Deutschland soll sich nicht weiter zum Komplizen von Erdoğan machen
Darauf achten, wem der Tee eingegossen wird
Der Kurdistan Report im Gespräch mit den Müttern und Vätern deutscher »Şehîds«
Mit einem offenen Brief haben sich Angehörige deutscher Gefallener, die in Kurdistan getötet wurden, an die Bundeskanzlerin Angelika Merkel gewendet. Darin beschreiben sie, dass sich ihre Kinder freiwillig engagierten, damit Frauen, Männer und Kinder in einer gerechten Welt leben können. Sie fordern einen Waffenlieferstopp an die Türkei. Außerdem rufen sie die Bundesregierung auf, sich der Beurteilung durch das höchste belgische Gericht (Kassationsgerichtshof) anzuschließen, wonach die PKK keine »terroristische Organisation«, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Wir sprachen mit den Müttern und Vätern von Şehîd Bager Nûjiyan (Michael Panser), Şehîd Şiyar Gabar (Jakob Riemer) und Şehîd Andok Cotkar (Konstantin Gedig) über die Entstehung und Reaktionen auf ihre Initiative.
Wer sind die Angehörigen der deutschen Gefallenen, die Mütter und Väter deutscher »Şehîds«?
Wir Mütter und Väter getöteter deutscher junger Frauen und Männer sind ganz normale Eltern aus der Mitte der Gesellschaft, leben mit unseren Familien oder solo in Reihenhäusern oder Wohnungen auf dem Land oder in Städten. Wir haben unsere Kinder mit Liebe großgezogen und nehmen in vielfältigster Weise am gesellschaftlichen und politischen Leben Anteil.
So gewöhnlich wie wir Eltern sind, so »normal« waren auch unsere getöteten Kinder ‒ mit einem Unterschied: Jedes Kind hat sich aus unterschiedlichen, aber zutiefst humanitären und sozialen Gründen entschieden unter Einsatz seines Lebens dort zu helfen, wo Menschen großer Gefahr und fortgesetztem Unrecht ausgesetzt sind.
Wir denken, alle Eltern können sehr stolz auf ihre Töchter und Söhne sein, wenn sie sich selbständig auf den Weg in ihr eigenes Leben begeben, ausgestattet mit sicherem Gespür für Gerechtigkeit, Fairness, Respekt, Verantwortung und Wahrhaftigkeit!
Wieso haben Sie sich mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewendet?
Frau Dr. Angela Merkel verfügt als Bundeskanzlerin als eines der mächtigsten Staaten der Welt über ein enormes Maß an Macht. Ihre Stimme findet Gehör in der Welt. Frau Dr. Merkel hat Einfluss auf Entscheidungen, um Ungerechtigkeiten zu begegnen und sie zu beenden.
Aber die Bundeskanzlerin spricht nicht über die Şehîds, nicht über die Verbrechen der Türkei in Nordkurdistan, Südkurdistan und Rojava. Ihr derzeitiger Außenminister Maas ist weder einflussreich noch engagiert.
Der vorherige Außenminister Gabriel gab gegenüber seinem türkischen Amtskollegen am 06.01.2018 sogar den çay çocuk (Tee-Jungen). Die »Operation Olivenzweig«, die völkerrechtsbrechende Invasion der nordsyrischen Region Efrîn, begann am 20.01.2018. Der deutsche Außenminister hat den bevorstehenden türkischen Völkerrechtsbruch in Efrîn wohl eher unterstützt als die Türkei glaubwürdig und öffentlich vor dem Bruch des Völkerrechts zu warnen.
Die Bundeskanzlerin erklärte am 13.10.2019 im ZDF (nach dem Start der zweiten türkischen Aggression gegen Rojava am 09.10.2019), sie habe: »... eine Stunde mit dem Präsidenten Erdogan gesprochen. Es gibt natürlich die berechtigten Sicherheitsinteressen der Türkei ...«. Damit übte sie ihre Richtlinienkompetenz (Artikel 65 Grundgesetz) aus mit der Folge, dass die Mitglieder der Bundesregierung, wie auch die EU, nichts Relevantes gegen den fortgesetzten Völkerrechtsbruch der Türkei unternommen haben.
Ihre Entscheidung im Jahr 2015, für die syrischen Flüchtlinge die Grenzen zu öffnen, belegt, dass Frau Dr. Merkels Haltung von ideellen Werten geprägt sein kann. Deshalb ist die Bundeskanzlerin erste Adressatin unseres offenen Briefes. Sie soll wissen: wir sind Eltern aus der Mitte der deutschen Gesellschaft. Wir sehen das Unrecht, das der türkische Staat in Kurdistan fortgesetzt begeht und die Beteiligung unseres Landes daran! Wir ignorieren nicht die dadurch verursachten Sorgen und Nöte der Menschen in Kurdistan! Wir setzen uns dafür ein, dass Deutschland seine Macht für die Stärke des Rechts einsetzt und sich nicht weiter zum Komplizen von Recep Tayyip Erdoğan macht!
Gab es bereits Reaktionen auf Ihren offenen Brief? Wenn ja, von wem und wie sah die Reaktion aus?
Die Bundeskanzlerin hat bis heute keine Eingangsbestätigung geschickt. Es hat den Anschein, als ob der Brief das Schicksal der oft von Frau Merkel praktizierten Politik des Ignorierens ereilen wird.
Aus dem politischen Raum ist am 20.11.2020 eine E-Mail des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der FDP, Dr. Marco Buschmann (MdB), eingegangen. Darin stellt er fest, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei auf einem historischen Tiefpunkt ist. Zuletzt habe die Türkei zum Boykott französischer Produkte aufgerufen. Dies wird als Angriff auf einen engen Partner Deutschlands scharf verurteilt. Es zeige, dass die Türkei sich von unserer Wertegemeinschaft entfernt habe und ein Wandel im Umgang mit diesem Staat notwendig sei.
Ein großes Printmedium hatte nach dem offenen Brief Kontakt zu uns aufgenommen, sich dann aber gegen eine Berichterstattung entschieden.
Obwohl wir Eltern mehr oder weniger alle wissen, dass wir kurzfristig keine positiven Ergebnisse erwarten können, war es uns dennoch wichtig, öffentlich Stellung zu beziehen: Wir ziehen nicht alleine unsere Kreise, wir organisieren uns und suchen Bündnispartner*innen. Veränderungen brauchen Zeit. Wir Eltern haben noch für etliche Jahre Energie und arbeiten uns Stück für Stück voran. So wie unsere Kinder für viele Menschen ein Vorbild sind, wegen ihrer Standfestigkeit, ihres Muts und ihrer Treue zu den Menschen in Kurdistan, so wollen wir für andere Eltern ein Beispiel sein, unterstützen sie und leisten dafür politische Arbeit.
In dem Brief bitten Sie Frau Merkel um Unterstützung für einen »öffentlichen und angemessenen Gedenkort«, an dem Ihrer Kinder für ihren »anerkennungswerten Einsatz« gedacht werden kann. Haben Sie bereits eine Vorstellung von diesem Ort?
Immer wieder überwältigt uns die große Anteilnahme am Einsatz unserer Kinder, die ihr Leben gaben, damit andere eine sichere Heimat haben und in Frieden und Freiheit leben können. Nicht nur Angehörige oder Freund*innen unserer Kinder in Deutschland, sondern auch Internationalist*innen gedenken ihrer. Selbst uns unbekannten Menschen seien sie ein Vorbild, wie wir immer wieder hören. Kurdinnen und Kurden sprechen uns auf unsere Kinder an und betonen, welche Bedeutung der Einsatz der freiwilligen Internationalist*innen für sie und ihr Lebensgefühl sei, denn sie fühlten sich nicht mehr isoliert.
Wir Eltern können gar nicht sagen, wie sehr uns das freut und wie sehr uns dieser Gedanke auch tröstet.
Mehr als angemessen für unsere Kinder wie auch für andere in Kurdistan getötete Internationalist*innen ist eine Erinnerungsstätte auf einem alten, bekannten Friedhof zum Beispiel. Uns schwebt ein künstlerisch gestalteter Bereich vor, der diesen jungen Menschen, aber natürlich auch der Idee, für die sie sich einsetzten, gerecht wird.
Es könnte auch einen virtuellen Gedenkort im Internet gegeben und/oder eine Bild- und Klanginstallation mit den Gesichtern der Gefallenen. Dabei könnten ihre Namen genannt werden (#SayTheirNames). Oder die für Rojava bzw. Kurdistan wichtigen Kernbotschaften wie Revolution, Freiheit für Frauen usw. in verschiedenen Sprachen, vielleicht ergänzt durch besondere Erfolge wie in Kobanê, in Minbic (Manbidsch), in Raqqa ... Eine solche Bild- und Klanginstallation hätte den Vorteil, beliebig oft vervielfältigt zu werden, so dass sie überall auf der Welt zu jedem Zeitpunkt abgespielt werden könnte, auf kleine Wände und auch auf Gebäude projiziert.
Gibt es noch weitere Überlegungen, um Ihren gerechten Forderungen Nachdruck zu verleihen?
Pragmatisch betrachtet bedarf es wohl einer grundlegenden Veränderung im politischen Machtgefüge in Berlin, soll heißen, dass Parteien, die glaubwürdig für die Werte unserer Gesellschaft eintreten, die große Koalition ablösen und auch stärker in Landesregierungen gewählt werden. Das Gute in einer Demokratie ist doch, dass das politische Personal immer nur für vier Jahre gewählt wird.
Damit die Bundeskanzlerin und Parteien realisieren, dass noch mehr Menschen wie wir denken, die darauf achten, wem der Tee eingegossen wird, die sich die politische Zusammenarbeit, die Waffengeschäfte, die finanziellen Förderungen und Bürgschaften usw. genau anschauen, müssen mehr Wählerinnen und Wähler auf unsere Bundestagsabgeordneten zugehen, sie in ihren Bürgersprechstunden besuchen und kritische Fragen stellen. In Bürgerfragestunden der kommunalen Vertretungen können Fragen z. B. zur Qualität deutsch-türkischer Städtepartnerschaften gestellt werden, weil die Türkei als Staat das Völkerrecht bricht und demokratisch gewählte Bürgermeister*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) verfolgt und verhaftet. Es könnten Partnerschaften zu Städten und Regionen in Kurdistan angeregt oder vorhandene unterstützt werden.
Ideen und Botschaften brauchen Zeit, um sich zu verbreiten. Wir Eltern der Şehîds wollen dazu beitragen, Tag für Tag.
Kurdistan Report 213 | Januar/Februar 2021