Ein Rückblick auf 2020

Ein Jahr der Pandemie, der Kriege und des erfolgreichen Widerstands

Songül Karabulut, Nationalkongress Kurdistan (KNK)

Ein Jahr der Pandemie, der Kriege und des erfolgreichen WiderstandsEin weiteres Jahr, bestimmt von Krieg, Chaos, Flucht, Pandemie und Ungewissheit, ist vergangen. Ein weiteres Jahr, das neue Herausforderungen, Veränderungen, Widerstände sowie positive wie negative Entwicklungen mit sich brachte. Wir Menschen haben im Jahr 2020 die Auswirkungen und Folgen des kapitalistischen Systems in allen Bereichen unseres Lebens einschneidender als je zuvor zu spüren bekommen. Es war sowohl ein schlechtes, als auch ein gutes Jahr. Schlecht, weil sich uns das System immer brutaler und aggressiver aufzwingt. Gut, weil endlich mehr Menschen erkennen, dass dieses System als Urheber unserer Probleme nicht in der Lage sein kann, sie zu lösen.

Während Kriege, Flucht und Armut sich nicht auf alle Menschen dieser Erde gleichermaßen auswirkten und die Illusion, davon verschont zu bleiben, stark war, passierte etwas, was fast alle Menschen gleichermaßen betrifft: Die Pandemie Covid-19 breitete sich wie ein Spuk aus, veränderte unser Leben und unsere Gewohnheiten in sehr kurzer Zeit. Ende November 2020, als dieser Artikel verfasst wurde, belief sich die Zahl der Corona-Infizierten weltweit auf 60.397.539, von denen 1.421.352 ihr Leben verloren haben. Das System scheint zu kollabieren und ist bis heute unfähig, die Warnsignale zu erkennen.

Kann eine solche Pandemie ernsthaft losgelöst von dem nur auf Profit fixierten, kapitalistischen System betrachtet werden? Ein System, das alles – egal ob Tier, Umwelt oder Mensch – als Ressource betrachtet und auf dessen grenzenlose Ausbeutung setzt, zerstört die natürlichen Lebensgrundlagen und somit auch unsere Gesundheit.

Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem auch in Europa für alle deutlich wird, dass ökonomische Ungleichheiten und Einkommensdifferenzen über Tod und Leben entscheiden, dass nicht alle Menschen gleich sind, wie immer behauptet wird. Das gilt auch für die so genannten Corona-Regelungen, bei denen einerseits Distanz und Kontaktreduzierung propagiert werden, während andererseits Menschen sich trotz großen Ansteckungsrisikos auf dem Weg zur Arbeit in öffentlichen Verkehrsmitteln drängen müssen, um die Wirtschaft in Gang zu halten.

Die globalen Klimaproteste, die u. a. die politische Agenda bereits im Vorjahr 2019 bestimmten, waren mehr als überfällig. Dieses System mit seinem Zerstörungspotential ist ursächlich für die Pandemie und versucht, sie zur Durchsetzung seiner Interessen zu nutzen. So wie Erdoğan den gescheiterten Putschversuch 2016 in der Türkei als ein Geschenk Gottes bezeichnete, so stellt die Covid-19-Pandemie ein Geschenk Gottes für das kapitalistische System dar. Denn es nutzt die Pandemie, um eine praktisch grenzenlose Kontrolle über die Gesellschaft umzusetzen.

Parallel zu der Covid-19-Pandemie verschärfte sich vor allem für uns Frauen eine weitere Pandemie, die Pandemie der Männergewalt. 2020 war auch ein Jahr, in dem das Leben von Frauen mehr als zuvor in Gefahr war, bedroht durch Staats- und Männergewalt. Nicht allein zum Jahrestag des internationalen Kampftages gegen Gewalt an Frauen wurde die Pandemie mit dem Namen Patriarchat erneut unter die Lupe genommen und ebenfalls als Grundlage des kapitalistischen Systems weiter entschlüsselt.

Nach nun fast einem Jahr der Pandemie scheint die anfängliche Panik und Ungewissheit langsam abgeklungen zu sein. Die Menschen erkennen, dass die Pandemie zu Veränderungen ihres Lebens geführt hat, aber sehen gleichzeitig, dass die Staaten weiterhin an ihrer Agenda festhalten. Sie haben weder ihre Hegemoniekriege eingestellt, noch die Ausbeutung gestoppt. Im Gegenteil: In diesem Jahr sind neue Kriege hinzu gekommen, es wurde weiterhin getötet, die Lebensgrundlagen von Menschen vernichtet und Millionen Menschen vertrieben. Lasst uns die Entwicklungen des Jahres 2020 also etwas näher unter die Lupe nehmen.

Die Zeit nach dem IS: Iran gerät ins Zentrum

Das Jahr begann mit dem US-Raketenangriff am 3. Januar auf den hochrangigen General der iranischen Al-Quds-Brigade, die Teil der iranischen Revolutionsgarde ist. Qasem Soleimani wurde in der Nähe des Bagdader Flughafens auf Anweisung des US-Präsidenten Trump gemeinsam mit dem stellvertretenden Leiter der irakischen Volksmobilisierungskräfte Abu Mahdi al-Muhandis getötet. Dabei handelte es sich um ein sehr symbolträchtiges Attentat. Der Iran drohte mit Vergeltungsmaßnahmen. Trotz gegenseitiger Drohungen und vereinzelter Anschläge blieb ein umfassender Krieg zwischen den USA und dem Iran aus.

Die Jahre zuvor waren bestimmt vom Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS). Das Ende bzw. die Abschwächung dieses Kampfes läutete neue politische Entwicklungen ein. Das Jahr 2020 markiert die Zeit »nach dem IS«, in der die Akteure ihre politischen Prioritäten verschoben. Am 23. März 2019 befreiten die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) al-Baghuz als letztes durch den IS kontrolliertes Gebiet in Syrien und deklarierten somit die territoriale Herrschaft des IS in Syrien für beendet.

Die USA rückten den Iran wieder stärker ins Zentrum ihrer Angriffe und versuchen zunehmend, den Einfluss Irans im Mittleren Osten, d. h. in Syrien und vor allem im Irak, einzudämmen. Angriffe auf iranische Stellungen im Irak und Syrien und umgekehrt fanden im Verlauf des Jahres immer häufiger statt. Der Irak ist ohnehin weit von Stabilität entfernt. Die starke Einmischung von außen schuf ab Mitte 2019 eine zunehmende Instabilität, und das Land wurde ab Oktober 2019 Schauplatz innenpolitischer Auseinandersetzungen. Während Menschen wegen der wirtschaftlichen Probleme und gegen die Korruption der Regierung auf die Straßen gingen, wurde über diesen Konflikt zugleich der Stellvertreterkrieg zwischen USA und Iran ausgetragen. Die USA verstärkte den Druck auf den Irak, um ihn zur Aufgabe seiner Iran-freundlichen Politik zu bewegen. Der Iran wiederum nutzte seinen Einfluss auf die schiitische Bevölkerung, um den US-Einfluss auf die irakische Regierung zu minimieren. Die Forderung, die USA sollen wie versprochen ihre militärischen Kräfte aus dem Irak abziehen, wurde während der Proteste immer lauter. Auch die gegenseitigen Angriffe der beiden Mächte in Syrien und im Irak nahmen zu. Ende Dezember wurde die US-Botschaft in Bagdad von Tausenden Menschen angegriffen, nachdem Einrichtungen der Miliz Kata´ib Hisbollah im Irak und in Syrien von den USA bombardiert worden waren. Die vom Iran unterstützte Miliz kündigte Vergeltung an. Die Angriffe der USA waren wiederum die Antwort auf einen Raketenangriff, der einer militärischen Einrichtung bei Kerkûk im Nordirak gegolten hatte. Infolge der Ausschreitungen in Bagdad trat der irakische Ministerpräsident Adel Abd al-Mahdi im November 2019 zurück. Der Anschlag auf den iranischen General Qasem Soleiman hatte eine starke psychologische Wirkung auf den Iran und die gesamte Region, die zusätzlich durch das verschärfte wirtschaftliche und militärische Embargo gegen den Iran verstärkt wurde. Ziel war und ist es, den Iran zu schwächen und politisch noch weiter zu isolieren.

Während die USA versuchen, den iranischen Einfluss auf die irakischen Schiiten zu schwächen und sie gegen den Iran einzunehmen, versuchen sie, die Sunniten im Irak mit dem gleichen Ziel zu organisieren. Auch die Aktivitäten der USA in der Autonomen Region Kurdistan1 sind anti-iranisch geprägt. Die USA, die bislang in den von der PDK kontrollierten Gebieten militärische Stützpunkte hatten, verlagert diese nun auch in die an den Iran grenzenden Gebiete der YNK. Die PDK2 ist bekannt für ihre intensiven Beziehungen zur Türkei, während die YNK3 eher dem Iran nahe steht. Auch sind die USA bemüht, die Spaltung zwischen den südkurdischen Parteien auszunutzen und die Verbindung zwischen den bereits zusammen agierenden Gruppierungen zu stärken. Der iranische Einfluss im Jemen wiederum soll durch einen Stellvertreterkrieg unter Führung Saudi-Arabiens zurückgedrängt werden. Gemeinsam mit Israel werden auch die Aktivitäten der vom Iran finanzierten Hisbollah-Miliz beobachtet. Iran könnte ihre Stellung in Syrien für Angriffe auf Israel nutzen. In diesem Zusammenhang sollten die Angriffe Israels gegen iranische Stellungen betrachtet werden.

Durch das Normalisierungsabkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain auf der einen und Israel auf der anderen Seite, erhält Israel zugleich volle diplomatische Beziehungen zu Ägypten und Jordanien. Dieser Vorstoß wird als weitere Schutzmaßnahme gegen den Iran bewertet.

Der jüngste Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien beunruhigte den Iran ebenfalls. Dieser Konflikt kann aus iranischer Sicht innenpolitische Auswirkungen haben, da in dem Land sowohl ca. 100.000 Armenier als auch bis zu 10 Millionen Azeris leben. Aber auch außenpolitisch betrachtet der Iran diesen Konflikt als Bedrohung: Im Westen grenzt der Iran an den Irak und die Türkei. Doch nun tut sich auch im Nordwesten des Landes, entlang der Grenze zu Aserbaidschan und Armenien, ein Konflikt auf, der auf den Iran überzugreifen droht.

Der Iran hat durch die Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien an Einfluss gewinnen können. Russland versucht nun zunehmend, ihn wieder aus Syrien zu verdrängen. Die außenpolitische Isolation führt dazu, dass der Iran seine Beziehungen zu China verstärkt und gegenüber Russland abhängiger wird. Innenpolitisch verschärft das Mullah-Regime die staatlichen Repressionen. Es verhaftet, verschleppt und liquidiert Oppositionelle und hält weiterhin an seiner unmenschlichen Hinrichtungspolitik fest. Außerdem steckt der Iran in einer tiefen Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation. Auch ist das Land mit der Corona-Pandemie völlig überlastet.

Der Iran verfolgte die US-Präsidentschaftswahlen mit großer Aufmerksamkeit und war sichtlich erleichtert über den Sieg Bidens. Das Land hofft auf eine Entspannung der Beziehung zu den USA und rief Biden umgehend dazu auf, das Atomabkommen zu reaktivieren.

Irak: Alter Konflikt mit neuer Sprengkraft

Die Situation im Irak hat sich trotz der neuen Regierung seit Mai dieses Jahres nicht im Geringsten stabilisiert. Nach einem fünfmonatigen Machtkampf wurde schließlich der Ex-Geheimdienstchef Mustafa al-Kazimi in Mai 2020 zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Er ist Schiit und gilt als USA-nah. Die ethnische und konfessionelle Vielfalt der irakischen Bevölkerung und das ungeklärte, oft angespannte Verhältnis der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zueinander, bedingt eine stetige Anfälligkeit für die Einflussnahme durch andere Staaten. Das wiederum führt zu Instabilität und häufigem Ausbruch innenpolitischer Konflikte. Außenpolitisch ist der Irak deshalb höchst angreifbar.

Die Beziehungen des Landes zum Iran, den USA, der Türkei und Saudi-Arabien sind höchst widersprüchlich, was sich innenpolitisch in Konflikten zwischen Kurd*innen und Araber*innen sowie zwischen sunnitischen und schiitischen Araber*innen zeigt.

Wegen der Probleme der unterschiedlichen ethnischen und konfessionellen politischen Führungen, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, war das Land eine längere Zeit ohne Regierung. Jede Gruppe wollte einen Kandidaten gemäß der eigenen Interessen an die Macht bringen.

Ein Hauptkonflikt für den Irak ist das Verhältnis zwischen der Zentralregierung und der Regierung der HR. Die HR verlor seit dem Unabhängigkeitsreferendum 2017 an Stärke und ist folglich gezwungen, Zugeständnisse an die Zentralregierung zu machen.

Während es bis zum Referendum weitgehende Autonomierechte für die Region gab, hat sich die Lage seit Ende 2017 deutlich verschlechtert. So schloss die Zentralregierung nach dem Referendum die Flughäfen Silêmanî und Hewlêr für ausländische Flüge sowie die Grenzübergänge zum Iran und zur Türkei. Auch die Ölförderung als Haupteinkommensquelle der Region wurde erschwert. Das alles wiederum beeinflusste den Handel negativ und vertiefte die Wirtschaftskrise. Die HR musste auch die Kontrolle über bestimmte Gebiete – z. B. Kerkûk – die zuvor von ihr verwaltet worden waren, an die Zentralregierung in Bagdad abtreten. Seitdem werden ca. 40 Prozent des südkurdischen Gebietes erneut vom Irak kontrolliert. Gegenwärtig versucht die irakische Zentralregierung, die Kontrolle über alle Grenzübergänge sowie den Grenzhandel zu gewinnen. Es gibt Diskussionen darüber, dass die HR die Ölförderung ebenfalls an die Zentralregierung abtreten und dafür monatlich ein festes Budget aus Bagdad erhalten soll.

Auch ist der politische Status der HR äußerst instabil und brüchig. Seit mittlerweile 20 Jahren ist es den kurdischen Parteien im Nordirak nicht gelungen, ein einheitliches politisches Gebilde zu erschaffen. Das Gebiet ist politisch und administrativ weiterhin zwischen PDK und YNK aufgeteilt. Die PDK dominiert das südkurdische Parlament und die Regierung und betreibt die Politik im Alleingang. Sie versucht auch aus der Schwächung der YNK, vor allem nach dem Tod ihres Gründers Celal Talabanî, Nutzen zu ziehen und die eigene Macht auszuweiten. Die PDK führt diplomatische Gespräche und ratifiziert Abkommen unter Ausschluss anderer Parteien. Dadurch entwickelt sich die Autonome Region Kurdistan immer mehr zu einem Ein-Parteien-System. Die HR kann ihre hohe Verschuldung nicht abbauen. Das Geld, das die Zentralregierung zur Auszahlung der Gehälter zur Verfügung stellen müsste, wird oft zurückgehalten und zur Durchführung eigener Interessen eingesetzt. Wenn das Geld einmal an die HR überwiesen wird, wie es vor einigen Monaten der Fall war, werden mit den seit Monaten nicht ausgezahlten Gehältern die Schulden beglichen. Es ist ein Teufelskreis, der immer neue Abhängigkeiten produziert. Je mehr die PDK innenpolitisch in Bedrängnis gerät, desto größer wird ihre Abhängigkeit von äußeren Kräften. Der Einfluss der Türkei auf die HR ist groß. PDK und AKP sind voneinander abhängig. Der Preis dieser Beziehung ist für die Kurd*innen hoch, denn sie basiert darauf, die erkämpften Errungenschaften der Kurd*innen zu opfern. Wie sonst ist die Beziehung der kurdenfeindlichen AKP zu einer kurdischen Partei zu erklären. Die AKP benötigt die PDK, um sie gegen die Kurd*innen einzusetzen. Das tut sie sowohl in Nordsyrien, als auch gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei und die Befreiungsbewegung insgesamt.

Mit der Unterstützung der USA, Frankreichs und der UN kam es zu einem Abkommen zwischen der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung bezüglich der Zukunft des êzîdischen Kerngebietes Şengal im äußersten Nordwesten des Iraks. Dieses Abkommen erfolgte einige Monate, nachdem Êzîd*innen, die 2014 während des Genozids des IS ihre Heimat verlassen mussten, nach Şengal zurückgekehrt waren. Dass sie trotz ihrer grauenhaften Erfahrungen zurückkehrten, ist sicherlich dem Widerstand derjenigen Menschen zu verdanken, die nicht geflüchtet sind und ihre Selbstverwaltung mitsamt eigener Selbstverteidigungskräfte aufgebaut und institutionalisiert haben. Genau diese Errungenschaften werden mit dem Abkommen zwischen Hewlêr und Bagdad angegriffen. Die Vereinbarung sieht vor, das Gebiet Şengal der Zentralregierung zu unterstellen und einen Bezirksgouverneur zu ernennen. Mit dieser Vereinbarung soll es der PDK gelingen, in Şengal wieder Fuß zu fassen, nachdem sie 2014 ihrer Verantwortung, die Bevölkerung zu schützen, nicht nachkam und sie einem Genozid aussetzte. Die Widerstandseinheiten der Êzîd*innen, die vor Ort mithilfe der PKK aufgebaut wurden, sollen laut Abkommen aufgelöst werden, d. h die Bevölkerung soll der Möglichkeit beraubt werden, sich selbst zu verteidigen. Damit soll erneut eine Forderung der Türkei erfüllt werden. Die Türkei hat immer wieder tödliche Drohnenangriffe auf die lokalen Widerstandseinheiten YBŞ4 und YJŞ5 in Şengal durchgeführt.

Südkurdistan: Türkei versucht, die Pêşmerga gegen die Guerilla einzusetzen

Der türkische Staat führte zwar schon seit Beginn des bewaffneten Kampfes 1984 immer wieder grenzüberschreitende Operationen im Nordirak gegen die PKK durch, aber er intensivierte sie im Laufe der 90er Jahre immer weiter. In den 90ern gelang es der Türkei wiederholt, die südkurdischen Parteien YNK und vor allem die PDK an den eigenen Militäroperationen gegen die PKK aktiv zu beteiligen. Das Abkommen von Ankara 1995 oder das Abkommen von Washington 1997 wurden zu diesem Zwecke geschlossen.

Seit März 2020 führt die Türkei einen Besatzungskrieg in dem von der Guerilla kontrollierten südkurdischen Gebiet Xakurke durch. Im Mai 2020 wurde diese Operation in »Operation Adlerkralle« umbenannt und auf Heftanîn, Metîna und Gare ausgeweitet. Sie dauert bis heute an. Nachdem die Türkei trotz massiver technischer Überlegenheit ihre Besatzung nicht wie vorgesehen durchsetzen konnte, versucht sie nun, die PDK auf ihrer Seite gegen die Guerilla einzusetzen. Mitte April wurden PDK-Einheiten in Zînê Wertê unter dem Vorwand stationiert, die Grenze solle wegen der Corona-Pandemie geschützt werden. Die Stationierung dort ermöglicht die Kontrolle über den Zugang in das Guerillagebiet im Qendîl-Gebirge, was für die PKK einer Kriegserklärung gleichkommt. Nachdem das Vorhaben schnell offensichtlich geworden war und sich starke Proteste gegen das Vorgehen der PDK unter der kurdischen Bevölkerung entwickelten, versuchte die PDK ab Oktober durch Falschmeldungen über angebliche Anschlagspläne gegen ausländische Vertretungen, die PKK zu kriminalisieren und zugleich weiter ihre Kräfte in den Guerrillagebieten zu stationieren. Kaum zu glauben ist, wie die PDK – eine kurdische Partei – behauptet, für die Drohnenangriffe der Türkei auf die Bevölkerung in Südkurdistan sei die PKK verantwortlich. Die PDK legitimiert mit solchen Aussagen den Krieg der Türkei gegen die Kurd*innen. Zwar konnte bislang aufgrund der Zurückhaltung der PKK ein größerer militärischer Zusammenstoß zwischen der PDK und PKK verhindert werden, aber wie lange das weiter möglich sein wird, ist ungewiss, da die PDK weitere militärisch Stützpunkte in den von der Guerilla kontrollierten Medya-Verteidigungsgebieten ausbaut.

Es scheint so, als sei die PDK dabei sich selbst aufzugeben, weil sie von der Türkei davon überzeugt worden ist, gemeinsam mit ihr die PKK besiegen zu können. Außer der PDK hat keine andere politische Kraft im Nordirak ein Interesse daran, für die Türkei gegen die PKK in den Krieg zu ziehen. Vielen ist die daraus resultierende Gefahr sehr bewusst. Die Kurd*innen erkennen, dass sich der angebliche Kampf gegen die PKK in Wahrheit gegen alle Kurd*innen richtet und zu großen Verlusten führen wird. Die PDK hofft, durch die Schwächung der PKK ihre Macht in allen Teilen Kurdistans ausbauen zu können. Aufgrund ihres fehlenden Geschichtsbewusstseins ist sie davon überzeugt, nur verschont zu bleiben, wenn sie der Türkei zur Seite steht. Doch das Bewusstsein der Bevölkerung hat sich im Lauf der vergangenen Jahre so stark entwickelt, dass ein innerkurdischer Kampf praktisch keine Unterstützung findet.

Syrien: Die Zeit nach dem »Islamischen Staat«

Während die territoriale Herrschaft des IS in Syrien beendet wurde, nahm die Forderung – angeheizt von Russland und dem Assad-Regime – zu, die USA solle ihre Kräfte aus Syrien abziehen. Russland erklärte, das Regime habe es zuhilfe gerufen, weshalb die russische Präsenz legitim sei. Die USA hingegen habe keinerlei Legitimation dafür, sich in Syrien aufzuhalten. Der US-Präsident Trump hatte als Wahlversprechen den Rückzug der US-Soldaten aus dem Irak sowie aus Afghanistan angekündigt und drohte folglich immer wieder mit dem Abzug der Soldaten. Doch als Trump nach dem Sieg über den IS im Alleingang den Rückzug seiner Soldaten aus Syrien ankündigte, war klar, dass der Türkei grünes Licht für einen weiteren Besatzungskrieg gegeben werden sollte. Der US-Sonderbeauftragte Brett McGurk trat zurück, und zu seinem Nachfolger wurde der ehemalige US-Botschafter in Ankara James Jeffrey ernannt. Damit begann auch die verstärkte Unterstützung für die aggressive antikurdische Politik der AKP-Regierung. Bereits seit Längerem hatte die Türkei mit einem Angriff auf Nordsyrien gedroht und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Am 9. Oktober 2019, also genau am Jahrestag des internationalen Komplottes gegen den kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan 1998, wurden schließlich die Städte Girê Spî und Serêkaniyê angegriffen. Die USA, die durch den Abzug ihrer Truppen die Besatzung erst möglich gemacht hatte, griff erst nach Wochen diplomatisch ein und handelte einen Waffenstillstand auf Kosten der nord- und ostsyrischen Selbstverwaltung aus. Auch auf eine sogenannte »Sicherheitszone« der Türkei hatten sich die USA, UNO und Russland zuvor geeinigt. Trump schämte sich kurz darauf nicht, zu erklären, das Öl in Deir ez-Zor sei trotz der Besetzung weiterer Teile Nordsyriens durch die Türkei gesichert.

Die Türkei verstärkte im Verlauf des Jahres auch ihre Drohnenangriffe auf Rojava. So tötete am 23. Juni 2020 eine türkische Drohne im Dorf Helîncê bei Kobanê gezielt die Vorstandsmitglieder der kurdischen Frauenbewegung Kongreya Star Zehra Berkel (30) und Hebûn Mele Xelîl sowie Amina Waysî, die 60-jährige Besitzerin des bombardierten Hauses. Dieser Angriff ist ideologisch motiviert: Die Frauenbewegung ist die Hauptsäule des libertären Systems in Nord- und Ostsyrien. In diesem Jahr wurden zudem zum ersten Mal in einem UN-Bericht systematische und koordinierte Kriegsverbrechen in den von der Türkei besetzen Gebieten Nordsyriens angeprangert.

Die Türkei nutzt den Machtkampf zwischen Russland und den USA, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Sie agiert als eine Regionalmacht, die von den Widersprüchen der Hegemonialmächte profitiert. Die USA versuchen wiederum, die Türkei in Syrien sowohl gegen Russland, als auch gegen die Kurd*innen einzusetzen. Während sie die Türkei vor allem in Idlib im Kampf gegen Russland und das Regime unterstützen, setzen sie den türkischen Staat auch als Mittel gegen die Kurd*innen ein, um sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Die USA machen der Türkei auch immer wieder Zugeständnisse, weil sie das Land als Gegengewicht zum Iran an ihrer Seite behalten möchten. Zu diesen Zugeständnissen gehört auch das aktuelle Vorgehen gegen Şengal und das internationale Schweigen zu grenzüberschreitenden Militäroperationen der Türkei in Südkurdistan.

Nachdem weitere Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung in Nordsyrien besetzt wurden, begann auf Initiative der USA ein innerkurdischer Dialog. Zuerst schlossen sich 25 kurdische Parteien und Organisationen, die beim Aufbau der demokratischen Autonomie in Rojava beteiligt sind bzw. diese unterstützen, unter dem Namen »Parteien der geeinten Nation Kurdistan« (PYNK) zusammen. Daraufhin traten die PYNK mit dem »Kurdischen Nationalrat« (ENKS), bestehend aus 12 der demokratischen Selbstverwaltung ablehnend gegenüberstehenden Gruppen, in Verhandlungen. Der ENKS steht der PDK und der Türkei nahe. Es geht ihm um eine Aufteilung der Macht in Nordsyrien. Folglich beansprucht er unabhängig von seiner tatsächlichen politischen Schwäche die Hälfte der Führungspositionen in der Administration. Er spricht sich zudem gegen Bildung in der Muttersprache Kurdisch aus und lehnt das System des Ko-Vorsitzes ab. Der Ko-Vorsitz ist eine kurdische Errungenschaft für alle Frauen, weil sie die gleichberechtigte Teilnahme der Frauen in allen Bereichen vorsieht. Während der ENKS versucht, nach dem Vorbild im Nordirak eine Aufteilung der Macht zu erreichen, versucht die PYNK, durch die Schaffung nationaler Einheit die Errungenschaften des kurdischen Volkes zu sichern und eine externe Einflussnahme zu verhindern. Mithilfe des ENKS wird auch die Forderung formuliert, alle Kurd*innen, die nicht aus Rojava stammen, sollten das Land verlassen. Die freiheitliche Linie der kurdischen Bewegung in Rojava soll durch diesen Dialog zerschlagen und die Kurd*innen in Syrien zu Handlangern der USA gemacht werden. Dieses Ziel teilen neben den USA, Russland und der EU auch die regionalen Mächte Irak, Iran und die Türkei – und natürlich auch die PDK.

Russland wiederum versuchte nach der Besatzung von Girê Spî und Serêkaniyê, die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens mit dem Regime ins Gespräch zu bringen, um die Selbstverwaltung ohne Zugeständnisse zur Kapitulation zu zwingen. Darum war der Dialog von vornherein zum Scheitern verurteilt. Regimevertreter rufen von Zeit zu Zeit die Kurd*innen dazu auf, sich unter die Kontrolle des Regimes zu begeben. Im Jahr 2020 wurde die kurdische Befreiungsbewegung neben dem Iran ins Zentrum der Angriffe gerückt. Mit Hilfe der Türkei, des ENKS und der PDK, des syrischen Regimes, Russlands und der USA soll die demokratische Selbstverwaltung bestenfalls zu einem Charakterwandel und im schlechtesten Fall zur totalen Kapitulation gezwungen werden.

Neben Nord- und Ostsyrien bleibt auch Idlib ein Kriegsschauplatz. Seit Jahren versucht das syrische Regime mithilfe Russlands, die Region Stück für Stück unter seine Kontrolle zu bringen. Mit den Verhandlungen in Astana und Sotschi wurde genau darauf hingearbeitet. Das Ziel des Astana-Prozesses war es, alle dschihadistischen Gruppen in Syrien an einem Ort zu versammeln, um sie dort leichter bekämpfen zu können. Genau das geschah in diesem Jahr in Idlib. Die Türkei versuchte, als Schutzherrin der dschihadistischen Gruppen, sie für die Durchsetzung der eigenen Interessen zu nutzen und trug zum Rückzug der Dschihadisten aus Ghouta, Hama, Homs und Aleppo nach Idlib bei. Idlib ist nach neun Jahren Bürgerkrieg in Syrien die letzte »Rebellenhochburg«, die von den Regierungstruppen auch mit Unterstützung Russlands und nach mehreren Versuchen immer noch nicht erobert werden konnte. Die Türkei hat in der Region militärische Beobachtungsposten installiert und unterstützt diverse Milizen. Im März 2020 handelten Russland und die Türkei eine immer wieder unterbrochene Waffenruhe für Idlib aus. Im Oktober 2020 führte Russland einen schweren Angriff auf ein Ausbildungslager der pro-türkischen Rebellengruppe Faylak al-Sham in Idlib durch. Die Verhandlungen Russlands und der Türkei sind auch mit den Entwicklungen an anderen Fronten wie Libyen oder Aserbaidschan verbunden. Welche Vorteile mit dem Verkauf Idlibs für die Türkei verbunden sind, werden wir sehen.

Mitte des Jahres verhängte die USA das neue Sanktionspaket »Caesar Syria Civilian Protection Act«, mit dem das syrische Regime in die Knie gezwungen werden soll. Das Land ist ohnehin durch den Krieg weitgehend zerstört und soll zudem nun einem Wirtschaftskollaps ausgesetzt werden.

Die Türkei und Russland können trotz ihrer Widersprüche taktisch zusammenarbeiten. Russland versucht, den NATO-Staat Türkei in Widerspruch zu den Interessen der USA und der EU zu bringen. Das ist zu einem gewissen Grad sowohl in Syrien gelungen, als auch im Zusammenhang mit dem Verkauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400. Sowohl Russland als auch die USA benutzen die Türkei, um den Mittleren Osten zu destabilisieren. Durch die Türkei werden Konflikte angeheizt wie z. B. im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien oder in Libyen, um vor Ort Fuß fassen zu können. Das ist auch der Grund dafür, dass trotz Kritik und Widersprüchen das AKP-MHP-Regime am Leben gehalten wird.

Der 3. Weltkrieg dehnt sich geografisch aus

Während die Kriege in Syrien, Irak und Iran andauern und sich unmittelbar gegenseitig beeinflussen, bestimmte der Krieg in Libyen ebenfalls die politische Tagesordnung. Auch Libyen erlebte infolge des Arabischen Frühlings einen tiefen Umbruch, dessen Wirkung bis heute anhält. Nachdem der damalige Machthaber Muammar al-Gaddafi am Ende einer internationalen Militärintervention im Oktober 2011 ermordet wurde, entstand ein Machtvakuum, das 2014 das Land in einen Bürgerkrieg führte. Seither ist Libyen quasi in einen westlichen und einen östlichen Machtbereich aufgeteilt. Die Hauptstadt Tripolis wird von Premierminister Fayiz as-Sarradsch regiert, im Osten hat General Chalifa Haftar das Sagen. Auch hier haben unterschiedliche ausländische Mächte wie die Türkei, Katar, Frankreich, Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate rivalisierende Gruppen politisch und militärisch aufgerüstet und z. T. auch Söldnertruppen geschickt, um ihre Interessen in Libyen durchsetzen zu können. Die militärische Unterstützung Erdoğans für Sarradsch sowie der Abzug der Gruppe Wagner, ein privates russisches Sicherheits- und Militärunternehmen, haben den Krieg zugunsten von Sarradsch gewendet.

Im Oktober 2020 vereinbarten die libyschen Konfliktparteien einen Waffenstillstand. Die Verhandlungen dauern weiterhin an. Bei den ersten Gesprächen im Januar in Berlin wurde der Grundstein für den aktuellen Waffenstillstand gelegt. Später folgten Gespräche in Genf und zuletzt Anfang November in Tunesien, um die Neuordnung Libyens auf diplomatischem Weg vorzubereiten. In Tunesien wurden angeblich Wahlen für den 24. Dezember 2021 festgelegt. Doch bis dahin ist noch ein ganzes Jahr hin und viele zentrale Aspekte sind weiterhin unklar. Niemand glaubt wirklich daran, dass die ausländischen Akteure ihre militärischen Aktivitäten in Libyen einstellen werden – und das, obwohl dies im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens gefordert wurde. Libyen wird uns daher auch im neuen Jahr beschäftigen.

Die Interessen der internationalen Akteure in Libyen konzentrieren sich in erste Linie auf die Kontrolle der dortigen Öl- und Gasvorkommen. Zudem geht es um die geostrategische Kontrolle Nordafrikas. In Libyen lagern die größten Ölreserven Afrikas. Zudem verfügt das Land über riesige Gasvorräte. Die Türkei hat mit der libyschen Übergangsregierung einen Vertrag abgeschlossen, mit dem sie sich Öl und Gas im Mittelmeer sichert und im Gegenzug Militärhilfe leistet. Mit dem Abkommen wurden die Seegrenzen der beiden Staaten modifiziert, demnach befinden sich nun zusätzliche Erdgasfelder vermeintlich auf türkischem Seegebiet.

Die Türkei ist das Land, das vom Arabischen Frühling vor allem aufgrund seiner islamischen Ausrichtung profitieren wollte. Die Türkei instrumentalisiert damit sowohl das osmanische Erbe als auch die Religion. Die AKP setzt hierbei vor allem auf die Muslimbrüder, denen sie ideologisch verbunden ist. Die Unterstützung der Muslimbrüder hat zusammen mit der aggressiven Expansionspolitik der Türkei im Lauf des Jahres zur Stärkung eines anti-türkischen Bündnisses zahlreicher arabischer Länder geführt. So rief der Chef der saudischen Handelskammer im Oktober zu einem Boykott türkischer Waren auf; weitere arabische Staaten positionieren sich gegen die Türkei. Offizielle Kritik ist u. a. aus Saudi Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Syrien und dem Irak zu vernehmen. Infolge ihrer regionalen, immer expansiveren Hegemonialpolitik vertieft sich daher die Isolation der Türkei zunehmend.

Ein neuer alter Konflikt im Südkaukasus: Arzach/Bergkarabach

Zusätzlich zu all den oben erwähnten ohnehin seit Jahren anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen mündete Ende September 2020 ein alter Konflikt in einen Krieg: Aserbaidschan griff am 27. September die Region Arzach/Bergkarabach an. Arzach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wurde aber bisher von Armenien kontrolliert. In Arzach leben überwiegend christliche Armenier. Ein Ausbruch dieses Konflikts war schon lange absehbar: einerseits konnte er trotz der Bemühungen der 1992 einberufenen Minsk-Gruppe der OSZE nicht gelöst werden und andererseits wurde Aserbaidschan in der Zwischenzeit von Ländern wie Russland, Israel und der Türkei massiv aufgerüstet.

Auch hierbei spielt Öl eine wesentliche Rolle. Israel bezieht z. B. den Großteil seiner Ölimporte aus Aserbaidschan und liefert im Gegenzug großzügig militärisches Material. Etwa 60 % der aserbaidschanischen Rüstungsimporte kommen aus Israel. Die Türkei gehört zu den Ländern, die Aserbaidschan maßgeblich auf diesen Besatzungskrieg vorbereitet haben. Daher betrachtete die Türkei diesen Krieg als ihren eigenen und engagierte sich entsprechend. Militärisch, geheimdienstlich, politisch und diplomatisch wurden alle zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt. Die Türkei schickte wie in Libyen auch in diesen Konflikt dschihadistische Söldner, die für Aserbaidschan kämpften und starben. Äußerungen wie »Bruderstaat Aserbaidschan« oder »Türkei und Aserbaidschan sind zwei Staaten, aber eine Nation« unterstreichen, welche Bedeutung Aserbaidschan für die Türkei hat: Aserbaidschan ist ein Teil des türkischen Traums einer »Großtürkei«. Eine Verbindung zwischen Aserbaidschan und den Turkmenen würde den geopolitischen Einfluss der Türkei im Südkaukasus deutlich ausbauen. Auch stellt das erdölreiche Aserbaidschan für die Türkei einen bedeutenden wirtschaftlichen Faktor dar.

Für den Iran hat dieser Konflikt sowohl eine außenpolitische als auch innenpolitische Bedeutung. Im Iran leben sowohl 100.000 Armenier als auch 15 Millionen Aserbaidschaner. In dem Nachbarland leben damit mehr Aserbaidschaner als in Aserbaidschan selbst. Die Regierung in Teheran will vor allem verhindern, dass der Konflikt auf die Gesellschaften im Iran übergreift. Obwohl das schiitische Aserbaidschan und der Iran geschichtlich und religiös mehr Gemeinsamkeiten haben, steht der Iran politisch Armenien näher.

Im Iran ist die Befürchtung groß, Aserbaidschan wolle mithilfe der USA und Israel den Iran zerschlagen, um die iranischen Provinzen West- und Ostaserbaidschan seinem eigenen Territorium einzuverleiben. Iran und Armenien haben trotz unterschiedlicher religiöser Realitäten ein gemeinsames Interesse daran, den Einfluss der Türkei im Südkaukasus zurückzudrängen und die Isolation ihrer Länder zu durchbrechen. Armenien unterliegt einem Embargo seitens der Türkei und Aserbaidschans. Eine weitere wirtschaftliche Schwächung würde Armenien tiefer in die Arme Russlands treiben. Das Land möchte seine Abhängigkeit zu Russland jedoch verringern, indem es seine Beziehungen zum Iran ausbaut. 2011 exportierte Armenien Güter im Wert von 106,2 Millionen US-Dollar in den Iran, während der Iran Güter im Wert von 217,2 Millionen US-Dollar nach Armenien exportierte. Währenddessen unterhält Aserbaidschan enge militärische, politische und wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei. So ging im Jahr 2005 die über 1.760 Kilometer lange Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline in Betrieb. Das Erdöl aus Aserbaidschan wird über die Türkei in Richtung der EU-Abnehmerstaaten geleitet. Das wiederum wertet der Iran als direkte Bedrohung für das eigene Erdölgeschäft.

Russland hat sich in dem Konflikt anfangs etwas zurückgehalten, doch scheint es am meisten von der Eskalation zu profitieren. Am 9. November wurde unter Vermittlung Russlands ein Abkommen zwischen Aserbaidschan und Armenien unterzeichnet. Ein Abkommen, das für Armenien eine schwere Niederlage, für Aserbaidschan jedoch einen Sieg darstellt, obwohl Russland bislang als Schutzmacht für Armenien galt, beide Staaten Mitglied der OSZE sind und Moskau in Armenien eine Militärbasis unterhält. Das jüngste Abkommen verpflichtet Armenien dazu, diejenigen Gebiete an Aserbaidschan abzutreten, die das Land während der sechswöchigen militärischen Auseinandersetzung an Aserbaidschan verlor. Bis zum 1. Dezember mussten die armenischen Streitkräfte alle Gebiete rund um Arzach räumen, die sie über ein Vierteljahrhundert als Pufferzone besetzt hielten. In Armenien selbst wird das Abkommen als Kapitulation begriffen, und dem armenischen Ministerpräsidenten wird Verrat vorgeworfen. Die Welt konnte auf tragischen Bildern mitverfolgen, wie Armenier ihre Häuser in Brand steckten, bevor sie das Gebiet verließen, oder auch die Grabstätten ihrer Angehörigen leerten, damit diese nicht geschändet werden. Dass derartige Befürchtungen nicht unbegründet waren, zeigen Videoaufnahmen von aserbaidschanischen Soldaten bzw. Söldnern, die unter islamischen Gebetsgesängen armenische Kirchen und Friedhöfe zerstörten.

Zweifellos ist Russland der eigentliche Gewinner dieses Konfliktes. Mit dem von Russland vermittelten Ausgang des Krieges unterstreicht es den Anspruch, die eigentliche Ordnungsmacht im Südkaukasus zu sein. Heute befinden sich deutlich mehr russische Soldaten in Armenien und Aserbaidschan als vor der jüngsten Eskalation. Mehr als 2.000 russische Soldaten wurden als »Friedenstruppen« in die Region entsandt. Zudem ist Armenien heute viel abhängiger von Russland, das zugleich seinen Zugriff auf die Rohstoffe Aserbaidschans ausbauen konnte. Ein russisches Muster lässt sich auch hier erkennen: In Libyen wurde der von ihr unterstützte Haftar hintergangen, in Efrîn die Kurd*innen und in Arzach die Armenier*innen.

In Armenien tritt ein innenpolitischer Konflikt immer stärker zutage. Der Ministerpräsident Nikol Paschinjan wird für die jüngste Niederlage verantwortlich gemacht. Der Außenminister Armeniens musste bereits zurücktreten. Mit einem Reformpaket versucht Paschinjan, die Wut der Bevölkerung abzuwenden, doch erscheinen seine Bemühungen wenig erfolgversprechend.

In der Türkei hat Mitte November das Parlament der Entsendung von Soldaten nach Aserbaidschan zur Überwachung der Waffenruhe in der Südkaukasus-Region Arzach zugestimmt.

Griechenland-Türkei: Konflikte im Mittelmeer und in der Zypernfrage

Seit der Entdeckung reicher Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer werden Nutzungsansprüche für die betreffenden Seegebiete seitens Griechenland, Zypern und der Türkei laut. Der Konflikt eskalierte, als die Türkei am 12. Oktober ihr Forschungsschiff »Oruç Reis« in Begleitung mehrerer Kriegsschiffe für die Erkundung von Erdgasvorkommen in ein Gebiet sandte, das seerechtlich teils zu Zypern, teils zu Griechenland gehört. Dies wiederum führte zu Spannungen zwischen Athen und Ankara und heizte erneut historisch weit zurückreichende Konflikte an.

Mit Argwohn beobachtete die Türkei gemeinsame Manöver Griechenlands, Frankreichs, Italiens und Zyperns im Mittelmeer. Auch über das Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit zwischen Israel, Griechenland und Zypern vom 8. September zeigt sich die Türkei verärgert und betrachtet es als Angriff. Die illegalen Aktivitäten der Türkei im östlichen Mittelmeer führten dazu, dass die Forderung in der EU nach Sanktionen gegen die Türkei zum Jahresende immer lauter wurden.

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Ende des ersten Weltkriegs wurden im Friedensvertrag von Lausanne die bis heute gültigen Grenzen in der Region festgelegt. Griechenland durfte fast alle Inseln in der Ägäis behalten, auch wenn sie geografisch näher an der Türkei liegen. Die Türkei unter Erdoğan prangert immer lauter das Abkommen von Lausanne an und bezeichnet es als Verrat. Auch hier kommen neoosmanische Ambitionen der AKP-MHP-Regierung zur Geltung.

Zudem setzte die Türkei erfolgreich ihren Einfluss ein, um die Wahlen in Zypern zu Gunsten ihres Kandidaten zu beeinflussen. Der langjährige Versuch Nordzyperns, sich aus der Abhängigkeit der Türkei zu befreien, scheiterte erneut. Die Nordzypriot*innen haben erkannt, dass es der Türkei nicht darum geht, die Bevölkerung vor Ort zu vertreten und eine Lösung in ihrem Interesse zu finden, sondern sie vielmehr als diplomatische Spielfigur zu nutzen und wie eine Kolonie zu behandeln. Aufgrund der türkischen Ansprüche im östlichen Mittelmeer vertiefen sich die Widersprüche zwischen der Türkei und der EU. Immer mehr europäische Länder – wie beispielsweise Frankreich – fordern Sanktionen gegen das Land. Damit ist im Laufe des Jahres ein weiteres Konfliktfeld mit möglichen negativen Auswirkungen für die Türkei entstanden.

Die Türkei als Regionalplayer

Das Jahr 2020 – das Jahr nach dem Sieg über den IS – brachte neue Angriffsziele mit sich: Neben dem Iran geriet auch die kurdische Freiheitsbewegung verstärkt ins Visier verschiedener Angriffslinien. Beide Entwicklungen hängen unmittelbar mit der Türkei zusammen. Die AKP-MHP-Regierung agiert als Regionalmacht und lässt keine Gelegenheit aus, als geopolitischer Player in Erscheinung zu treten. Das führt dazu, dass sie bei jedem Konflikt nicht nur politisch und diplomatisch, sondern meist auch militärisch an Ort und Stelle ist, Partei ergreift und zur Vertiefung des Problems beiträgt. Sie führt an vielen Fronten Krieg und will überall ihre Mitsprache durchsetzen.

Die Türkei wurde auch in 2020 von hegemonialen Kräften wie den USA, Russland und auch der EU dazu benutzt, Konflikte zu schüren und dadurch die Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen zu ermöglichen. Das sehen wir ganz deutlich in Syrien, im Irak und in Aserbaidschan. Die USA möchte die Türkei sowohl gegen Russland als auch gegen den Iran und gegen die kurdische Befreiungsbewegung benutzen. Russland seinerseits möchte das NATO-Mitglied Türkei als Schutzschild gegen die westlichen Hegemonialkräfte aufbauen.

Ihre innen- und außenpolitische Priorität hat sich jedoch auch 2020 nicht geändert: mit allen Mitteln zu versuchen, kurdische Errungenschaften zu zerstören und den Traum einer Großtürkei zu realisieren. Sie setzt in Syrien auf Russland, die USA, dschihadistische Gruppen sowie auf den ENKS, um die Errungenschaften der demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zu vernichten. Im Irak kooperiert sie mit den USA, dem Irak sowie dem Iran und der PDK gegen die kurdischen Errungenschaften in der Region Şengal, dem Flüchtlingslager Mexmûr und in den Medya-Verteidigungsgebieten. In Europa setzt sie alles daran, dass die Kriminalisierung der Kurd*innen ausgeweitet wird.

Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, die Türkei setze ihre Pläne erfolgreich um, so erkennen wir bei genauerem Hinschauen doch, dass das Gegenteil der Fall ist. Während das Land zu Beginn des Arabischen Frühlings noch als Vorbild für die sunnitisch-arabischen Länder diente, hat sich mittlerweile eine stetig wachsende anti-türkische Front arabischer Länder entwickelt. Auch die Waffe der Türkei – der Aufbau einer Kontra-Armee aus dschihadistischen Söldnern – wird sich früher oder später gegen die Türkei wenden und dem Land großen Schaden zufügen.

Die Innenpolitik der Türkei

Gegen den Vordenker und kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan wird weiterhin die Isolationsfolter angewandt. Das Anti-Folter-Komitee des Europarates (CPT) prangerte in seinem letzten Türkeibericht zum ersten Mal die Isolationsbedingungen auf der Gefängnisinsel İmralı an und bezeichnete sie als inakzeptabel. Abdullah Öcalan und den weiteren vier Gefangenen auf İmralı werden Familien- und Anwaltsbesuche willkürlich untersagt sowie der Kontakt untereinander nicht ausreichend erlaubt.

Die Bevölkerung in der Türkei und Nordkurdistan feierte im Oktober 2020 den 8. Geburtstag der HDP.Parallel zu der Totalisolation auf der Gefängnisinsel wird in den kurdischen Gebieten der Türkei seit 2015 de facto der Ausnahmezustand angewandt. Massenfestnahmen gehören inzwischen zum Alltag. Öffentliche Demonstrationen und Kundgebungen sind verboten. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) wird verbal und politisch bekämpft. Neben den ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş befinden sich eine Vielzahl von HDP-Politiker*innen im Gefängnis. Auch Kommunalpolitiker*innen bleiben nicht verschont. Nach den Kommunalwahlen im März 2019 stellte die HDP 65 Bürgermeister*innen. Von den gewählten wurde 6 die Zulassung nicht ausgehängt, und 48 wurden innerhalb von 18 Monaten durch Zwangsverwalter ersetzt. Vier Bürgermeister*innen erklärten ihren Rücktritt oder wurden ausgeschlossen. Momentan befinden sich nur 6 der insgesamt 65 Bürgermeister*innen im Amt. Mit allen Mitteln wird versucht, die einzige demokratische Opposition der Türkei handlungsunfähig zu machen – ohne Erfolg. Laut Umfragen würde die HDP weiterhin über 10 Prozent bei Wahlen erreichen.

Die Repression und damit die Folterpraxis der AKP-MHP-Regierung nimmt immer erschreckendere Dimensionen an. Am 11. September wurden die zwei Dorfbewohner Osman Siban (50) und Servet Turgut (55), bei Şax (Catak) in der Provinz Wan, von türkischen Soldaten in einen Militärhubschrauber verfrachtet und später aus dem Hubschrauber geworfen. Servet Turgut erlag seinen Verletzungen während Osman Siban u. a. Schäden am Gehirn behalten hat.

Die kurdische Bevölkerung wird nicht nur physisch gefoltert, sondern auch emotional und psychologisch. Mitte des Jahres erhielt eine Familie die sterblichen Überreste ihres Sohnes, eines Guerillakämpfers, per Postpaket geschickt – versandt durch die Generalstaatsanwaltschaft. Agit Ipek – so sein Name – wurde 2017 bei Gefechten in Dersim getötet, zwei Jahre lang galt seine Leiche als verschollen. Ein weiteres Beispiel für die psychologische Kriegsführung: 2017 wurden auf Anordnung der Regierung 261 Leichname von dem Gefallenenfriedhof in Garzan nach Istanbul verschleppt. Nun wurde bekannt, dass sie in Plastikboxen unter einem Gehweg verscharrt wurden.

Die AKP-MHP-Regierung hat eine große Angst vor Frauen. Die Erhebung der Frauen stellt neben der kurdischen Bewegung heute in der Türkei den dynamischsten und größten Teil der Opposition dar. Vor diesem Hintergrund nahm auch die Repression gegen Frauen 2020 zu. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine Frau ermordet wird. Die Regierung unternahm den Versuch, sich aus der Istanbul-Konvention6 zurückzuziehen. Die kurdische Frauenbewegung TJA (Tevgera Jinên Azad) wurde auch 2020 mit staatlichen Repressionen und Festnahmen konfrontiert. Zudem ist eine Zunahme sexueller Gewalt an kurdischen Frauen durch türkische Sicherheitskräfte zu verzeichnen.

Die AKP ist aufgrund ihrer aggressiven Außen- und Innenpolitik sowie der Vetternwirtschaft an den Rand ihrer Möglichkeiten gelangt. Das Auftreten der AKP-MHP-Regierung hat dazu geführt, dass die Türkei außenpolitisch immer weiter in die Isolation gedrängt wird, aber auch innenpolitisch isoliert sich die AKP zunehmend. Immer mehr AKPler*innen verlassen das Schiff. Inzwischen gibt es zwei weitere politische Parteien, die sich von der AKP getrennt haben, die Partei DEVA unter dem ehemaligen Wirtschaftsminister Ali Babacan und die Gelecek Partei unter Ahmet Davutoğlu, dem ehemaligen Ministerpräsidenten. Die Politik der Regierung wird aktuell eher von der ultranationalistischen Partei MHP bestimmt als von der AKP. Das wurde erneut sichtbar, als Erdoğan versöhnliche Töne Richtung Europa abgab und sogar von innenpolitischen Reformen sprach, aber am nächsten Tag eine große Festnahmewelle stattfand. Der tiefe Staat regiert mithilfe der MHP und legt die Außen- und Innenpolitik fest.

Zudem bereitet der Wahlausgang in den USA der Türkei große Sorgen. Sie konnte sich erst nach Tagen zur Gratulation für den Wahlsieger Biden durchringen. Erdoğan reagierte auf die Wahl von Biden zum neuen US-Präsidenten damit, dass er seinen Schwiegersohn und Wirtschafts- und Haushaltsminister Berat Albayrak zum Rücktritt veranlasste. Als Albayrak das Ministerium übernahm, war ein US-Dollar 4,53 Türkische Lira (TL) wert. Zum Zeitpunkt seines Rücktritts stand der Dollar bei 8,52 TL. Während seiner Amtszeit stiegen sowohl Inflation als auch Arbeitslosigkeit rasant an.

Vor seiner Zeit als Wirtschafts- und Haushaltsminister, diente er als Energieminister. Er wickelte damals über das Unternehmen Powertrans mit dschihadistischen Gruppen dubiose Ölgeschäfte ab. Diese Firma vermarktete das Öl, das der IS aus den von ihm besetzten Gebieten in Syrien und dem Irak an die Türkei verkauft hatte. Diese Geschäfte kamen durch gehackte Mails des Hackerkollektivs Redhack ans Tageslicht. Den Wikileaks-Dokumenten ist auch zu entnehmen, dass Albayrak seit 2012 mit dem Unternehmen Powertrans zusammen arbeitete. Russland hatte bereits 2015 – als Reaktion auf den Abschuss eines russischen Flugzeugs durch die Türkei – erklärt, über Dokumente zu verfügen, die den Ölhandel zwischen der Türkei und dem IS beweisen. Der russische Verteidigungsminister erklärte damals: »Der Hauptabnehmer des Öls, welches aus Syrien und dem Irak gestohlen wird, ist die Türkei. Es ist belegt, dass hochrangige politische Führungskräfte der Türkei sowie Familienangehörige Erdoğans an diesem illegalen Handel beteiligt sind.«

Erdoğan hatte einen Tag vor dem Rücktritt Albayraks Naci Ağbal zum Vorsitzenden der Zentralbank ernannt. In den USA dauern zudem das Halkbank-Verfahren sowie eine Untersuchung des Vermögens von Erdoğan und seiner Familie an. Trump hatte diese Untersuchung vorerst unterbrochen. Erdoğan geht offensichtlich davon aus, dass Biden und sein Team sowohl das Verfahren um die Halkbank, als auch die Untersuchungen seines Vermögens entschlossener vorantreiben wird. Das Verfahren wird vermutlich als wirksames Erpressungsmittel gegen Erdoğan zurückgehalten werden. Im Rahmen des Verfahrens gegen den iranischen Geschäftsmann Reza Zarrab, der wegen Verstoß gegen das Iran-Embargo in den USA festgenommen worden war, wurde auch belegt, dass Berat Albayrak sich mehrmals mit ihm getroffen hatte. Reza Zarrab unterhielt ein Konto bei der Aktif Bank, dessen Direktor zu der Zeit wiederum Berat Albayrak war. Zudem wurde Murat Uysal als Vorsitzender der Zentralbank entlassen. Das hat ebenfalls mit dem US-Verfahren gegen die Halkbank zu tun. Murat Uysal war eine Zeit lang Generaldirektor der Halkbank. Daher wird sein Name sicherlich in den Untersuchungsakten genannt werden. Der Grund dafür, dass Erdoğan ihm seinen Rücktritt nahe legte, ist weder die gestiegene Inflation, noch die wachsende Arbeitslosigkeit. Vielmehr handelt es sich um eine vorbeugende Maßnahme. Sollte unter Biden der Prozess gegen die Halkbank neu aufgerollt werden, möchte Erdoğan dafür sorgen, dass kein aktiver türkischer Amtsträger belangt werden kann. Damit sollen wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei verhindert werden.

Interessant ist auch, dass der Sonderbeauftragte der US-Regierung für den Kampf gegen den IS, James Jeffrey, nach der Wahlniederlage Trumps sein Amt aufgab. Eine grundlegende Veränderung der US-Politik im Mittleren Osten unter Biden ist jedoch nicht zu erwarten. Doch hat die Türkei mit Trump sicherlich ihren Geistesverwandten und stärksten Unterstützer verloren.

Auch wenn die Wahlniederlage Trumps für die Völker keine allzu große Bedeutung hat, so ist sie aus Sicht der Staatsmänner und -frauen, die ähnlich wie er ticken, mit weitreichenden Konsequenzen verbunden.

Der gemeinsame Kampf wird bestimmen

Durch den Machtwechsel in den USA wird sehr wahrscheinlich eine gewisse vorübergehende Entspannung in der aktuell sehr angespannten, unübersichtlichen und unkontrollierbaren Phase eintreten. Die Welt leidet sehr unter Trump und ähnlich gesinnten Staatspräsidenten. Weltweit verstärkten sich die Widersprüche extrem. Das System braucht nun eine gewisse Verschnaufpause. Die Menschen verlieren zunehmend ihr Vertrauen in das kapitalistische System, und die Systemvertreter*innen selbst erkennen diese Gefahr zunehmend. Um einer möglichen gesellschaftlichen Reaktion den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird die aggressive Politik etwas heruntergefahren werden. Erinnern wir uns daran, welche Auswirkungen die US-Wahlen der vergangenen zwei Jahrzehnte hatten: Unter dem Republikaner George W. Bush wurde mit dem Irakkrieg die militärische Intervention im Mittleren Osten eingeläutet. Barack Obama wurde nach acht Jahren Bush als eine Art Erlöser präsentiert, nur um nach acht Jahren durch einen Präsidenten ersetzt zu werden, der noch unberechenbarer als Bush war. Damit wurde die Ordnung vollständig ins Wanken gebracht. Jetzt also wird Biden als Retter präsentiert. Das System benötigt diese Intervalle, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Es finden nur scheinbare Veränderungen statt. Grundlegende Korrekturen bleiben hingegen aus. Grundlegende Veränderungen können nur erreicht werden, wenn sie von Akteuren erkämpft werden, die selbst nicht Teil des Systems sind. Der gerechte Kampf der Frauen, der Völker, der Arbeiter*innen, der Schwarzen Menschen, der indigenen Völker oder der Klimaaktivist*innen kann in dieser Zeit der Neuordnung die Pläne der Hegemonialmächte durchkreuzen.

Die kurdische Freiheitsbewegung ist vor diesem Hintergrund trotz massiver Angriffe der globalen Hegemonialmächte, der kolonialistischen Regionalstaaten und der kollaborierenden kurdischen Kräfte immer noch eine Inspiration für alle Menschen, die außerhalb des bestehenden Herrschaftssystems ihr eigenes System aufbauen und verteidigen.

Zum Jahrestag des Militärputsches in der Türkei, dem 12. September, rief die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) eine Offensive unter dem Motto: »Schluss mit Isolation, Faschismus und Besatzung – Es ist Zeit für Freiheit«. Parallel hat auch die kurdische Frauenbewegung eine Kampagne begonnen unter dem Motto »Lasst uns gegen den Feminizid die freie Frau und die freie Gesellschaft verteidigen, das freie Leben aufbauen«. Das Jahr 2020 war für das kurdische Volk ein Jahr des Widerstandes – genauso wie die Jahre zuvor und vermutlich auch die nächsten Jahre. Nur durch einen nachhaltigen, langfristigen Kampf kann das Gebäude der Unterdrückung des herrschenden Systems zum Einsturz gebracht werden. Die kurdische Freiheitsbewegung hat mit der Offensive die Angriffspunkte klar benannt: Isolation, Faschismus, Besatzung, Patriarchat; das sind die Hauptsäulen des Unterdrückungsregimes, die zu Fall gebracht werden müssen.

Am 27. November 2020 jährte sich die Gründung der kurdischen Freiheitsbewegung zum 42. Mal. Seit fast einem halben Jahrhundert kämpfen Abdullah Öcalan, die PKK und das kurdische Volk nun bereits. Das ist der längste, größte und intensivste Aufstand in der kurdischen Geschichte. Die kurdische Freiheitsbewegung ist heute stärker, einflussreicher, umfassender und tiefgründiger denn je zuvor. In einer Zeit, in der das herrschende System mitsamt seinen Nationalstaaten an Glaubwürdigkeit verliert, gewinnt diese Bewegung immer mehr an Bedeutung. Sie ist zeitgemäß und lösungsorientiert, denn sie übernimmt Verantwortung und stellt sich den bestehenden Herausforderungen selbstbewusst. Sie steht für das Gegenteil von allem, was die kapitalistische Moderne mit ihrer Ideologie, Politik und ihren Institutionen darstellt. Mit ihrem Paradigma, das Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung als Kernpunkte formuliert, verbindet die PKK alle grundlegenden Kämpfe des 21. Jahrhunderts. Diese Kämpfe werden nicht lokal, sondern universell ausgetragen. Daher wird die Welt überall, wo diese Kämpfe geführt werden, qualitativ zugunsten der Menschen verändert werden. Dem Machtkampf von Staaten und Unternehmern wird damit eindeutig eine Absage erteilt.

Fußnoten:

1 - Autonome Region Kurdistan, kurd. Herêma Kurdistan (HR)

2 - Partiya Demokrata Kurdistanê - PDK, Demokratische Partei Kurdistans

3 - Yekêtiy Nîştimaniy Kurdistanê - YNK, Patriotische Union Kurdistans

4 - Yekîneyên Berxwedana Şengalê - YBŞ, Widerstandseinheiten Şengals

5 - Yekîneyên Jinên Şengalê - YJŞ, Fraueneinheiten Şengals

6 - Die Türkei hat 2012 die »Istanbuler Konvention« unterzeichnet. Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, jegliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie alle Formen häuslicher Gewalt als Verbrechen einzustufen. Das Abkommen ist völkerrechtlich bindend – alle staatlichen Organe müssen die Verpflichtungen damit in ihrer nationalen Gesetzgebung umsetzen.


 Kurdistan Report 213 | Januar/Februar 2021