Die HDP und die PKK

Wenn möglich, dann friedlich

Fayik Yağızay, Vertreter der HDP im Europarat

In den Mainstream-Medien wurde der Beschluss der türkischen Regierung, die »Demokratische Partei der Völker« (HDP) zu verbieten, äußerst intensiv diskutiert. Insbesondere in Anbetracht der schweren Niederlage, die der türkische Staat kurz zuvor gegen die »Arbeiterpartei Kurdistan« (PKK) in Gare, einem Gebirge im Nordirak, erlitten hatte.

In diesen Diskussionen – die sich zu einer politischen Lynch-Kampagne entwickelt haben – wird behauptet, dass die HDP den politischen Arm der PKK darstelle, und dass sie jene nicht ausreichend verurteile. Auf den Plattformen, auf denen diese Diskussionen geführt werden, wird der HDP nie die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu repräsentieren oder sich in irgendeiner Weise an den Diskussionen zu beteiligen. Diese so geführte Kampagne ist also Teil einer außergerichtlichen Verurteilung unserer Partei.

Die HDP wurde auf Basis des geltenden Rechts der Republik Türkei gegründet. Sie organisiert sich landesweit und nimmt an allen demokratischen Wahlen teil. Bei der letzten Parlamentswahl erhielt sie fast sechs Millionen Stimmen und wurde somit die zweitgrößte Oppositionspartei in der Großen Nationalversammlung. Die HDP beleuchtet die Probleme innerhalb des türkischen Staates aus einer anderen Perspektive als die anderen Parteien und spricht sich für andere Lösungen aus. Sie betrachtet die ultranationalistische, um nicht zu sagen rassistische Struktur der Türkei als ein grundlegendes Problem, welches die Verhältnisse nur verschlimmert.

Im Mittelpunkt steht dabei die »kurdische Frage«. Die HDP vertritt die Meinung, dass die Leugnung der kurdischen Identität und die seit Gründung der Republik Türkei praktizierte Politik der Zwangsassimilation unvertretbar waren! Die HDP argumentiert, dass der Staat KurdInnen als eine andere ethnische Gruppe, als ein anderes Volk mit einer anderen Identität akzeptieren müsse; folglich erhält die Partei von den KurdInnen breite Unterstützung. Das setzt sie dem ständigen Druck des Staatsapparates aus, bis hin zu den aktuellen Forderungen nach einem totalen Verbot. Das Argument zur Rechtfertigung dieser Angriffe sind seit jeher die Beziehungen der HDP zur PKK.

So wie die HDP in der »kurdischen Frage« einen anderen Ansatz verfolgt, so hat sie auch einen anderen Blickwinkel auf die PKK als andere Parteien. Anders als der türkische Staat, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sieht die HDP die PKK nicht als terroristische Organisation an und sie begrüßt das Urteil des höchsten belgischen Gerichts, dass die Organisation als Partei in einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betrachtet werden sollte. Die HDP vertritt die Meinung, dass die PKK als Folge der falschen Politik der türkischen Republik und der internationalen Mächte entstanden ist. So ist sie des Weiteren davon überzeugt, dass es eine PKK oder eine ähnliche Organisation geben wird, solange sich diese Politik nicht ändert.

Jeder Akt der Unterdrückung der kurdischen parlamentarischen Politik ist ein Rekrutierungsfaktor für die PKK. Solange nichts unternommen wird, um die »kurdische Frage« anzugehen, werden viele, die auf Grund ihrer kurdischen Identität verfolgt werden, der Maxime der britischen Chartisten des 19. Jahrhunderts folgen: »Friedlich, wenn wir können, gewaltsam, wenn wir müssen.«

Um dies richtig verstehen zu können, ist es hilfreich, in die Geschichte zurückzugehen. Vor der Unterzeichnung des Vertrages von Lausanne im Jahre 1923 unter der Führung Großbritanniens und Frankreichs war Kurdistan 1639 bereits durch das Kasr-ı-Şirin-Abkommen zwischen den Ottomanen und dem iranischen Safawidenstaat zweigeteilt worden. Diesmal wurde es viergeteilt, und diese Aufteilung des Landes des größten staatenlosen Volkes der Welt ist die Hauptursache für die Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Die Staaten, die Kurdistan besetzten, haben die Existenz von KurdInnen geleugnet und eine assimilatorische und repressive Politik verfolgt, indem diesen Identität, Sprache und kulturelle Rechte vorenthalten wurden. KurdInnen, die sich dagegen wehrten und ihre Rechte und Freiheiten verteidigten, wurden verhaftet, verbannt, hingerichtet und massakriert.

Um die Unterstützung des kurdischen Volkes während des Befreiungskrieges der Türkei zu erhalten, versprach Mustafa Kemal, dass der befreite Staat ein Staat sowohl für TürkInnen als auch für KurdInnen sein würde. Doch nach der Gründung der Republik leugnete er die Existenz der KurdInnen und Kurdistans und errichtete ein System, das auf türkischem ethnischem Nationalismus basiert.

In vielen Teilen Kurdistans gab es Aufstände gegen das geschaffene System, doch wurden sie alle durch Massaker niedergeschlagen und ihre AnführerInnen hingerichtet. Die kurdische Sprache, Kultur, Musik – kurz, jeder Aspekt der kurdischen Identität – wurden verboten, und die KurdInnen wurden offiziell als TürkInnen eingestuft. Die Regierung hoffte, sie mit einer Politik der Zwangsassimilation in Vergessenheit geraten lassen zu können. Ähnlich war die Situation in den anderen Teilen Kurdistans – den vom irakischen und vom syrischen Staat besetzten Teilen, die nach dem Rückzug Großbritanniens und Frankreichs gegründet worden waren, und dem vom Iran besetzten Teil.

Vor diesem Hintergrund entstanden die PKK und etliche ähnliche Organisationen. In den 1970er Jahren kamen Dutzende von Organisationen zusammen, die angeführt von StudentInnen versuchten, die Situation mit Hilfe verschiedenster Methoden zu verändern. Die meisten dieser Organisationen wurden durch den Militärputsch von 1980 zerschlagen. In Kurdistan herrschte ein brutaler Staatsterror, vor allem in den Gefängnissen. Der PKK gelang es, einen Teil ihrer KaderInnen aus der Türkei und in die Nachbarländer abzuziehen, wo sie sich reorganisierte, und sie begann 1984 einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. Obwohl sich seine Ziele, Form und Methoden geändert haben, dauert dieser Krieg noch immer an.

Als die PKK 1978 gegründet wurde, waren ihr Ziel die Befreiung und die Errichtung eines vereinigten, unabhängigen, sozialistischen Kurdistans in den von der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien besetzten Gebieten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den frühen neunziger Jahren bewertete die PKK jedoch ihre Ziele neu.

Als Reaktion auf eine Bitte des damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal erklärte die PKK 1993 einen einseitigen Waffenstillstand und kündigte an, bereit zu sein, die »kurdische Frage« im Dialog zu lösen. Während dieses einseitigen Waffenstillstands, als Özal seine neue Annäherung an die KurdInnen vorbereitete, wurde er jedoch durch den türkischen tiefen Staat vergiftet. Sein Tod öffnete einem gewaltsamen Krieg die Tür, der in Nordkurdistan (Osttürkei) zu gewaltigen Zerstörungen führte. Die Bemühungen der PKK, eine Lösung auf der Grundlage eines Dialogs mit dem türkischen Staat zu finden, wurden jedoch immer fortgesetzt.

Seit seiner Inhaftierung als Ergebnis eines internationalen Komplotts im Jahre 1999 hat der Vorreiter der PKK, Abdullah Öcalan, aus seiner Gefängniszelle heraus detaillierte Projekte und Roadmaps für eine politische Lösung vorgelegt. Heute strebt die PKK eine Lösung der »kurdischen Frage« an, die auf einem demokratischen System basiert, welches lokale Autonomie und die Respektierung kultureller Unterschiede innerhalb bestehender Grenzen erlaubt. Die Staaten, die Kurdistan besetzt halten, akzeptieren jedoch keinen Status für KurdInnen und sind zur Fortsetzung ihrer gegenwärtigen Vorgehensweise entschlossen. (Im Irak ist die Situation seit der Gründung der autonomen kurdischen Region eine andere, aber die Entschlossenheit der Türkei, die kurdische Identität zu zerschlagen, wird stärker.)

Seit 1990 wurden in der Türkei viele politische Parteien mit dem Ziel gegründet, eine parlamentarische, gewaltfreie Lösung der »kurdischen Frage« zu finden. Die erste von ihnen, die »Arbeitspartei des Volkes« (HEP), umging die 10%-Wahlhürde des türkischen Staates, indem sie ihre KandidatInnen für die Parlamentswahlen 1991 auf der Liste der »Sozialdemokratischen Volkspartei« (SHP) nominierte und so mit 22 Abgeordneten ins Parlament einzog. Doch diese ParlamentarierInnen waren mit unglaublichen Angriffen konfrontiert. Am ersten Tag, als sie den nationalistischen Eid verlesen musste, sagte Leyla Zana auf Kurdisch: »Ich habe diesen Eid für die Geschwisterlichkeit des kurdischen und des türkischen Volkes verlesen«, und Hatip Dicle fügte hinzu: »Ich verlese diesen Eid unter dem Druck der Verfassung.« Der Parlamentssaal geriet in Aufruhr.

Es wurde ein Verbotsverfahren gegen die Partei eingeleitet, und gegen die meisten Abgeordneten wurden Ermittlungen eingeleitet. Vorsorglich wurde die »Demokratische Partei« (DEP) gegründet und alle Abgeordneten traten in die neue Partei ein. Innerhalb kurzer Zeit wurde die HEP verboten, aber gleichzeitig ein Verbotsverfahren gegen die DEP eingeleitet. Im September 1993 wurde dann bei einem von paramilitärischen Kräften organisierten Anschlag der Abgeordnete von Mêrdîn (Mardin), Mehmet Sincar, getötet und der Abgeordnete von Êlih (Batman), Nizamettin Toğuç, wurde verletzt. Im März 1994 wurde die Immunität für alle DEP-Parlamentsabgeordneten aufgehoben. Einige von ihnen waren einige Tage zuvor nach Europa geflohen, um der Inhaftierung zu entgehen, aber andere blieben zwei oder drei Tage im Parlamentsgebäude in dem Glauben, dass die Polizei nicht ins Parlament eindringen würde, um sie zu verhaften.

Die Polizei kam jedoch in das Parlament, verhaftete alle DEP-Abgeordneten und inhaftierte sie. Hatip Dicle, Orhan Doğan, Leyla Zana und Selim Sadak blieben zehn Jahre lang im Gefängnis. Diejenigen, die nach Europa kamen, sind immer noch hier und, wie tausende HDP-PolitikerInnen auch, müssen Dicle und Sadak nun mit dem Status eines Flüchtlings in Europa leben.

Später wurden andere nach dem gleichen Muster gegründete Parteien vom Verfassungsgericht verboten und ihre Vorstände sowie zahlreiche Mitglieder ins Gefängnis gesteckt. Und jetzt können alle den Druck sehen, dem die HDP aktuell ausgesetzt ist. Die Menschen wählen eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten, um sie im Parlament zu vertreten. Und normalerweise genießen ParlamentarierInnen rechtliche Immunität, während sie sprechen, schreiben und Veranstaltungen organisieren, um sich mit den Problemen ihrer WählerInnen zu befassen. Als Mitglied der HDP jedoch wird ihre Immunität durch ein diskriminierendes Urteil aufgehoben, sie werden vor Gericht gestellt und für alles, was sie gesagt oder getan haben, einschließlich der von der parlamentarischen Bühne aus gehaltenen Reden, inhaftiert.

Derzeit befinden sich einige HDP-Abgeordnete, darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Partei, im Gefängnis, die meisten anderen stehen wegen ihrer parlamentarischen Tätigkeit vor Gericht. Die von den Menschen bei den Kommunalwahlen als BürgermeisterInnen gewählten PolitikerInnen werden als Mitglieder der HDP vom Innenminister – ohne Gerichtsbeschluss – ihres Amtes enthoben, kommen ins Gefängnis und an ihrer Stelle wird von der Regierung ein Treuhänder ernannt. So wurden in der letzten Wahlperiode 98 von 103 BürgermeisterInnen aus ihrem Amt entfernt und durch Zwangsverwalter ersetzt, viele von ihnen sind noch immer im Gefängnis oder zu Flüchtlingen im Exil geworden.

Wenn Parteien, die im Einklang mit geltendem türkischem Recht gegründet wurden, so behandelt werden, nachdem sie für die Demokratisierung der Türkei und für die Anerkennung der Grundrechte des kurdischen Volkes eingetreten sind, was für eine Grundlage bleibt dann noch, sich über die Existenz der PKK zu beklagen? Die kurdische Gesellschaft, welche diese Behandlung miterlebt, wird sich zwangsläufig mit verschiedenen Methoden wehren, manchmal auch mit den Methoden, die die PKK jetzt anwendet. Die Türkei kann die PKK weiterhin des Terrorismus beschuldigen und dafür Unterstützung von internationalen Kräften und Organisationen bekommen, aber das wird das zugrunde liegende Problem nicht im Ansatz lösen.

Die HDP betont, dass der türkische Staat und die internationalen Kräfte eine neue Annäherung an die »kurdische Frage« und die Demokratie finden müssen, anstatt die PKK zu verurteilen und als terroristische Organisation zu behandeln. Die HDP hat somit eine klare Botschaft an die türkische Regierung: Ihr könnt all die fortgeschrittenen Waffen dieser Welt gegen die PKK einsetzen und diesen Krieg noch viele weitere Jahre fortsetzen, ihr könnt die HDP verbieten, so wie ihr frühere Parteien verboten habt, aber das wird die Probleme der Türkei nicht lösen können, sondern sie lediglich verschlimmern.

So unterscheidet sich die Herangehensweise der HDP von derjenigen des türkischen Staates und anderer politischer Parteien sowie internationaler Mächte.


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021