben sie jedoch keine Antwort, und es wird kein Versuch konkreter Schritte unternommen.

Öcalan hat auch an das 1982 mit der PDK unterzeichnete Abkommen erinnert. Was war der Inhalt dieses Abkommens und wieso hat er es noch einmal ins Spiel gebracht?

Mit der Erwähnung des Abkommens, wollte er den Journalist*innen dessen Existenz in Erinnerung rufen. Das Abkommen ist veröffentlicht und somit zugänglich. Auch viele südkurdische Politiker*innen kennen dieses Abkommen. Als wir sie nach ihrer Meinung fragten, bekamen wir folgende Antwort: 1982 hatte die Guerilla den bewaffneten Kampf noch nicht aufgenommen, dennoch war die PKK damals schon ein wichtiger politischer und ideologischer Faktor für die kurdische Bevölkerung. Darum schlossen Îdrîs Barzanî als PDK-Vorsitzender und Öcalan als Generalsekretär der PKK dieses Abkommen. Es beginnt mit der Feststellung des Grundsatzes der gegenseitigen Solidarität. Alle Punkte des Abkommens fußen darauf und definieren den gemeinsamen nationalen Kampf gegen die imperialistischen Kräfte. Dabei ist der letzte Punkt des Abkommens interessant. Er besagt nämlich: »Im Falle von Schwierigkeiten und Fehlern in der praktischen Umsetzung der oben genannten Vereinbarungen sollten die Verantwortlichen beider Seiten einander konsultieren. Wenn trotz dessen die Warnungen nicht vor Augen geführt werden, sind beide Seiten frei ihre jeweiligen Arbeiten zu führen.« Indem er auf diesen Punkt im Abkommen hinwies, hat Öcalan an die gemeinsamen nationalen und demokratischen Interessen des Volkes erinnern wollen. Beachten wir dabei, dass die Entwicklung des »Greater Middle East Project« gezeigt hat, dass sich staatliche Interessen ändern können und die kurdische Bevölkerung unter allen Bedingungen kontinuierlich ein demokratisches und freies Leben anstrebt. Öcalan warnt, es sei naiv zu glauben, ein Teil des kurdischen Volkes könne ein gutes Leben führen, wenn ein anderer vernichtet würde. Wir müssen verstehen, wie wichtig es ist, dass sich die Kurd*innen trotz aller politischen Unterschiede vereinen und ihre gemeinsamen Werte verteidigen. Es ist also wichtig, den Aufruf Öcalans ernst zu nehmen.


Fußnoten:

1 - Aktuell flog die türkische Luftwaffe in der Nacht zum 15. Juni erneut Angriffe gegen Gebiete in Südkurdistan. Ziel der Luftschläge waren das Flüchtlingscamp Mexmûr, Siedlungsgebiet in Şengal und die Medya-Verteidigungsgebiete.

2 - Auf deutsch häufig KDP abgekürzt.

3 - Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak

4 - SETA, Stiftung für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Forschung, AKP-nahe Stiftung in der Türkei.

5 - Die »Roj-Peschmerga« sind auf Barzanîs Anordnung am 12. April 2012 gegen die revolutionären Kräfte in Rojava gegründet worden und sollten gegen die dortige Selbstverwaltung im Sinne der PDK und der türkischen Regierung vorgehen. Sie stehen dem von der PDK und dem MIT kontrollierten »Kurdischen Nationalrat« ENKS nahe.

6 - Autonome Region Kurdistan (auf dt. auch ARK abgekürzt), Nordirak.

7 - Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê (Patriotische Union Kurdistans, auf deutsch meist PUK abgekürzt)