Rojava: Ein Leuchtfeuer der Hoffnung für alle, die ein freies Leben führen wollen
Eine lebendige Alternative zum Kapitalismus
Benedetta Argentieri, Journalistin und Filmemacherin
Alles ging sehr schnell. Wir stiegen aus dem Auto und gingen zum Flussufer, ein paar hundert Meter entfernt. Es war schwierig, die Nacht war mondlos und der Weg war sehr steil. Ein Mann stand auf, gab mir seine Hand und half mir, in ein hübsches rustikales Boot zu steigen. Weitere sechs Personen stiegen ein, darunter ein paar Kämpfer und einer aus Kanada. Nach ein paar Minuten Bootsfahrt kamen wir auf der anderen Seite an. Wir ließen Südkurdistan hinter uns und kamen in Rojava an.
Es war November 2014. Die Rojava-Revolution war nicht so bekannt wie heute. In den westlichen Ländern hatten nur sehr wenige Menschen außerhalb linker Kreise davon gehört. Die Zeitungen auf der ganzen Welt haben gerade angefangen, über den furchtlosen Widerstand von Kobanê zu sprechen, in dem Frauen und Männer den sogenannten Islamischen Staat (IS) bekämpften, der zu dieser Zeit nicht aufzuhalten schien. Die meisten Artikel ignorierten das politische Projekt hinter diesem Kampf und das, wofür die Kurdinnen und Kurden tatsächlich kämpften.
Es war nicht einfach, nach Rojava zu gelangen, es gab keinen offiziellen Grenzübergang und der IS lauerte überall. Die Angst vor Entführungen veranlasste Medienunternehmen, Artikel von Freiberuflern in der Region abzulehnen, und die meisten internationalen Journalist*innen bevorzugten die Einbettung in die »Freie Syrische Armee« (FSA) im Westen Syriens. Sie alle schienen nicht an den Kurd*innen interessiert zu sein und lobten die demokratischen Forderungen der FSA.
Ich habe mich mit zwei Amerikanern zusammengetan, einem Fotografen und einem Schriftsteller, und gemeinsam haben wir uns für eine Reise dorthin entschieden, weil wir selbst sehen wollten, was in den kurdischen Gebieten im Norden Syriens passiert. Wir wussten, wie in Şengal einige Monate zuvor die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ zusammen mit den Volksverteidigungskräften HPG in den Irak eingereist waren, um Tausende von Êzîd*innen vor dem IS zu retten, während die Peşmerga wenige Stunden vor dem Angriff des IS ihre Posten aufgaben. Bis zu 7.000 Frauen und Mädchen wurden entführt und als Sexsklavinnen missbraucht, Tausende wurden massakriert. Wir wussten, wie sich die syrischen Kurd*innen im Rahmen des syrischen Bürgerkriegs für einen »dritten Weg« entschieden hatten, weder für die Seite Assads noch für die der FSA. Sie hatten beschlossen, einem politischen Projekt zu folgen, das Abdullah Öcalan in seinen Gefängnisschriften, auch bekannt als »demokratischer Konföderalismus«, entworfen hatte. Wir wollten die Geschichte erzählen, wie man inmitten eines Krieges eine neue Gesellschaft aufbaut.
Kurz nachdem wir ausgestiegen waren, wechselten wir in ein anderes Auto und fuhren nach Qereçox, der Hauptbasis auf einem Hügel, ein Dutzend Kilometer von unserem Treffpunkt entfernt – dieselbe Basis, die am 24. April 2017 bei einem Überraschungsangriff von der Türkei zerstört wurde. Alex (der Fotograf) und ich wurden von einer YPJ-Kommandantin, Heval Jiyan, begrüßt, und in ein Gebäude für Frauen begleitet. Wir saßen in einem hellblauen Raum mit braunem und rotem Teppich. Vor den Wänden befanden sich dünne hellbraune Matratzen und einige passende Kissen. Ein paar Kalaschnikows lagen in der Ecke, über einem kleinen Fernseher stand das Bild eines lächelnden Öcalan mit Sonnenbrille.
Wir saßen in der Mitte des Raumes, tranken Çay und aßen Snacks. Heval Jiyan begann über die Frauenrevolution zu sprechen, was in Rojava geschah und wie die Frauen sich aus dem Patriarchat befreien wollten. Während sie sprach, verspürte ich eine wachsende tiefe Bewunderung für sie und all die anderen Hevals um sie herum. Als Journalistin habe ich viele Bewegungen in meiner Karriere dokumentiert und verfolgt, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Ich fing an, viele Fragen zu stellen, zu der Zeit schien es unmöglich, dass Frauen besonders im militärischen Kontext so unabhängig von Männern sein konnten. Sie erklärte das politische Projekt, das parallel zum Kampf verfolgt wurde, das Konzept der Selbstverteidigung. Dann nahm sie ihr Funkgerät und organisierte für die folgenden Wochen eine Tour für uns durch Rojava. »Sie werden es selbst sehen«, sagte sie lächelnd. Ich werde Heval Jiyan immer dankbar sein, dass sie in dieser ersten Nacht geduldig auf alle unsere Fragen geantwortet hat, auch auf die albernsten. Sie zeigte Freundlichkeit und Stärke.
Nach dieser Reise folgten viele andere. Zu Beginn schien die Medienbranche nicht besonders daran interessiert zu sein, über die Rojava-Revolution zu sprechen. Obwohl ich mehrere Artikel darüber veröffentlichen konnte, konzentrierte ich mich auf Dokumentarfilme, um einer größeren Öffentlichkeit zu zeigen, was in Rojava geschah.
Der erste Film, »Our War«, der 2016 auf den Filmfestspielen von Venedig vorgestellt wurde, sprach über Internationalisten, die der YPG beitreten. Was mir jedoch wichtig war, war die Frauenrevolution, und dabei zu zeigen, wie diese Bewegung vor langer Zeit in den kurdischen Bergen begann und auch andere Bewegungen im Nahen Osten beeinflusste. Das Ergebnis war »I Am The Revolution«, ein Film, der drei Frauen aus drei verschiedenen Ländern folgt: Rojava, Irak und Afghanistan. Er zeigt die verschiedenen Seiten des Kampfes gegen das Patriarchat. Er ist ein politischer Film, dessen Ziel es war, mit allen Frauen der Welt zu sprechen und ihnen zu zeigen, wie durch die Organisation der Frauen eine echte Veränderung im direkten Umfeld und in der Gesellschaft erreicht werden kann. Natürlich ging es einerseits auch darum, die Ideen und die Ideologie hinter der Revolution so weit wie möglich zu verbreiten. Andererseits ging es aber auch darum, die Mainstream-Medienerzählung zu dekonstruieren, in der Frauen im Nahen Osten entweder als hilflos und ständig hilfsbedürftig beschrieben werden oder einfach nur als schöne Frauen auf dem Schlachtfeld. Der Film wurde 2018 auf dem DOC NYC Filmfestival in New York präsentiert. Ich habe mit einem All-Women-Team vor Ort gearbeitet, Herausgeber des Films ist eine Frau, der Produzent auch. Wir haben einen Film von Frauen für Frauen gemacht.
Einige Monate später beschloss ich erneut, nach Rojava zu fahren. Diesmal wollte ich so lange wie möglich bleiben. Ich kam im Februar 2019 an, der Kampf gegen den Islamischen Staat war gerade in seiner letzten Phase. Ich wollte an einem neuen Film über Frauen arbeiten, die sich dem IS angeschlossen haben. Ich konnte bereits sehen, wie viele Journalist*innen sich diesem Thema näherten und diese Frauen als hilflos einschätzten, die nach Syrien gingen, nur weil sie von ihren Freunden oder Ehemännern betrogen worden seien. Diese Einschätzung passte nicht zur Realität. Ja, natürlich gibt es Frauen, die diese Erfahrung tatsächlich gemacht haben. Aber die Mehrheit derjenigen, die aus al-Baghuz, dem letzten verbliebenen Gebietsteil, herauskamen, waren die radikalsten, die bereit waren, alles zu tun, einschließlich vor den Kameras zu lügen. Ich war in al-Baghuz, als der »Islamische Staat« am 23. März besiegt wurde. Das Projekt hat viel länger gedauert, als ich erwartet hatte. Ich habe den ganzen Sommer über in den Camps gearbeitet (Dieser Film befindet sich noch in der Produktionsphase, ich hoffe, er wird nächstes Jahr fertig sein).
Als die Türkei Nordsyrien angriff, blieb ich, um zu dokumentieren und zu berichten, was geschah. Es war ein sehr schwerer Moment für Rojava und Nord- und Ostsyrien im Allgemeinen. Alle glaubten, dass nach dem Sieg über den IS eine neue friedliche Zeit kommen würde. Es war schwierig, mit dem Leid und der Gewalt umzugehen, die die türkisch unterstützten Milizen erneut in die Region gebracht hatten. Die Invasion in Efrîn im Jahr 2018 war eine schmerzhafte Erinnerung daran, was passieren würde, wenn die Türkei die Kontrolle über ein Gebiet übernimmt. Alle Rechte, für die die Kurdinnen und Kurden gekämpft haben, und nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen in der Region, würden hinweggefegt werden. Alle politischen Errungenschaften, die Rechte der Frauen, würden beseitigt. Stattdessen würde Gewalt gegen Unschuldige, Entführungen und allgemeine Brutalität zur Normalität werden. Im Oktober 2019 erlangte die Türkei die Kontrolle über Serêkaniyê und Girê Spî. 300.000 Menschen mussten in weniger als einer Woche aus ihren Häusern fliehen. Die UN nannten es ethnische Säuberungen. Hevrîn Xelef (Hevrin Khalaf), die Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, wurde in einem Hinterhalt brutal ermordet. Die USA, die behaupteten, ein Verbündeter der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) zu sein, gaben grünes Licht dafür.
Trotzdem ging die Revolution weiter. Im Dezember reisten wir nach Raqqa, der ehemaligen Hauptstadt des IS, um die Errungenschaften und Veränderungen zu dokumentieren, die arabische Frauen in ihrer Gesellschaft erreichten. Das Ergebnis ist »Blooming in the Desert«, eine Kurzdokumentation, die anhand der Geschichten von drei Frauen aus Raqqa zeigen will, wie ein politischer Wandel auch außerhalb kurdischer Gebiete möglich ist. Der Film wird ab dem 16. April auf dem London Kurdish Film Festival gezeigt.
Während ich über all diese Jahre der Arbeit nachdenke, erkenne ich zugleich, wie sehr der enge Kontakt mit der Bewegung meine Ansichten und Perspektiven verändert hat. Ich glaube an das politische Projekt, wie so viele andere Frauen auf der ganzen Welt. Rojava ist ein Leuchtfeuer der Hoffnung für alle Menschen, die ein freies Leben führen wollen und an Solidarität und Gleichheit glauben. Radikale Veränderungen und Demokratie können erreicht werden, auch wenn das derzeitige System den Menschen etwas anderes sagt. Es gibt eine Alternative zum Kapitalismus, Rojava hat uns gezeigt, dass es möglich ist. Deshalb ist es wichtig, dies zu verteidigen.
Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021