David Graeber: Ein revolutionärer Intellektueller unserer Zeit

»David trug viel zum Verständnis des intellektuellen Gerüsts der kurdischen Freiheitsbewegung beim internationalen Publikum bei und stärkte im Gegenzug auch unser Denken durch seine Analyse. Er war die Art von aktivistischem Intellektuellen, die unsere Welt dringend braucht«, erklärt die Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan ‒ Frieden in Kurdistan« in ihrem Nachruf auf David Graeber.

David Graeber auf dem Podium der Konfernz »Die kapitalistische Moderne herausfordern III« 2017 in Hamburg.Der Anthropologe, Buchautor und Vordenker der Bewegung »Occupy Wall Street« David Graeber ist im Alter von 59 Jahren in Venedig gestorben. Sich selbst bezeichnete David Graeber als Anarchist. »Wenn es etwas an ihm gab, das auffiel, dann war es sein Beharren darauf, die Dinge anders zu sehen. Es gelang ihm, die Dinge auf völlig neuartige Weise zusammenzuführen und Phänomene, die wir als selbstverständlich hingenommen haben, in ein neues Licht zu rücken. Seine unübertroffene Kreativität führte dazu, dass er sich über verschiedene Disziplinen und Zeithorizonte erstreckte«, heißt es weiter in dem genannten Nachruf auf Graeber.

Berühmtheit erlangte David Graeber vor allem durch seine Bücher wie »Schulden: Die ersten 5000 Jahre«, in dem er die Geschichte der Zivilisation als eine Geschichte der Schulden erzählt: eines moralischen Prinzips, das nur die Macht der Herrschenden stützt. Als er die deutsche Übersetzung 2012 in Köln vorstellte, lernte er Havin Güneser und Reimar Heider von der Öcalan-Initiative persönlich kennen. Aus dem ersten Treffen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft:

»David trug viel zum Verständnis des intellektuellen Gerüsts der kurdischen Freiheitsbewegung beim internationalen Publikum bei und stärkte im Gegenzug auch unser Denken durch seine Analyse. Er war die Art von aktivistischem Intellektuellen, die unsere Welt dringend braucht. Er hatte nicht nur ein gütiges Herz und einen gesunden Intellekt, sondern er war auch in der Lage, der Uniformität der akademischen Welt zu widerstehen und sich mit Themen auseinanderzusetzen, die vielleicht nicht ganz so populär waren. Er war zutiefst kritisch gegenüber den Strukturen des Kapitals und der Macht, einschließlich ihres Ausdrucks in der akademischen Welt, seine Unterstützung galt den radikalen Bewegungen, die die Gesellschaft zum Besseren verändern.«

In seinem 2018 erschienenen Werk »Bullshit Jobs« schrieb David Graeber, dass bis zu 40 Prozent der Arbeit in der Industriegesellschaft unnötig seien – und von den Arbeiter*innen auch als unsinnig wahrgenommen werden. »Der moralische und spirituelle Schaden, der hier aus dieser Situation resultiert, ist schwerwiegend. Es ist eine Wunde in unserer kollektiven Seele.« Als Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem schlug er das bedingungslose Grundeinkommen vor.

Das ist eine echte Revolution

Graeber war zudem ein großer Freund und Unterstützer der kurdischen Freiheitsbewegung, reiste mehrmals nach Nordsyrien, wo er anarchistische Ideen verwirklicht sah. Die Internationale Initiative schreibt: »David war ohne Zweifel ein Revolutionär und Visionär, sei es im Zusammenhang mit ›Ocuppy Wall Street‹ oder der Revolution in Kurdistan, insbesondere in Rojava. Wann immer die Unterdrückten versuchten, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und etwas Neues aufzubauen, war David da, um diese Bemühungen zu unterstützen, sei es durch Theorie oder durch direkte Aktion. Und während er dies tat, nahm er es mit der Welt auf, und wenn nötig auch mit der gesamten Linken. Dies zeigte sich in seiner anderen Art, auf das kurdische Volk zuzugehen. Vor mehr als fünf Jahren sprach sich David für die Rojava-Revolution aus: ›Das ist eine wahre Revolution!‹«

Graeber trat auch in einen »indirekten Dialog« mit Abdullah Öcalan. In »Das freie Leben aufbauen – Dialoge mit Öcalan«, einem kollektiv herausgegebenen Sammelband, in dem Theoretiker*innen aus der ganzen Welt auf die Schriften des PKK-Gründers antworten, beleuchtete Graeber ebenfalls verschiedene Aspekte der Theorie und Praxis des einflussreichen kurdischen Vordenkers. In seinem Essay »Öcalan als Denker: Über die Einheit von Theorie und Praxis als Form des Schreibens« schrieb der Anarchist:

»Von Akademikern wird nicht nur erwartet, dass sie die Auseinandersetzung mit der Politik vermeiden [...] Eine Form davon ist die Weigerung zu glauben, dass jeder, der irgendeine Art von effektiver politischer Aktion in der Welt unternommen hat, auch wichtige Beiträge zum menschlichen Denken leisten kann. Sie können bestenfalls Gegenstand einer Analyse sein. Man kann sie nicht als gleichberechtigt an der Entwicklung von Ideen beteiligen [...] Es ist daher kaum verwunderlich, dass die zeitgenössischen Intellektuellen zumeist keine Ahnung haben, was sie mit den Ideen Abdullah Öcalans anfangen sollen.«

Bis zu seiner umstrittenen Entlassung 2007 unterrichtete der 1961 in den USA geborene Graeber Ethnologie an der Yale University. Seine Eltern entstammten der Arbeiterklasse, sein Vater kämpfte sogar im Spanischen Bürgerkrieg, und er selbst lebte fast zwei Jahre in einer direkte Demokratie praktizierenden Gemeinschaft auf Madagaskar. 2008 wechselte Graeber an die University of London und lehrte Sozialanthropologie am Goldsmiths College. Seit Sommer 2013 unterrichtete er an der anthropologischen Fakultät der London School of Economics. Graeber stand auch der Umweltbewegung nahe und sprach 2019 bei Protesten von Extinction Rebellion auf dem Trafalgar Square in London. Sein Lösungsansatz für den Klimawandel: Konsumverzicht.

Die Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« ist bestürzt über den plötzlichen Tod Graebers: »David hatte an diesem kritischen Punkt der Menschheitsgeschichte als brillanter Anthropologe, anarchistischer Aktivist, als Freund der Revolution in Kurdistan und als wichtiger revolutionärer Intellektueller mit einzigartigen Fähigkeiten zur Bedeutungsproduktion noch viel beizutragen. Wir alle werden ihn vermissen. Aber er wird in Rojava und überall dort, wo es einen freien menschlichen Geist gibt, weiterleben.«


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020