Der Blick zurück – Teil II

Eine Internationalistin in Rojava spricht über ihre Überzeugungen und über die Perspektive linker Bewegung in Deutschland

Solidarität heißt WiderstandFür Forschungszwecke berichteten internationalistische Aktivist*innen in Rojava über ihre Arbeit in der Selbstverwaltung, über ihr Engagement in der kurdischen Bewegung und über ihren Lebensweg und die Beweggründe, die sie nach Rojava geführt haben. Wir veröffentlichen hier das Interview mit der deutschen Aktivistin Rozerîn, in dem sie ihren politischen Werdegang und ihre Überzeugungen schildert und die Praxen und Perspektiven linker Bewegungen in Deutschland mit der kurdischen Bewegung vergleicht. Das Interview mit ihr führte Çekdar, die redaktionelle Überarbeitung Sasil.

Kannst du vielleicht von deinem Leben erzählen, als biografischer Einstieg? Wo bist du geboren? Wo kommst du her?

Also, ich bin aus Deutschland und da aufgewachsen und habe da angefangen zu studieren. Ich war immer in feministischen Gruppen aktiv und wir haben versucht, alternative Bildungsarbeit zu machen. [...] Es war schon immer so, dass ich gesehen habe, wie viele Sachen völlig absurd laufen, gerade eben in Europa, in dem dortigen System. Ich hatte eigentlich immer das Gefühl: »Okay, es braucht eigentlich was anderes.« Und zwar sowohl in der alltäglichen Art und Weise wie Menschen leben, arbeiten und ihre Beziehungen zueinander gestalten. Ich war in verschiedensten Zusammenhängen und Gruppen und hatte immer das Gefühl, dass es Ansätze gibt und Leute, die unglaublich viel versuchen. Aber ganz oft zerschmettern sich solche Projekte dann wieder, zwei Leute zerstreiten sich und dann ist das ganze Projekt direkt kaputt, weil es keinen Willen dazu gibt, sich tiefer miteinander auseinanderzusetzen oder sich auch mal in gutem Sinne zu kritisieren, um sich weiter zu entwickeln. Stattdessen suchen sich alle irgendetwas anderes, wenn irgendein Problem auftaucht, weil es zu anstrengend ist und sowieso egal. Das ist diese liberale Einstellung, die verhindert, dass Sachen aufgebaut werden, dass die Menschen sich wirklich tief verändern. Das habe ich total viel erlebt und gleichzeitig eben auch, dass in vielen gerade sich als links verstehenden Projekten es total viel um Subkultur geht, eben wie Leute sich anziehen und wie Leute sprechen. Da sagt man ganz schnell was falsches und dann ist es direkt vorbei, weil dort überhaupt keine offene Einstellung existiert. Und gerade an solchen Orten, die sich eigentlich als ein Stück weit befreit verstehen, also irgendwelche sozialen Zentren und solche Orte, dort hatte ich immer das Gefühl: »Okay, so befreit ist das gar nicht.« Da ist viel Subkultur, es ist ganz oft nicht offen, es ist ganz oft überhaupt nicht gesellschaftlich. Es ist ganz oft eher so eine Blase, die sich Leute aufbauen und wo aber nicht viel passiert, weil es diese tiefgehende Auseinandersetzung nicht gibt.[...]

Dann habe ich einige kurdische Menschen kennengelernt, die aus verschiedenen Teilen Kurdistans kamen, um hier zu studieren. Ich hatte also davor schon Menschen kennengelernt, die mit der kurdischen Bewegung zusammen gearbeitet haben. Und ich war besonders von der Frauenbewegung super beeindruckt, weil ich immer das Gefühl hatte, dass die kurdischen Frauen, die ich da kennengelernt hatte, etwas ausstrahlen. Was sie ausstrahlen, ist eine Radikalität auf einer ganz anderen Ebene, so eine große Stärke, die aber nicht diese patriarchale Macho-Stärke ist, sondern so eine Stärke, die in einem tiefen Bewusstsein und in der tiefen Überzeugung liegt und die deshalb auch nicht dogmatisch ist, sondern einfach menschlich. Und das hat mich sehr beeindruckt, dieses Selbstbewusstsein, diese Kampfkraft und ein Stück weit diese Freiheit, die diese Menschen ausgestrahlt haben.

Ich hab dann schon noch mein Studium zu Ende gemacht, aber ich hatte immer das Gefühl, das ist jetzt nicht das Entscheidende. Wenn ich die Konsequenz ziehe aus dem, wie ich die Gesellschaft analysiere, wie ich die gesamte globale Situation analysiere, dann kann ich nicht weiter so in diesem System mitmachen. Selbst wenn man nichts sagt, ist man doch Teil von einer Unterdrückungskultur, ist selbst Teil davon. Und das kann ich nicht mit mir vereinbaren. Ich war in verschiedenen Kollektiven und Projekten und war immer auf dieser Suche nach radikalen Schritten und einer tiefgehenden gesellschaftlichen Veränderung, eben dem Aufbau von alternativen Strukturen, gesellschaftliche Selbstorganisierung und gemeinsames, solidarisches Wirtschaften. Ich habe verschiedenste Menschen kennengelernt und mit ihnen diskutiert, auch über die Ideen, die hier dem Aufbau in Rojava und Nordsyrien zugrunde liegen, also demokratischer Konföderalismus und dessen ideologische Grundlage. Ich habe die Texte von Abdullah Öcalan gelesen, viel darüber diskutiert, viel über die Ideologie der Frauenbewegung und Jineolojî. Ich hatte immer das Gefühl, das ist etwas, das den Sachen, die ich auch gedacht habe und den Analysen, die ich auch hatte, sehr nahe kam. Das brachte auf sehr treffende Art und Weise Perspektiven und Lösungsansätze zusammen, die ich in der deutschen Linken nicht in der Klarheit gefunden habe. Und ich habe gesehen, wie sehr das mit einer Praxis verbunden ist, also in Rojava, in Nordsyrien, in allen Teilen Kurdistans, wie sich die Menschen selbst organisiert haben, den Widerstand organisieren und mit was für einer Radikalität dazu.

Und mittlerweile bin ich seit über einem Jahr hier. Ich lerne unglaublich viel von den Frauen und überhaupt von der ganzen Gesellschaft, von der ganzen Widerstandskraft, die die Menschen haben. Ja, wo in Europa Sachen scheitern, das schaffen die Menschen hier einfach so. Und das während der Situation, dass die ganze Zeit Krieg war, dass die Angriffe vom IS die ganze Zeit anhielten, dann jetzt die Angriffe von der Türkei. Trotz dieser Lage so etwas aufzubauen und so eine Veränderung im Bewusstsein zu schaffen in der Bevölkerung, das ist etwas, was ich sehr, sehr beeindruckend finde. Ich habe nur das Gefühl, ich lerne jeden Tag total viel und die Leute hier denken immer: „Europa ist so krass und alle haben so eine gute Bildung und können alles« – ein ganz absurdes Bild von Europa. Aber als eine Person, die in Europa aufgewachsen ist, habe ich genau andersrum das Gefühl, dass ich ankomme und eigentlich wie ein Kind bin und die wichtigen Sachen überhaupt nicht gelernt habe und unglaublich starke Menschen, unglaublich starke Frauen treffe und unglaublich viel lerne.

Du hast erzählt, dass du in Deutschland schon in verschiedenen kollektiven Strukturen warst. Und hast schon angedeutet, woran es für dich gescheitert ist. Wenn du diese beiden Erfahrungen einander gegenüberstellst, wie würdest du sie vergleichen?

Es gibt in Deutschland super viele Projekte, super viele Leute, die etwas aufbauen wollen, super viele Leute, die kleine Alternativen versuchen. Aber dadurch dass es nicht ein gemeinsames Verständnis davon gibt und dadurch dass es keine gemeinsame Organisierung gibt, die es auch verbindet, habe ich das Gefühl, wird viel wieder vom System aufgesaugt und im schlimmsten Falle sogar einverleibt, dass es quasi mitwirkt als kapitalistische Struktur. Leute beuten sich selber und gegenseitig aus, so dass sich das völlig verkehrt und das, was eigentlich aufgebaut werden sollte, noch schlimmer wird als das, wogegen man das machen wollte. Und es werden ganz oft nur Teilbereiche gesehen und viele Kämpfe in verschiedenen Bereichen bleiben unverbunden und können dadurch gar nicht so eine Kraft entwickeln, weil Teilkämpfe schnell entkräftet werden durch Repressionen.

Ein anderer Punkt ist wirklich auch die Mentalität und die Lebensweise, die man entwickelt, wenn man in Europa oder in Deutschland in einem bestimmten Umfeld aufwächst. Das ist einfach sehr liberal in dem Sinne, eigentlich nicht das ganze Wohl der Gesellschaft im Blick zu haben oder die Entwicklung auch von anderen Menschen, sondern zum einen sehr individualistisch zu denken und zu handeln und zum anderen unverantwortlich zu handeln, wie man gerade Lust hat, aber nicht zu sehen, was für Konsequenzen das hat, was für eine Verantwortung man hat und was das eigene Handeln bedeutet für andere Menschen. Und da sehe ich einen sehr großen Unterschied zu dem Ansatz von den Frauen hier, wo es viel darum geht, eben wirklich kollektiv zu denken und zu handeln. Menschen hier denken gemeinsamer und stellen sich überhaupt nicht so stark in den Mittelpunkt die ganze Zeit. Wenn es darum geht, ein Problem zu lösen oder was aufzubauen, geht es viel mehr darum zu handeln, wie es für das gemeinsame Weiterkommen wichtig ist. Und wenn man dann zwischendurch was macht, worauf man in dem Moment keine Lust hat, dann mit dem Bewusstsein, dass es alle gemeinsam weiterbringt. So kann man eben viel mehr erreichen. Das ist etwas, was hier viel stärker ist, weil diese gemeinschaftlichen Strukturen viel lebendiger sind.

Das ist auf jeden Fall eine Sache. Und natürlich das, was hier in den letzten Jahren aufgebaut wurde, mit der Selbstorganisierung von den Kommunen über die verschiedenen Ebenen bis hin zur Föderation. Dass es überall die Frauenorgansierung gibt, dass solche Probleme überhaupt in der Gesellschaft gelöst werden, was es von Anfang an gab, diese Gerechtigkeitskommissionen und in den Mala Jins, in den Frauenhäusern, das ist eine gesellschaftliche Organisierung, ein gesellschaftlicher Aufbau. Zum Beispiel die Kommunen, die es überall gibt, sind miteinander verbunden in einem gemeinsamen sozialen, politischen Projekt, was aufgebaut und verteidigt wird. Und ich glaube, dieses Bewusstsein, dass es alles zusammengehört, dass man zusammen was aufbaut und verteidigt, dass man das auf einer gemeinsamen Grundlage macht – das ist etwas, was sehr fehlt in Deutschland oder in Europa. Und ich glaube, das ist, was eben die Stärke ausmacht von dem was hier passiert.

Zu diesem Punkt mit der Problemlösung: Wenn in Deutschland ein Konflikt auftaucht, dann hat niemand die innere Kraft, das zu lösen. Und hier, also jetzt auch im Dorf, ist es üblich, sich gegenseitig auf eine positive Art und Weise zu kritisieren und zu reflektieren und wirklich Kritik an den eigenen Freundinnen und Freunden zu üben; das aber auf eine liebevolle Art und Weise und mit dem Willen, dass sich die andere Person verändern kann. Und in diesem gegenseitigen Kritisieren wird eine Verantwortung gesehen. Wenn ich jemanden kritisiere, ist es zum einen eine Verantwortung, weil sie sonst unter Umständen gar nicht weiß, wie ihr Handeln wirkt. Und zum anderen ist es eine Verantwortung, die Person dabei zu unterstützen, sich zu verändern. Wenn diese Schwierigkeiten, diese Widerspräche auf sich genommen werden, um weitergehen zu können und nicht so schnell den Atem zu verlieren und wenn es schwierig wird, sich was anderes zu suchen, wie es in Deutschland oft ist, ist viel mehr Langatmigkeit da und deshalb kann viel mehr geschafft und aufgebaut werden.

Was hat dazu geführt, dass du auf eine Suche gegangen bist und was konkret hast du gesucht?

Also ein sinnvolles Leben, im Sinne von zu wissen wofür ich lebe, wofür wir alle leben.

Dieses Gefühl, dass Menschen und eigentlich alle Lebewesen ein riesiges Potential haben. Menschen können eigentlich unglaublich schön leben oder Sachen schaffen, die unglaublich schön sind. So wie wir gerade alle leben, wie die Wirtschaft, wie die Arbeit, wie alles organisiert ist, das unterdrückt dieses Potential, was eigentlich im Menschen liegt, dieses Streben nach Freiheit und diese Kraft und diese Kreativität, oder lenkt sie in komische Bahnen. Das als Gefühl hatte ich schon ganz lange. Dazu kam die Analyse, wie global Wirtschaft organisiert ist, zu wessen Gunsten – eben wie sich das neoliberale System entwickelt, wo es ein Stück weit scheint, als gäbe es gar keine hierarchischen staatlichen Strukturen, die irgendwie wirken, wo aber viele Machtstrukturen einfach nur verdeckt sind. Diese krasse Marktlogik, diese kapitalistische Logik ist Teil vom Alltagsleben, Teil vom Denken geworden, dass Menschen damit eins werden, dass die Menschen diese Unterdrückung in sich selbst leben. Das nimmt ganz absurde Züge an, gerade, wenn man sieht, was für Auswirkungen das System in manchen Teilen der Welt hat. Das sind verschiedene Ebenen, die zusammengekommen sind. Dieses Gefühl war: »So wie Leute in Deutschland leben, das kann es doch nicht gewesen sein.« Wir können doch nicht alle arbeiten gehen und uns dann abends betrinken und am Wochenende zur Party gehen und zwischendurch irgendwelche politische Treffen machen. Also einmal diese Ebene der alltäglichen Lebensform und dann natürlich diese Systemebene, dass man im globalen Norden, in Europa lebt und dadurch eben Teil von dieser Unterdrückungsstruktur ist, während natürlich gleichzeitig alle Menschen auch die Ausgebeuteten sind. Ich denke mir: Warum sollen Menschen Teil von so einem System sein, wenn wir all unsere Kraft dafür geben können, was Anderes zu bauen und Teil von was Anderem zu sein. Wenn es jetzt so weiter geht wie es gerade läuft, das geht eigentlich nicht. Wir brauchen andere Ansätze, wir brauchen eine andere gesellschaftliche Bewegung, die Antworten auf diese Situation geben kann. Es ist offensichtlich, dass viele neue faschistische Gruppen sich bilden, die auch Antworten auf die gleichen Fragen suchen, aber nicht in ihrer ganzen Tiefe analysieren und deshalb zu üblen Fehlschlüssen kommen, sich aber dafür richtig gut organisieren gerade. Ich glaube, dass es eine antifaschistische, eine menschliche, eine sinnvolle Antwort und eine Bewegung in dem Sinne braucht. Und ich glaube, das es tatsächlich an unserer Generation liegt, genau das aufzubauen und genau das weiterzubauen.

Siehst du hier Lösungen, die auf das reagieren, was du kritisierst? Und wenn ja, wie würdest du sie beschreiben?

Ja. Also ich sehe unglaublich viele Lösungsansätze und inspirierende Schritte, die die Menschen hier gegangen sind. Natürlich zum einen die ganze gesellschaftliche Selbstorganisierung, dass Menschen ihr eigenes Leben, ihre eigene Region, ihre eigene Nachbarschaft, die Entscheidungen selbst in die Hand nehmen, sich in den Versammlungen, in den Nachbarschaften organisieren. Das ist ein Punkt. Die eben nicht so ein hohles Staatsgebilde ist, sondern vom Bedarf der Bevölkerung ausgeht. [Rozerîn berichtet von einer Reihe von Kommunen und Kooperativen, und zählt positive und negative Beispiele auf]

Grundlegend ist natürlich auch eine gemeinsame Philosophie, die ideologische Grundlage, die ja da ist. Die aus den Diskussionen der kurdischen Bewegung kommt, davon, was von Öcalan aufgeschrieben wurde und was viel diskutiert wird in der Bevölkerung, und zwar nicht nur durch gebildete Leute, sondern auch in den Dörfern. Da ist unglaublich viel Diskussion, unglaublich viel Bildung, unglaublich viel Bewusstwerdung. Ich glaube, dass dieser gemeinsame Bezug auf diese ideologische Grundlage sehr viel ermöglicht.
Da ist auch eine Lösungsperspektive für globale Probleme. Also sowohl was die gesellschaftliche Selbstorganisierung angeht, als auch dass das alles auf ethischen Grundlagen basiert. Und das ist der Punkt: Wie begreift sich eine Gesellschaft? Wie handeln Menschen? Genau dieses Handeln auf einer ethischen Grundlage fehlt ganz oft in Europa. Das ganze kapitalistische System und das System von Nationalstaaten hat sich völlig von der gesellschaftlichen Realität und von der gesellschaftlichen Ethik entfernt. Und das ist etwas, was ich hier ganz anders sehe. Hier hängt viel mehr zusammen, hier wird eben nicht so ein hohler Staatsapparat oder ein kapitalistisches System aufgebaut, sondern es geht immer um die gesellschaftliche Realität und wie man auf dieser gesellschaftlichen Realität heraus das aufbauen kann, was die Gesellschaft und was die Umwelt braucht, um entlang dieser ethischen Werte weiter zu leben und sich weiter zu entwickeln. Ich sehe sehr viele Lösungen und Lösungsansätze da drin und gleichzeitig eine Ermutigung. Ich glaube, dass eben diese grundlegenden Bausteine, diese grundlegenden Werte und Prinzipien, ethischen Grundlagen und Methoden etwas sind, was wir in Europa gerade brauchen und auch in anderen Teilen der Welt.

Was meinst du? Kannst du hier mehr über dich selbst entscheiden und dich selbst verwalten, als in Deutschland?

Ja, auf jeden Fall. Aber das ist ein lustiger Punkt, nicht? Das ist wieder dieses Verständnis von »Was heißt Freiheit, was heißt sich selbst verwalten?«. Dieses Ding in Deutschland ist immer, dass Leute sich frei fühlen, wenn sie in jeder Sekunde an jeden Ort gehen können, in jeder Sekunde in jedem Geschäft alles, was sie wollen, kaufen können. Diese Form von liberaler Freiheit: »Ich bin frei, aber das heißt eigentlich frei von Verantwortung.» Ich kann alles machen, was ich will und ich kann gehen wohin ich will und ich muss mich nicht mit meinen Freundinnen abstimmen, weil «das würde mich ja einschränken». Ich gehe einfach und wenn hinter mir alles zusammenfällt: »Ist ja nicht mein Problem, ist ja meine Freiheit.» Diese Freiheit meint Freiheit von Verantwortung, Freiheit von eigentlich sehr wichtigen Sachen. Und ich habe das Gefühl, wenn ich jetzt Teil von einem Komitee hier bin, dann kann ich nicht einfach gehen, weil ich eine Verantwortung gegenüber den anderen habe, weil ich bestimmte Aufgaben übernommen habe, weil ich Teil davon geworden bin. Aber dadurch bin ich zu ganz anderen Sachen frei. Ich bin frei dazu, mit den anderen etwas aufzubauen. Das gibt so viel Kraft, zu merken, was man gemeinsam schaffen kann und wie wir alle als Teil von diesem Komitee, als Teil von diesem Aufbau, jeden Tag ein Stück weit freier werden und uns gegenseitig freier machen. Da hängt Verantwortung mit zusammen und damit hängt auch zusammen, dass ich nicht einfach sagen kann: »Jetzt habe ich aber Lust, morgen nach Kuba zu fahren, weil – habe ich Lust zu.« Also diese Verantwortung ist ja eine freie Entscheidung, die aus einer Einsicht kommt, eben, dass es notwendig ist. Dieses Individuelle und dieses Gesellschaftliche läuft genau da drin zusammen. Das ist für mich ein viel größerer Schritt, eine viel größere Freiheit tatsächlich als dass ich mir aussuchen kann, ob ich heute chinesisches Essen oder einen Döner kaufe. Diese Form von liberaler Freiheit, wo man sich nie auf irgendetwas festlegen muss, aber auch nie etwas wirklich aufbauen kann, nie wirklich eine tiefe Beziehung mit den anderen Menschen eingehen kann, weil man sich diese Freiheit offen hält, sich jederzeit der Verantwortung zu entziehen, immer diese Tür offen hält. Ich denke, das ist keine Freiheit, sondern Freiheit ist eine gemeinsame Entwicklung, sich in einem gemeinsamen Prozess weiter zu befreien, immer weiter ein sinnvolles Leben wachsen zu lassen.

Du hast mehrmals schon »diese wichtigen Sachen« erwähnt, »diese wichtigen Dinge«. Was meinst du damit?

Das ist eine interessante Frage. Was ist wichtig? Was ist Menschen wichtig? Wofür leben wir? Ich meine, das sind Sachen, wo sich eigentlich alle Gedanken drüber machen. Was ich wichtig finde, ist tatsächlich, wie wir als Menschen auf eine Art und Weise zusammenleben können, die sinnvoll ist. Was für mich heißt, eben als Menschen, als Gesellschaft mit unserer Umwelt, gemeinsam zu wachsen und uns weiterzuentwickeln, immer zu lernen, Beziehungen aufzubauen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen. Eben ein Leben und eine Art und Weise zu Sein zu entwickeln, die nicht zerstörerisch ist, sondern Schönheit entwickelt. Das klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber ich glaube das tatsächlich. Wofür leben wir sonst, wenn nicht dafür? Das ist was, was mir wichtig ist. Dieses wonach ich strebe, ist aber nicht ein Leben, wo keine Konflikte vorkommen und alles ist »voll peaceful« und alles ist ohne Schwierigkeiten. Das wäre völlig absurd und das geht auch nicht. Eher ein Leben und eine Gesellschaft, wo klar ist, dass solche Konflikte bestehen und wo aber genau da drin und dem Immer-Weiter-Gehen, Immer-Weiter-Entwickeln und Immer-Weiter-Streben die Bedeutung des Lebens gesehen wird, für dieses befreite Leben, für diese befreite Gesellschaft.

Ich habe mal irgendwann aufgeschrieben, das ist schon sehr viele Jahre her: »Wahrheit, Freiheit, Liebe«, als Sachen, nach denen ich streben will. Wahrheit, was eben in der Philosophie der kurdischen Bewegung sehr viel vorkommt, dass wir uns unser ganzes Leben lang immer auf einer Wahrheitssuche befinden. Wenn man die Einstellung zum Leben hat, dann wird man nie in so einer Einschränkung stecken bleiben und stehenbleiben, sondern man wird immer weiter versuchen zu verstehen. Dann Freiheit natürlich als Art und Weise zu leben, zusammenzuleben. Da gibt es einen schönen Spruch auf kurdisch: »Heqîqet eşq e û eşq jî jiyana azad e.« Also, Wahrheit ist Liebe und Liebe ist ein freies Leben. Und genau das gleiche mit Liebe. Ich glaube schon, dass wir eine ganz andere Form von Liebe lernen müssen. Eben nicht diese beschränkte Liebe, die in Partnerschaften oder romantischen Beziehungen besteht, sondern eine Form von Liebe, die sich auf die ganze Gesellschaft bezieht und die viel tiefer ist und viel weiter geht. Diese Liebe ist nicht mit Besitzvorstellungen verbunden, sondern mit einer Verantwortung für einander, mit einem Willen einander zu stärken und einander freier zu machen, mit Bewusstsein dafür, was für ein Potential Menschen haben, was an ihnen schön ist oder was sie weiterentwickeln können. So ein Blick auf die Menschen und so eine Form von Liebe ist eine sehr große Antriebskraft. Und ich glaube, dann ist es ein Stück weit eben etwas auf diesem Weg, was man als revolutionären Prozess begreifen kann, weil es so eine tiefgehende Veränderung ist. Ja, das finde ich wichtig.


 Kurdistan Report 213 | Januar/Februar 2021