»Das Buch schrieb mein Schicksal, und nun muss ich es erneut schreiben«

Aslı Erdoğan: Das Haus aus Stein

Buchbesprechung von Susanne Roden

Aslı Erdoğan: Das Haus aus SteinBereits 2009 erschien in der Türkei das Buch »Das Haus aus Stein« (Originaltitel: Taş Bina). Es wurde 2010 mit einem der bedeutendsten Literaturpreise, dem Sait-Faik-Preis, ausgezeichnet. Den Preis nahm Aslı Erdoğan seinerzeit persönlich von Yaşar Kemal entgegen.

»Sansaryan Han« steht im Zentrum der Stadt. Es war im Ursprung erbaut für die Erziehung und Ausbildung von armenischen Kindern und wurde am 24. Mai 1929 durch Ağa Muğradiç Sanasaryan, dem Gründer der »Sanasaryan Stiftung«, in der armenischen Gemeinde eingetragen. Es ist ein sehr schönes Haus, ein imposantes Gebäude.

Das »Haus« Sansaryan wurde in Sirkeci (Istanbul) 1895 erbaut und 1944 zur Polizeidirektion von Istanbul umgewandelt. Viele Linke und Oppositionelle wurden dorthin verschleppt und schwer gefoltert. In einem der vielen Interviews, die mit Aslı Erdoğan geführt wurden, berichtete sie, dass sie in den 80er-Jahren einmal in dem Gebäude zu einer Zeugenaussage war. Sie war erstaunt, dass die Folterzellen ganz oben waren; man hätte sie wie üblicherweise bei Polizeistationen im Keller vermutet. Das Gebäude hat vier Stockwerke und einen Innenhof. Die Istanbuler Anstalt »Sansaryan Han« existiert noch immer und ist in der Türkei ein Symbol für die Folter politischer Gegner in der Türkei.

Seit 2014 gibt es Forderungen der armenischen Gemeinschaft, das Gebäude vom Staat zurückzuerlangen. Es ist eines der historischen »hans« (han=Herberge) in Istanbul.

Das Buch »Das Haus aus Stein« (Taş Bina) entstand 2009 auf Grundlage einer dreiseitigen Kurzgeschichte und der sensiblen Beobachtungsgabe von Aslı Erdoğan. Durch die eigene Inhaftierung am 16. August 2016, nach dem Militärputsch, wurde es zu einem sehr persönlichen Buch. Es ist ein Versuch der Aufarbeitung des Erlebten.

Wer nun jedoch persönliche Notizen aus der Haft oder gar Folterszenen erwartet, der wird enttäuscht. Es geht Aslı Erdoğan darum, wie man das, was Folter bewirkt und mit einem Menschen macht, in der Literatur thematisieren und eine Sprache für das Trauma finden kann. Sie beschreibt in Metaphern, verbildlicht mit einer ihr eigenen poetisch-dunklen Sprache die Figuren und erspart dem Leser genaue Beschreibungen von Qualen der Folter. Spürbar ist es dennoch.

Das Vorwort zur Deutschen Erstausgabe »Das Haus aus Stein« schrieb Aslı Erdoğan im Januar 2019.

»Das Haus aus Stein« ‒ Der Anfang

»Fakten sind unverblümt, unharmonisch, grob. Reden gerne lautstark. Liegen da wie Felsbrocken. Ich überlasse sie lieber jenen, die sich mit wichtigen Dingen befassen. Mich interessiert auch nur, wie sie untereinander tuscheln. Kaum hörbar doch wie besessen. Ich stochere darin herum auf der Suche nach ein bisschen Wahrheit – wie man es früher nannte, heute gibt es dafür keinen Namen mehr« ... »Heute werde ich vom Haus aus Stein erzählen, dem das Schreiben gern ausweicht, dem es nur aus sicherer Entfernung zusieht, durch die Wörter hindurch.«

Es ist ein schwieriges Unterfangen, dem sich die Autorin stellt. Sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, nachdem sie selber in das Frauengefängnis Bakirköy-Istanbul kam, nicht wissend für wie lange und ob sie es jemals lebend wieder verlassen würde.

Sie selbst sagt, dass traumatisierte Häftlinge keine guten Geschichtenerzähler sind; das Gedächtnis ist wie ein Sumpf. Man erinnert sich wenig. Die meisten Häftlinge seien verwundert, wie viel sie vergessen; aber es muss absterben, damit etwas anderes überleben kann. Manche Bilder sind wie Stein, sie kann sie nicht aus dem Gedächtnis löschen, sie sind grau, schwarz-weiße Bilder. Das Trauma redet in Form von Steinen zu ihr.

Ihre Erinnerung des Traumas, im Gefängnis gewesen zu sein, entspricht einer Wolke; nichts ist klar. Sie traf zufällig in Deutschland eine Mitinsassin, aber diese konnte sich nicht mehr an die Zellennummer erinnern. Das Gedächtnis hat seine eigene Sprache. In diesem Sinne befindet Aslı Erdoğan ihr Buch erfolgreich. Aber sie sieht das Buch nicht als einen Triumph – es ist ein Armutszeugnis. Einer der Hauptsätze in dem Buch lautet: Ich höre einen Ton, aber immer wenn ich versuche, ihn zu singen, kann ich ihn nicht treffen. Es scheitert, weil es nichts gibt, was das Trauma beschreiben kann, man kann nur versuchen, sich diesem zu nähern und einzukreisen. In einem Folterraum ist kein Platz für Literatur. Man kann nur versuchen, wie weit der Ausdruck von Literatur und der Erfahrung von Trauma, sich annähern. Die Erfahrung von Folter kann man nicht mitteilen. Wenn man es sich selber nicht sagen kann, weil das Gedächtnis es verweigert, wie sollte man es anderen Personen mitteilen können. Die Foltererfahrung ist dazu verdammt, verloren zu gehen.

Aslı Erdoğan nutzt viele verschiedene Metaphern in ihrem Buch, die sich in ihren Bedeutungen verändern: Wind, völlig frei, leicht und in Bewegung und der Stein, unbeweglich, schwer, grau, immer dort. Die physische Welt kommt in Kontakt mit ihnen. Sie setzt bewusst Gegensätze ein: der alte verrückte Mann »A« und der Engel; gefolterte Kinder und der heilige Chor. Die Metaphern verwendet sie für die menschliche Seele, das menschliche Herz.

Es gibt keinen klassischen Ich-Erzähler; der Erzähler ist keine Einzelperson, sondern wie eine wechselnde Maske. Der verrückte Mann »A«, der vor dem Haus aus Stein hausiert, ist anonym. Es ist ein Mensch, über den wir nichts wissen. Einst lebte er im »Haus aus Stein«, nun davor. Es macht für ihn keinen Unterscheid mehr. Aslı Erdoğan erlaubt es der Leserin und dem Leser ganz bewusst nicht, sich mit der Figur zu identifizieren und somit ist er keine typische literarische Figur. Literatur setzt auf Identifikation.

Er ist »Wir« und er ist das »Ich« der Autorin; er wird zur Metapher für die Autorin, wenn er in das Schaufenster klettert und seine lange Rede hinausschreit. Die Grenzen zwischen Erzähler und Erzähltem fließen. Alle Figuren verschwimmen im Buch und es ist kein Zufall, dass der Engel die gleiche Narbe trägt, wie der Verrückte »A«.

In dem »Haus aus Stein« gibt es keine greifbaren Verbrechen oder Anklagen. Jeder Einzelne ist einer diffusen Angst ausgesetzt. Verunsicherung und Verzweiflung beherrschen die Menschen im Gefängnis, die der Willkür und dem Schrecken ausgesetzt sind.

Das Buch wurde in Deutschland als Roman veröffentlicht, ist aber eher wie ein Prosa-Gedicht. In der Türkei ist Aslı Erdoğan als Autorin von poetischer Prosa bekannt und nicht als politische Schriftstellerin. Für sie selbst ist es eine besondere Situation, dass sie nun zur politischen Person wurde, einfach, weil sie eine Ex-Gefangene ist.

Hintergrund:

Aslı Erdoğan, geboren 1967 in Istanbul, studierte Informatik und Physik an der Bosporus-Universität in Istanbul. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie als Physikerin am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, in der Schweiz. Schon damals schrieb sie literarische Texte.

Danach unterbrach sie ihre naturwissenschaftliche Laufbahn und lebte zwei Jahre in Rio de Janeiro, um Anthropologie zu studieren. Die ersten Romane wurden veröffentlicht: »Kabuk Adam« (dt. etwa Der Muschelmann) und »Mucizevi Mandarin« (dt. 2008 »Der wundersame Mandarin«). Noch in Brasilien verfasste Aslı Erdoğan den Roman »Kirmizi Pelerinli Kent« (1998; dt. 2008 »Die Stadt mit der roten Pelerine«), der sie international bekannt machte.

Aslı Erdoğan schrieb Kolumnen für Özgür Gündem, eine türkischkurdische Zeitung und war eines von sechs Mitgliedern im beratenden Gremium der Zeitung. Nachdem die Zeitung per Notstandsdekret schließen musste, wurde sie in der Nacht zum 17. August 2016 festgenommen.

Der Vorwurf: terroristische Propaganda für eine illegale Organisation, in ihrem Fall die kurdische PKK, Mitglied einer illegalen Organisation, Volksverhetzung. Die Forderung der Staatsanwaltschaft: lebenslänglich.

Der Prozess gegen sie und weitere acht Mitangeklagte begann Ende Dezember 2016; am 29. Dezember 2016 wurde Aslı Erdoğan nach ihrer Anhörung, schwer krank, überraschend und unter Auflagen freigelassen. Sie bekam Ausreiseverbot, das am 22. Juni 2017 jedoch aufgehoben wurde.

In der Tat. Dass Aslı Erdoğan sieben Jahre nach Veröffentlichung des Buches »Haus aus Stein« selber ins Gefängnis kam, macht das Buch zu dem Buch ihres Lebens. »Ich komme da nicht mehr raus; das Buch schrieb mein Schicksal und nun muss ich es erneut schreiben: das Gefängnis, all das«, sagte Aslı Erdoğan in einem Interview des Börsenvereins.1

Für den Rest ihres Lebens sieht sie sich in dem »Steingebäude«. So fühlt sie es. Das ist es, was sie beschreiben möchte: Trauma ist etwas, wo du nicht selbst herauskommst, es ist endlos. Weiter sagt sie: »Ich erinnere mich an das Gefängnis ganz genau so, wie in dem Buch; eine große Wolke und ein paar wenige solide Bilder die nicht ausgelöscht werden können. Sie sind unausrottbar. Du willst diese aus deinem Gehirn löschen, aber es geht nicht.« In der Hinsicht befindet sich Aslı Erdoğan in Frieden mit ihrem Buch. Sie könnte inzwischen wohl direkter sein an gewissen Punkten, wenn sie es jetzt versuchen würde. Aber zu der Zeit, schrieb sie nur Poesie.

Ausgelöst durch eine Veröffentlichung in entstellender und nicht genehmigter Übersetzung in der belgischen »Le Soir« eines Artikels aus »La Repubblica« sowie einer weiteren Veröffentlichung in den russischen Medien, griff dann die Türkei das Thema im November 2019 auf und es begann eine Hetzkampagne mit Drohungen gegen Aslı Erdoğan, die sich zu der Zeit bereits in Deutschland befand sowie gegen ihre in der Türkei lebende Mutter.2

Aslı Erdoğan ging danach davon aus, dass sie ihre Chance auf einen Freispruch verloren habe.

Im Januar 2020 nahm sich dann ein neuer Staatsanwalt der Sache an und das Verfahren wurde am 13. Januar 2020 wieder aufgenommen. Dies betraf den Prozess gegen Aslı Erdoğan und die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin. Demnach sollte Keskin zu einer Haftstrafe von bis zu fünfzehn Jahren verurteilt werden, Aslı Erdoğan zu einer Haftstrafe bis zu neun Jahren.

Während der Prozess zuvor Jahre lang auf Eis lag, sollte nun das Urteil schon in zwei Wochen, am 14. Februar, gesprochen werden. Aslı Erdoğan vermutete, diese Eile sollte verhindern, dass sich Unterstützer und nennenswerter Widerstand formieren könnten. Doch die Schriftstellerin sieht sich nicht nur selber bedroht. Es gehe nicht mehr nur um Rede- und Meinungsfreiheit. Die Türkei habe den Menschenrechten den Krieg erklärt, der Literatur sowie dem Gewissen eines jeden und einer jeden. Dagegen müssen alle ihre Stimme erheben, so ihre Forderung.

Aslı Erdoğan sagt von sich selber, dass sie keiner kurdischen Partei angehört und auch nicht politisch aktiv sei. »Özgür Gündem« ist schon oft verdächtigt worden, PKK-Propaganda zu betreiben, aber sie war nie in Verfahren mit eingebunden. Sie sei weder Kurdin, noch eine bedeutende Journalistin. Sie vermutet, dass sie vielleicht ja sogar deshalb ins Gefängnis musste. Sie sei Schriftstellerin, und kein Mensch in der Türkei nähme sie politisch ernst. Die Botschaft der Regierung würde dann lauten: Es kann jeden Intellektuellen treffen, sogar eine der berühmtesten türkischen Autorinnen. Vielleicht sei ihre Verhaftung aber auch nur ein blöder Zufall gewesen. Auf jeden Fall lag keine rationale Entscheidung zugrunde.


Fußnoten:

1 - Interview im Börsenblatt anlässlich der Buchmesse: https://www.boersenblatt.net/2019-05-07-artikel-interview_mit_asl___erdo__an_.1651759.html

2 - https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/gespraech-mit-asli-erdogan-schlechter-journalismus-ermoeglichte-die-kampagne-16485821.html


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020