Die EU gibt Präsident Erdoğan grünes Licht auf dem Weg in die Diktatur

Zuckerbrot ohne Peitsche

Dr. Elmar Millich

In Mannheim und Hannover wurden die Auftaktkundgebungen der Kampagne »Alle zusammen gegen den Faschismus« des ADGB (Bündnis demokratischer Kräfte in Europa) abgehalten. | Foto: anf »EU kapituliert vor Erdoğan« kommentierte die taz nach dem Besuch der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und des EU-Ratspräsidenten Charles Michel am 6. April in Ankara. Dem Besuch vorausgegangen war ein Videogipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 24. März. Erklärtes Ziel dieses Gipfels war es, ein »neues Kapitel« in den Beziehungen zur Türkei aufzuschlagen. Seit Jahren hegt die wirtschaftlich angeschlagene Türkei den Wunsch, ihre Wirtschaftsbeziehungen zur EU auszubauen, etwa durch eine Erweiterung der Zollunion und Einreiseerleichterungen für türkische Staatsbürger*innen in die EU. Den Wünschen, diese Themen auf die Agenda zu nehmen, wurde jetzt weitgehend entsprochen.

Noch im Sommer 2018 hatte die EU diese Vorhaben auf Eis gelegt mit dem Hinweis auf anhaltende Rückschritte bei den Themen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Meinungsfreiheit. Der jetzige Sinneswandel rührt nun sicher nicht von der Verbesserung der Menschenrechtslage her. Kein Tag vergeht, an dem in der Türkei nicht Dutzende Aktivist*innen aus allen politischen Oppositionsströmungen wegen »Unterstützung des Terrorismus« verhaftet, angeklagt und verurteilt werden. Geradezu demonstrativ verkündete Präsident Erdoğan per Präsidialdekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention1 nur wenige Tage vor dem EU-Videogipfel. Ebenfalls seit März läuft ein Verbotsverfahren gegen die zweitstärkste Oppositionspartei HDP2. Ein für die Türkei verbindliches Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, deren ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş unverzüglich freizulassen, wird von der türkischen Justiz beharrlich ignoriert.

Was hat also zum Sinneswandel der EU geführt? Zum einen das von Präsident Erdoğan meisterhaft beherrschte Spiel »Eskalieren – Deeskalieren – Vorteile herausziehen«. Im letzten Jahr wurde das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei beherrscht von dem Streit um die Ausbeutung von Erdgasvorkommen in den Hoheitsgewässern Griechenlands und Zyperns. Erdoğan schickte von türkischen Kriegsschiffen begleitete Bohrschiffe in die umstrittenen Zonen und provozierte damit fast direkte militärische Auseinandersetzungen unter NATO-Mitgliedern. Griechenland – ebenfalls wirtschaftlich angeschlagen – reagierte mit der Bestellung von neuen Waffensystemen in Milliardenhöhe. Die EU verurteilte zwar das aggressive Auftreten, beließ es aber – vor allem aufgrund deutscher Vorbehalte – bei der bloßen Androhung wirtschaftlicher Sanktionen. Ende letzten Jahres lenkte die Türkei dann ein und zog ihre Bohrschiffe zurück. Zudem fanden Gespräche mit Griechenland auf unterer Verwaltungsebene statt.

Ein verbindendes Element ist das 2016 abgeschlossene Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Anfang 2020 eskalierte die Situation, als die Türkei das Abkommen de facto kündigte und Zehntausende Flüchtlinge an die Grenze zu Griechenland brachte. Auch wenn es nicht zu den von der Türkei forcierten massenhaften Grenzübertritten kam, ist die EU weder an solchen Bildern interessiert noch an Schlagzeilen über die unter ihrer Verantwortung herrschenden grauenhaften Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Daher wird die Türkei nach wie vor als Türsteher der Festung Europa gebraucht. Die Türkei wiederum ist auf die im Abkommen vereinbarten milliardenschweren Unterstützungsleistungen durch die EU angewiesen. Bei ihrem aktuellen Gipfel beauftragten entsprechend die EU-Staaten die Kommission, einen Vorschlag für weitere Finanzhilfen an die Türkei auszuarbeiten.

Maßgeblich für eine neue Annäherung zwischen der EU und der Türkei sind aber auch geostrategische Gründe. Die Türkei fürchtet vor allem, dass sich die neue US-amerikanische Regierung unter Präsident Joe Biden, der ebenfalls an der EU-Konferenz am 24. März per Video teilnahm, wieder stärker im Mittleren Osten engagieren könnte und dort an eine enge Kooperation mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien unter kurdischer Beteiligung anknüpft. Bei der Ernennung des als kurdenfreundlich geltenden Brett McGurk als Koordinator für Nordafrika und Nahost im Nationalen Sicherheitsrat der USA schrillten in der Türkei die Alarmglocken. Stark umstritten zwischen beiden Ländern ist auch der Erwerb des russischen Flugabwehrsystems S-400 durch die Türkei. EU und USA haben aber beide ein starkes Interesse, eine weitere Annäherung des NATO-Partners an Russland zu verhindern. Dies hat auch unter US-Präsident Biden höchste Priorität, denn bezüglich der Konfrontationspolitik gegenüber Russland unterscheiden sich die beiden großen Parteien in den USA – Republikaner und Demokraten – kaum. Auch wenn Präsident Biden bislang demonstrativ eine Kontaktaufnahme zum türkischen Präsidenten vermieden hat, muss die Türkei daher nicht mit allzu ernsten Konsequenzen rechnen. Die Anfang April vom US-Außenministerium verhängten Sanktionen im Zusammenhang mit den russischen Flugabwehrraketen richten sich nur gegen Einzelpersonen der türkischen Rüstungsindustrie und bleiben eher auf der symbolischen Ebene. Die »Putin-Karte« wird auch weiterhin Erdoğans stärkster Trumpf bleiben, um ernsthafte Kritik oder gar Sanktionen von Seiten der EU wie der USA abzuwehren.

Die Interessen der EU spiegeln auch die Interessen ihrer Einzelstaaten

Die Interessen der EU sind ja bekanntlich auch die Summe bzw. Schnittmenge der Interessen ihrer Einzelstaaten, und die haben je nach Einwohner*innenzahl und ökonomischer Stärke unterschiedliches Gewicht. Deutschland wirkte im Erdgaskonflikt zwischen der Türkei und Griechenland de facto als Anwalt der Türkei innerhalb der EU, mit dem Ziel, ernsthafte ökonomische Sanktionen auf jeden Fall zu verhindern. Zu stark sind die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beiden Länder miteinander verbunden, als dass man dort ernsthafte Konflikte in Kauf genommen hätte. Die Türkei ist für Deutschland auch das Sprungbrett zur Umsetzung ihrer geostrategischen Ziele im Mittleren Osten, die sich in den letzten Jahren auch immer mehr auf den Irak ausrichteten. Zu der PDK3-geführten kurdischen Autonomieregion im Nord­irak unter Barzanî bestehen hervorragende geheimdienstliche Kontakte, und deren Zusammenschluss mit der Türkei gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK wird eher mit Wohlwollen betrachtet. Wie sehr der Hass auf die kurdische Befreiungsbewegung in der deutschen Ministerialbürokratie verankert ist, zeigt die Reaktion des Auswärtigen Amtes auf das angekündigte Verbot der HDP in der Türkei. Statt Solidarität zu zeigen, forderte die deutsche Regierung im letzten Satz ihrer Erklärung zu dem Vorgang die HDP zu einer klaren Abgrenzung von der PKK auf und übernahm damit indirekt Erdoğans Verbotsargumentation. Auch in Bezug auf das Flüchtlingsabkommen sieht Deutschland aufgrund der Erfahrungen von 2015 elementare innenpolitische Interessen bedroht und ist zu größeren Zugeständnissen bereit als tendenziell weniger betroffene Staaten.

Frankreich stellte sich im letzten Jahr im Erdgasstreit am entschiedensten hinter Griechenland, forderte empfindliche wirtschaftliche Sanktionen und schickte auch eigene Kriegsschiffe in die Ägäis. Die Türkei reagierte in ihrer gewohnten Art mit wüsten Beschimpfungen und Drohungen gegenüber der französischen Regierung und Bevölkerung. Doch vor dem entscheidenden EU-Gipfel hatten sich nach einem Gespräch zwischen Erdoğan und Macron im März die Wogen anscheinend geglättet. Statt auf dem EU-Gipfel weitergehende Forderungen einzubringen, führte der französische Staat unvermittelt Razzien und Verhaftungen gegen politisch aktive Strukturen in Frankreich durch. In Marseille, Paris und Draguignan kam es zu Durchsuchungen kurdischer Einrichtungen und Festnahmen unter dem Vorwurf der »Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland« und »Terrorfinanzierung«. Über den Hintergrund lässt sich nur spekulieren. Nicht auszuschließen ist aber, dass das französische innenpolitische Vorgehen im Zusammenhang mit den neuesten politischen Entwicklungen in Libyen steht. Auch hier standen französische und türkische Interessen über Monate gegeneinander. Während die Türkei die international anerkannte Regierung in Tripolis massiv militärisch aufrüstete, unterstützte Frankreich die in Ost-Libyen beheimateten Oppositionsmilizen unter General Chalifa Haftar. Es kam auch beinahe zur militärischen Konfrontation, als französische Kriegsschiffe zur Durchsetzung des geltenden UN-Embargos unter türkischer Protektion fahrende Handelsschiffe auf Waffenlieferungen hin durchsuchen wollten. Seit Anfang März gibt es in Libyen nun eine Einheitsregierung unter Interims-Regierungschef Abdulhamid Dbeibah. Da dieser den Muslimbrüdern nahestehen soll, sieht nun wahrscheinlich Erdoğan gute Chancen, seinen Einfluss eher politisch als militärisch in Libyen auszuweiten. Dass es bei der Wahl von Abdulhamid Dbeibah zu massiven Bestechungen und Stimmenkauf gekommen sein soll, tut der Freude der internationalen Gemeinschaft keinen Abbruch. Es ist zu vermuten, dass Erdoğan und Macron bei ihrem Gespräch zu einer Einigung gekommen sind, wie sie sich die libysche Beute aufteilen. Augenscheinlich auf Kosten der Kurd*innen in Frankreich.

Unabhängig davon, wie die konkreten Verhandlungen zwischen EU und Türkei bezüglich Zollunion und Visafreiheiten weitergehen, haben der EU-Gipfel und der Auftritt von Ursula van der Leyen und Charles Michel in Ankara ein klares Zeichen gesetzt. Erdoğan hat seitens der EU freie Hand, die Türkei weiter in eine auf ihn zugeschnittene Diktatur zu führen, solange er sich an gewisse Spielregeln hält, welche die Interessen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten direkt berühren. Die türkische Opposition hat von der EU und ihren maßgeblichen Einzelstaaten außer gelegentlich geäußerter »Besorgnis« über negative Entwicklungen nichts zu erwarten. Konkrete Sanktionen und Entrüstung sind Russland und China vorbehalten, sei es wegen des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny oder des chinesischen Umgangs mit den Uigur*innen. Am 22. März verhängte die EU gemäß eines neuen, im Dezember letzten Jahres beschlossenen Mechanismus Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Russland, China, Nordkorea, Südsudan und Eritrea. Auf journalistische Nachfragen an Bundesaußenminister Heiko Maas, warum die Türkei nicht betroffen sei, meinte dieser, dort gebe »es Licht und Schatten«. Wo dort das Licht scheint, bleibt sein Geheimnis.

Selbst Erdoğan schien überrascht zu sein, welch geringe Rolle das Thema Menschenrechte bei den aktuellen Verhandlungen mit der EU spielte. Anfang März überraschte er die Öffentlichkeit mit einem »Aktionsplan für Menschenrechte«, welcher angeblich bis zum hundertjährigen Bestehen der türkischen Republik 2023 umgesetzt werden solle. Der Aktionsplan las sich wie eine Karikatur der aktuellen türkischen Zustände. Von »Stärkung der Rechtsstaatlichkeit« und »Unabhängigkeit der Justiz« war da die Rede. Mangels realen Interesses der EU an den vorgestellten Zielen konnte der Plan rasch wieder in die Schublade gelegt werden.

Für Erdoğan ist Außenpolitik auch immer zugleich Innenpolitik. Ein nicht unwesentliches Prestige bei seinen Anhänger*innen erlangt er dadurch, dass er mit den Großmächten auf Augenhöhe agiert. Insofern sind Protokollfragen für ihn auch keine Nebensächlichkeit. Die Bilder mit dem Führungsduo der EU von der Leyen und Michel, das er in Ankara antanzen lässt, statt sich selbst nach Brüssel zu bemühen, sprechen da Bände und verhöhnen die Menschen, die sich unter großen Opfern in der Türkei nach wie vor für Demokratie einsetzen. Bei der abschließenden Pressekonferenz des EU-Spitzenduos in Ankara, bei der dieses pflichtgemäß die Bedeutung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit herunterleierte, glänzte Erdoğan dann auch konsequent durch Abwesenheit. Anfang des Jahres hatte Ursula von der Leyen noch Verhandlungen mit »Zuckerbrot und Peitsche« angekündigt. Geblieben ist nur das Zuckerbrot.

Beim nächsten EU-Gipfel im Juni dieses Jahres wollen die Staats- und Regierungschefs abschließend beraten, wie es mit der Zusammenarbeit mit der Türkei weitergeht. Bis dahin steht die Türkei angeblich unter Bewährung. Dass dies einen Recep Tayyip Erdoğan beeindruckt, glauben die Verantwortlichen wahrscheinlich selbst nicht.

Fußnoten:

1 - »Istanbul-Konvention« ist die Kurzbezeichnung für das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, das am 1.8.2014 in Kraft trat.

2 - Halkların Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker

3 - Partiya Demokrata Kurdistanê (Demokratische Partei Kurdistans, auf Deutsch auch oft als KDP abgekürzt)


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021