Die neoosmanischen Träume Erdoğans

Die Ziele des faschistischen türkischen Regimes

Hatip Dicle, kurdischer Politiker im deutschen Exil


Die Republik Türkei ist aus den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden. In der Zerfallsphase des Osmanischen Reiches hatte das sogenannte Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF, türk. İttihat ve Terakki Cemiyeti) die Macht an sich gerissen. Die Mitglieder des KEF präsentierten sich als Repräsentanten eines europäischen Modernismus und gelten als Urheber des »Türkismus« bzw. des türkischen Nationalismus als Ideologie. Mit ihrer Machtübernahme wurde folglich der Osmanismus1, als bisheriger ideologischer Kitt des Großreiches für nicht mehr zeitgemäß erachtet und verbannt. Die Reaktion des Komitees auf die Gebietsverluste des Osmanischen Reiches im Balkan und den Aufständen in den arabischen Gebieten war die Ideologie des Türkismus.

Zerfall des Osmanischen Reichs

Das strategische Ziel des Türkismus war eindeutig: Das Osmanische Reich zerfiel im Zeitalter des Nationalismus an seiner Vielfalt. Um den weiteren Zerfallsprozess zu stoppen, sahen die neuen Machthaber es als unausweichlich an, die christlichen Bevölkerungsgruppen auf dem Territorium des Reiches physisch auszulöschen. Die muslimischen Bevölkerungsgruppen hingegen sollten mittelfristig assimiliert (türkisiert) und so zu einem Bestandteil des Reiches gemacht werden. Die Umsetzung dieses Plans erfolgte rasch. Im Flächenbrand des Ersten Weltkrieges wurden die armenische Bevölkerung im Reich ebenso wie die Suryoye und die (Pontos-)Griechen einem Genozid ausgesetzt. Heute lassen sich kaum noch die Spuren dieser Völker in ihrer einstigen Heimat Anatoliens finden.

Assimilation und kultureller Genozid

Nach der Gründung der Republik Türkei 1923 sollte der nur halb vollzogene Plan des KEF vollständig umgesetzt werden. Nun war es an der Reihe die muslimische Bevölkerung, allen voran die Kurd*innen, zu assimilieren. Bereits 1925 wurde in diesem Rahmen der »Şark Islahat Planı« entworfen. Dieser Plan befasste sich mit nichts anderem als dem kulturellen Genozid der kurdischen Bevölkerung. Tatsächlich lässt sich sagen, dass der Plan bis in unsere Gegenwart weiter in Kraft ist. Zwischen 1925 und 1938 wurden die Aufstände der kurdischen Bevölkerung, die sich gegen diesen Plan richteten, blutig niedergeschlagen. In ganz Kurdistan wurden zehntausende Menschen grausam ermordet.

Im Ergebnis hat der türkische Staat unter der Führung von Mustafa Kemal seine Herrschaft konsolidiert und die Umsetzung der Ziele des KEF vorangetrieben. Bis in die 1980er Jahre sollte die Türkei ganz nach den Vorstellungen der Gründerväter des KEF unter den ideologischen Grundpfeilern des Türkismus und eines vermeintlichen Laizismus2 geführt werden.

Projekt der »grünen Generation«

„Die AKP setzt den Militärputsch von 1980 fort“Doch 1980 kam es zu einer entscheidenden Kehrtwende, als unter der Führung kemalistischer Generale ein Putsch in der Türkei durchgeführt wurde. In jenen Jahren waren die USA und ihre NATO-Partner durch den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und der islamischen Revolution im Iran äußerst verunsichert worden. Um den parallel wachsenden Einfluss der Sowjetunion im Mittleren Osten einzudämmen, wurde deshalb das Projekt der »grünen Generation«3 entworfen. Im Kern bedeutete die Strategie Folgendes: Im Mittleren Osten sollte der politische Islam als Ideologie stark gemacht werden und als Bollwerk gegen die Verbreitung der sozialistischen Ideologie dienen.

Der Putsch, der am 12. September 1980 unter der Führung von Kenan Evren und seinen Generalen durchgeführt wurde, folgte dieser NATO-Strategie. In der Türkei wurde fortan eine verstärkte Islamisierung der Gesellschaft vorangetrieben. Die heutige AKP und viele weitere islamische und islamistische Gruppierungen in der Türkei sind tatsächlich Folgeerscheinungen dieser Strategie. So wurden beispielsweise Imam-Hatip-Schulen für Mädchen und junge Frauen eingeführt. Eigentlich handelt es sich bei den Imam-Hatip-Schulen um staatliche Berufsfachgymnasien für die Ausbildung zum Imam und Prediger in der Türkei. Und da nach der islamischen Glaubensvorstellung keine Frauen als Predigerinnen fungieren können, ist klar, dass an diesen Schulen die Vorreiterinnen einer neuen islamischen Generation erzogen werden sollten.

Auch der Fethullah-Gülen-Orden und weitere islamische Gruppierungen konnten in der Folge des Putsches von 1980 innerhalb des Staates Fuß fassen. Die Gesellschaft wurde auf diese Weise Schritt für Schritt islamisiert. Auf diesem gesellschaftlichen und politischen Fundament konnte die AKP bei ihrer Machtübernahme aufbauen. In den letzten 18 Jahren ihrer Macht hat sie Wurzeln geschlagen und gemeinsam mit ihren radikalnationalistischen Bündnispartnern der MHP und Ergenekon4 die islamische Umwälzung des Staates vorangetrieben.

Doch das Machtbündnis ist noch lange nicht an seinem Ziel angekommen. Das Erdoğan-Regime hat große Ziele, die es immer wieder auch in der Öffentlichkeit verlautbart. So ist das nächste Ziel, bis zum Jahr 2023 – dem 100-jährigen Jubiläum der türkischen Republik – den Staat vollständig in eine islamisch-türkische Republik umzuwandeln. Wir können durchaus sagen, dass sie durch den Staatsterror, mit dem sie die gesellschaftliche Opposition Schritt für Schritt beseitigt hat, diesem Ziel durchaus nähergekommen ist.

Die zweite strategische Zielmarke des AKP-Regimes ist das Jahr 2053. In diesem Jahr steht das 600-jährige Jubiläum der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 an. Zwischen 2023 und 2053 soll die neoosmanische Expansionspolitik der Türkei ihre Ziele erreicht haben. Die Kriege und Besatzungsoperationen der Türkei in Libyen, Syrien und Südkurdistan sowie die artikulierten Ansprüche im Mittelmeer deuten bereits an, in welche Richtung es auch in den kommenden Jahren gehen soll.

Die dritte Etappe der Strategie schließlich soll bis zum Jahr 2071 abgeschlossen werden. Das wäre der tausendste Jahrestag der Schlacht bei Manzikert (Malazgirt), welcher den Beginn der türkischen Einwanderung im heutigen Anatolien markiert. Tausend Jahre nach der Schlacht von Manzikert will das AKP-Regime die Türkisierungspolitik innerhalb des anvisierten neoosmanischen Großraums zu einem Abschluss bringen. Erdoğan hat diese Ziele, die zugleich Teil eines staatliches Gesamtkonzepts sind, selbst zum Ausdruck gebracht. Sollte also ihre Kraft ausreichen, werden sie mit allen Mitteln versuchen, ihre neosmanischen Träume zu verwirklichen.

Fußnoten:

1 - Im Osmanischen Reich stand die gemeinsame islamische Identität der Bürger*innen im Vordergrund, während die ethnische Zugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielte. Auch gegenüber Mitgliedern des Christentums und des Judentums zeigte sich die osmanische Führung weitgehend tolerant. Diese mussten lediglich eine zusätzliche Kopfsteuer (Dschizya) zahlen. Weitere religiöse Identitäten (Aleviten, Êzîden etc.) wurden hingegen nicht auf gleicherweise geduldet.

2 - Das laizistische Selbstbild der Republik Türkei ist deshalb trügerisch, weil kurz nach der Gründung der Republik das Ministerium für Religionsangelegenheiten (türk. Diyanet) geschaffen wurde. Dessen Aufgabe besteht bis in die Gegenwart darin, eine staatlich kontrollierte Auslegung der sunnitisch-islamischen Glaubensvorstellung zu verbreiten. Ähnlich wie ethnisch nicht-türkische Bevölkerungsgruppen in der Republik türkisiert werden sollten, ist das Diyanet damit beauftragt worden, vom sunnitischen Islam abweichende Glaubensvorstellungen zu assimilieren.

3 - Später haben die USA ihre Politik der grünen Generation durch das Konzept des »gemäßigten Islam«als Gegenstück zum radikalen Islam reformiert.

4 - Die Ergenekon-Gruppe gilt als ein Kreis ultranationalistischer Kemalisten, die innerhalb des Militärs und des sogenannten Tiefen Staates organisiert ist. Die AKP hat zunächst mit den Ergenekon-Prozessen zwischen 2007 und 2013 versucht, die Gruppe auszuschalten, weil diese als Gefahr für die eigene Machtstellung erachtet wurde. Nach dem Zerwürfnis mit dem Gülen-Orden suchte die AKP allerdings den Schulterschluss mit der Ergenekon-Gruppe. Ab 2016 wurden zahlreiche Mitglieder der Gruppe aus der Haft entlassen. Seither ist von einem inoffiziellen Machtbündnis zwischen der AKP, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der Ergenekon-Gruppe an der Spitze des türkischen Staates die Rede.


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020