Die autonome Verwaltung in Kobanê ist weiblich

Rewşan Deniz, Journalistin der Tageszeitung Yeni Özgür Politika


Die Stadt Kobanê, die sich mit ihrem legendären Widerstand gegen die Anschläge seit dem 14. September 2014 durch die vom türkischen Staat unterstützten Dschihadisten des sogenannten Islamischen Staat (IS) in der Welt einen Namen gemacht hat, war in der Vergangenheit ein Ort des Tribalismus und des Feudalismus.

An einem solchen Ort wurde der Krieg gegen den IS von Frauen gewonnen. Die Frauen, die den Widerstand anführten, entwickelten auch eine soziale Struktur: von der öffentlichen Ordnung bis zur Bildung, von der Gesundheit bis zur Politik, von der Verteidigung bis zur Justiz, sie nehmen in allen Bereichen teil und entwickelten ihre eigenen Organisationen. Doch wie kam es dazu?

Die Antwort auf diese Frage ist bei einem Mitglied der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (Tevgera Demokratîk - TEV-DEM) namens Hebûn Îto zu finden. Sie erklärt, wie die Frauen von Kobanê von Tür zu Tür gingen und den Prozess in die Wege leiteten, in dem sich die Frauen organisiert haben, bis sie schließlich 90 Prozent der autonomen Verwaltung und Versammlungen ausmachten.

Wie würden Sie die gesellschaftliche Situation Kobanês vor den IS-Angriffen 2014 beschreiben?

Der Veränderungsprozess hängt eng mit der erzwungenen Ausreise von Rêber Apo1 zusammen. Denn viele Frauen übernahmen in dieser Zeit Führungspositionen, sie nahmen an Versammlungen teil und lernten eine neue Lebensweise kennen.

Zu dieser Zeit öffneten viele Familien ihr Zuhause für unsere Revolutionäre, sodass sich allmählich die Organisation in Dörfern, Stadtteilen und Städten entwickelte.

Frauen organisierten sich vor Ort und kamen unter dem Dach von Yekîtiya Star zusammen. Doch es war nicht einfach für uns, uns zu einer Bewegung zu entwickeln. Wir haben die Arbeiten unter großem staatlichen Druck heimlich durchführen müssen.

Um Frauen für eine Kundgebung zu mobilisieren, liefen wir von Tür zu Tür und versuchten, sie zu überzeugen. Das dauerte manchmal stundenlang. Die Frauen versammelten sich dann heimlich in einem Haus, gingen dann gemeinsam raus um zu demonstrieren und zerstreuten sich wieder, bevor die staatlichen Sicherheitskräfte eintrafen.

Dies führte zu einer Entwicklung des sich Erhebens und des Mutes. Das Diskutieren und Verbreiten der Aktionen innerhalb der Bevölkerung ermutigte auch andere, so dass sich auf dieser Grundlage die Rojava-Revolution entwickelte. Ohne diese Organisierung und Erfahrung aus den Diskussionen und Aktionen hätte sich die Rojava-Revolution nicht entwickeln können.

Im Vergleich zu anderen Regionen war in Kobanê Tribalismus und Feudalismus sehr verbreitet, dementsprechend wurden auch Frauen aus dieser Perspektive betrachtet. Zeitgleich war es ein Ort, an dem der Patriotismus stark ausgeprägt war.

Kobanê war die erste Stadt, die ihren »Boden aus den Fängen des Staates befreite«. Dies leitete die Revolution vom 19. Juli 2012 ein, damit einhergehend entwickelte sich ab 2014 das System der Kantone.

Die ersten Angriffe gegen Kobanê begannen ...

Im Jahr 2014 griff der IS Kobanê an. Ziel dieses Angriffes war es, die Türen Syriens für die Türkei weiter bis nach Raqqa und in den Irak zu öffnen. Überheblich sagte Erdoğan: »Kobanê fällt, es steht kurz vor dem Zerfall.«

Allerdings gab es einen äußerst heldenhaften Kampf gegen diesen Angriff. Mit dem erfolgreichen Widerstand stiegen die Moral, der Glaube und die Kraft der Bevölkerung. Das Selbstvertrauen nahm ebenfalls zu; dies galt insbesondere für die Frauen. Die Frauen aus Kobanê war bereits instinktiv stark, allerdings schlummerte diese Stärke bis dahin im Verborgenen, da sie weder geführt noch geschult wurden. Mit dem Fortschreiten des Krieges, kam diese Stärke immer mehr zum Vorschein.

Sie wurden ausgebildet, haben sich selbst kennengelernt und realisiert, zu was sie in der Lage sind. Daraus haben sie vor allem Mut geschöpft. Heute machen Frauen 90 Prozent der autonomen Regierung und des Parlaments aus.

Eine solche weibliche Führung ist mittlerweile in ganz Rojava präsent. Deshalb sprechen wir hier von einer Frauenrevolution.

Welche Art von Kampf wird gegen feudale Strukturen geführt?

Die Arbeit mit den Männern aus Kobanê ist nicht einfach. Zu Beginn wurden die Frauen gemieden, sie wurden unterschätzt. Dies geschieht ab und an immer noch. Um diese feudalen Denkweisen zu durchbrechen, gibt es kontinuierlich Bildung. Unter anderem wird gelehrt, auf welche Art und Weise Widerstand gegen die patriarchalen Strukturen geleistet werden kann. Mit Diskussionen, mit Kritik, mit gegenseitigem Austausch durchbrechen die Frauen diese Denkweise auch durch ihre eigenen Beispiele, und sie bringen außergewöhnliche Opfer.

Die Frau in Kobanê ist zumeist Mutter, sie zieht die Kinder groß, sie kümmert sich um den Haushalt, aber sie ist auch Anführerin, sie arbeitet, leistet Widerstand und organisiert öffentliche Zusammenkünfte. Wenn eine Frau sich organisiert und bewusst handelt, kann sie all diese Arbeiten machen. Aber um für sich selbst besser einstehen zu können, muss erst ein Bewusstsein dafür entstehen.

Wie viel Verantwortung übernehmen die Männer bei der Hausarbeit, die eine schwere und auch anstrengende Arbeit ist, damit Frauen sich stärker in die gesellschaftlichen Arbeiten einbringen können?

Wenn die Frau zur Arbeit geht, kann auch der Mann die Kinderaufsicht übernehmen und den Haushalt erledigen. Aber leider können wir dieses Umdenken nicht bei allen Männern erreichen. Für den Wandel und für die langfristige Veränderung des Mannes führen wir ebenfalls Bildungen durch – vorbildliche Männer nehmen daran teil.

Bei einigen Teilnehmern konnten wir Veränderungen festmachen, allerdings kann nicht die Rede von einheitlicher Veränderung sein. Die männliche Mentalität lässt sich leider nicht nur mit einer Bildung verändern. Um tatsächlich ein gleichberechtigtes und geschlechterbefreites Leben zu erreichen, müssen wir noch intensiver arbeiten.

Welche Auswirkungen haben das Ko-Vorsitz-System und die Veränderung der Frau auf den Mann?

Es ist nicht mehr üblich, dass die Frau bei Entscheidungen übergangen werden kann. Wenn in einer Institution die Frau organisiert ist und zielstrebig arbeitet, wirkt sich dies auf ihre Umgebung aus und kann ihre organisierte Arbeit fördern.

Auf diese Weise ist auch der Mann davon betroffen; es gibt Veränderungen. Aber ohne unseren Widerstand wird der Mann diese nicht akzeptieren und in alte Muster verfallen.

Auch in Sîlemanî wird der drei Frauen Zehra Berkel, Hebûn Mele Xelîl und Amina Waysî gedacht, die in Kobanê durch den türkischen Drohnenangriff ermordet wurden.Infolge der türkischen Luftangriffe im Juni wurden drei revolutionäre Frauen getötet. Steht dieser Angriff in Verbindung mit dem Widerstand von Kobanê und der Frauenrevolution?

Die Frauenverteidigungseinheiten YPJ wurden auf der ganzen Welt in der Schlacht um Kobanê bekannt. Die Bewegung, die die Frauenrevolution in Rojava organisiert hat, ist Kongreya Star.

Nachdem der türkische Innenminister Süleyman Soylu erklärte: »Die PKK ist eine Frauenorganisation, bei ihren Aktionen nehmen 56 Prozent Frauen ihren Platz ein«, nahm der türkische Staat Frauen überall ins Visier.

Zehra Berkel war die Koordinatorin des Frauendachverbands Kongreya Star und auch die Sprecherin der Euphrat-Region. Sie organisierte überall Sitzungen, um die Probleme der Frau zur Sprache zu bringen und zu lösen. Und obwohl Hebûn Mele Xelîl krank war, ließ sie sich nicht von ihrer Arbeit abbringen und führte diesen Kampf viele Jahre unermüdlich.

So auch die »Mutter« Amina Waysî. Sie symbolisierte die patriotischen Frauen von Kobanê. Aus diesem Grund wurde sie zur Zielscheibe des Feindes. Als Frauen ihre Farben im Leben widerspiegelten, veränderte sich alles. Dies konnte der Feind nicht ertragen und ermordete sie bewusst.

Rêber Apo sagt: »Zuerst sollte die Frau verherrlicht werden« und der Feind sagt: »Erschießt zuerst die Frauen.«

Der Kampf der Frauen ist ein sehr langwieriger Kampf, er wird bereits seit 40 Jahren geführt und dennoch stehen wir noch am Anfang des Weges. Der Tod der Freundinnen Zehra, Hebûn und Amina hat alle Frauen getroffen. Daraus entstand die Entschlossenheit, sich stärker in den Kampf einzubringen, und die Beteiligung daran nimmt stetig zu.

Fußnote:

1 - Am 9. Oktober 1998 hat Abdullah Öcalan aufgrund des Drucks internationaler Staaten und der NATO Syrien verlassen und so einen Krieg der Türkei gegen Syrien verhindert.


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020