Über die Situation Abdullah Öcalans und des türkischen Staates und die HDP

Europa verhält sich heuchlerisch und opportunistisch

Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der KCK, im TV-Interview
Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der KCK

Sabri Ok hat sich als Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) im Programm »Rojeva Welat« bei Stêrk TV zu aktuellen politischen Themen geäußert. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus dem Interview, in dem er die Situation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, die türkische Staatspolitik und die Reaktionen in der Türkei und in Europa, insbesondere der deutschen Bundesregierung, auf das Verbotsverfahren der Demokratischen Partei der Völker (HDP) bewertet.

Am 25. März wurde das Telefongespräch mit der kurdischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan abgebrochen. Bei den Newroz-Feierlichkeiten machte die AKP-Regierung keine Schwierigkeiten. Mit welcher Absicht? Wie bewerten Sie die Haltung von Abdullah Öcalan und wie die Haltung der kurdischen Gesellschaft bei den Newroz-Feiern?

Newroz war immer ein sehr besonderer und wichtiger Tag für die kurdische Gesellschaft. Warum hat der türkische Besatzerstaat zu Newroz keine Probleme bereitet? Natürlich nicht, um das Newroz-Fest im Herzen der Menschen zu feiern, sondern weil er einen Plan hatte. Seit sechs Jahren werden gegen Abdullah Öcalan Isolation und Repression praktiziert. Seit sechs Jahren wird ununterbrochen ein schmutziger Krieg geführt. Der türkische Besatzerstaat hat in dem Kontext gedacht, dass der Wille unserer Gesellschaft gebrochen sei und sie sich von Abdullah Öcalan und der PKK entfernt habe. Davon wollte er profitieren. Newroz wird jedes Jahr von Millionen Menschen gefeiert, er rechnete damit, dass es diesmal nur eine kleine und marginale Gruppe sein würde. Der türkische Staat wollte daraus Gegenpropaganda machen und die Botschaft verbreiten, dass die Gesellschaft sich von der PKK getrennt habe, keiner mehr Newroz feiere und die Menschen nur unter dem Druck der PKK feiern würden. Doch diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Dass unsere Gesellschaft unter starkem Druck steht, das stimmt, aber sie hat auf den Plätzen beim Newroz-Fest ihren Willen kundgetan und der türkischen Regierung eine Ohrfeige verpasst. Die AKP-MHP-Regierung hatte nicht erwartet, dass die kurdische Gesellschaft auf diese Weise revoltieren würde. Millionen Menschen in den vier Teilen Kurdistans und in der Diaspora haben das Newroz-Fest unter dem Motto »Die Zeit ist reif für die Freiheit« gefeiert. Die Besatzer haben gesehen, dass sie den Willen des kurdischen Volkes nicht brechen können, selbst wenn sie diesen schmutzigen Krieg sechs oder sechzig Jahre lang fortsetzen würden.

In den sozialen Medien wurde verbreitet, dass Abdullah Öcalan sein Leben auf İmralı verloren habe. Der türkische Staat teilt jede Information bezüglich unserer Führungspersönlichkeit mit einem gewissen Ziel. Auch in der Vergangenheit wurden solche Nachrichten verbreitet. Damit wollen sie die bestehende Situation weiter normalisieren. Doch sowohl unsere Bewegung als auch die Gesellschaft hat eine starke Reaktion gezeigt. Der Staat war daraufhin gezwungen, ein Telefongespräch zuzulassen, was in der Mitte abgebrochen wurde. Die Äußerungen von Abdullah Öcalan sind sehr bedeutend. Seine wichtige Rolle für die Zukunft der kurdischen Gesellschaft und für die Völker in der Türkei ist dem türkischen Staat bewusst.

Willkürliche und rechtswidrige Herangehensweisen sind inakzeptabel. Auch Abdullah Öcalan hat dies nicht akzeptiert und gesehen, dass es auf der einen Seite eine anhaltende genozidale Politik gegen unsere Gesellschaft gibt und auf der anderen Seite seiner Person keine Rechte zugestanden werden. Das Telefongespräch wurde abgebrochen, als er diese Situation zu kritisieren begann. Sie fürchten seine Ideen, seine Philosophie, seine Gedanken.

Abdullah Öcalan leistet nun seit 23 Jahren Widerstand an einem Ort wie der Gefängnisinsel İmralı. Weil der türkische Staat sich vor diesem Widerstand fürchtet, werden alle Gesetze missachtet und jegliche Form von Folter wird angewandt. Auch wenn das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) eine scheinheilige Position fährt, hat es zuletzt auf die Isolation und Folter auf İmralı aufmerksam gemacht und deren Ende gefordert. Der Europarat hat ebenfalls Erklärungen in diese Richtung abgegeben. Die Proteste der kurdischen Gesellschaft gegen die Isolation dauern hingegen weiterhin unvermindert an. Trotz alldem erlaubt der türkische Staat keine Gespräche und lässt nur willkürlich ein Telefonat zu, das er dann mittendrin wieder abbricht. All dies sind Spezialkriegstechniken.

Ohne die Freiheit Abdullah Öcalans sind die Befreiung der kurdischen Gesellschaft und die Demokratisierung der Türkei nicht möglich. Der türkische Staat ist sich dessen bewusst. Der Grund für die gegenwärtigen Krisen und die Situation der Völker in der Türkei, die angesichts des AKP-MHP-Faschismus keine Luft zum Atmen mehr haben, ist der Umgang mit Abdullah Öcalan. Solange er nicht frei und die kurdische Frage nicht gelöst ist, werden diese Probleme weiter andauern.

Der türkische Staatspräsident Erdoğan hat vor sechs Jahren die İmralı-Friedensgespräche abgebrochen und den Verhandlungstisch verlassen. In was für einer Situation steckt der türkische Staat nach diesen sechs Jahren? Wie hat Ihre Bewegung diese Jahre erlebt?

Die sechs Jahre sind sehr intensiv vergangen. Unser Kampf verläuft im Grunde seit Beginn an so. Weder ist der Feind ein normaler Feind, noch ist die Situation der kurdischen Gesellschaft eine normale, noch ist unser Kampf ein normaler. Wir haben immer einen Kampf unter Ausnahmebedingungen geführt. Viele Opfer wurden gebracht, um die jetzige Situation zu erreichen. Die letzten sechs Jahre waren sowohl für unsere Gesellschaft, unsere Bewegung als auch für die besatzerische AKP-MHP-Regierung sehr bedeutend. Die letzten sechs Jahre unserer fünfzigjährigen Geschichte haben wir mit einem großen, ununterbrochenen Krieg durchlebt. Alle Vorbereitungen der AKP/MHP waren darauf ausgerichtet, den Willen der kurdischen Gesellschaft zu brechen und unsere Bewegung zu liquidieren. Sie haben daher alles mobilisiert und dafür allen Staaten Zugeständnisse gemacht.

Unsere Gesellschaft und unsere Bewegung haben in diesem Bewusstsein noch stärker Widerstand geleistet und dieser dauert auch weiterhin an. Wir haben ohne Zweifel große Opfer gebracht gegenüber diesen brutalen Angriffen. Wir haben mit dem Willen der Guerilla und der Philosophie von Abdullah Öcalan Widerstand geleistet. Wenn wir die letzte sechsjährige Phase des türkischen Staates und des AKP-MHP-Faschismus betrachten, haben wir sie arg in Bedrängnis gebracht. Wäre der Widerstand der PKK nicht gewesen, dann ist nicht abzuschätzen, wie der AKP-MHP-Faschismus sich weiter entwickelt hätte. Denn sie hatten kein Hindernis vor sich. Der Widerstand und Kampf der PKK hat einen Erfolg der genozidalen Politik verhindert. Infolge dieses Widerstands und Kampfes wird darüber gesprochen, wann der AKP-MHP-Faschismus enden wird.

Seit Jahren propagieren sie das Ende unserer Bewegung. Sie hatten dafür sogar schon Termine genannt. Trotzdem steht die Bewegung weiterhin und leistet mit großer Moral und Kraft Widerstand. Es haben Dutzende Minister- und Staatspräsidenten sowie Generalstabschefs des türkischen Staates gewechselt, aber die PKK ist immer noch auf den Beinen.

Wie Sie bereits anmerkten, steckt die AKP-MHP-Regierung in einer großen Krise. Im April haben pensionierte Admiräle eine Erklärung veröffentlicht. Was war der Auslöser dafür?

Der Staat kann sich zurzeit nur schwer behaupten. Die politische und die wirtschaftliche Situation sind offensichtlich. Die Gesellschaft ist in einer hilflosen und hoffnungslosen Situation. Es gibt auch außerhalb von AKP und MHP bestimmte Kreise, die erklären »dieser Staat ist unser Staat« und ihre Stimme erheben. Die Admiräle sind solch ein Kreis. Außer ihnen gibt es noch andere, die beunruhigt sind über die Situation des Staates, in welche die AKP-MHP-Regierung ihn manövriert hat. Man kann sie im Allgemeinen als staatliche bzw. etatistische Kreise definieren. Die staatlichen kemalistischen Kreise wollen keinen Staat, der unter dem Einfluss bestimmter Orden und religiöser Gruppen steht.

Unter den jetzigen Bedingungen ist auch die AKP in großer Panik und weiß, dass sie bei einer Wahl verlieren würde. Ihr Ziel ist es, wieder etwas an Kraft zu gewinnen. Gestützt auf alte Erfahrungen versuchen sie nun mit Orden und religiösen Gruppen Beziehungen zu knüpfen. Daneben gibt es die klassischen staatstreuen Kreise, die den Staat in seiner alten Form und einer von religiösen Orden dominierten Struktur beibehalten wollen. Auf dieser Basis reagieren sie unterschiedlich. Sie stellen eine bestimmte Kraft dar. Es sind nicht nur die pensionierten Admiräle, sondern auch in der Armee gibt es diesen Einfluss. Die AKP hat mit der militärischen Struktur gespielt. Es gibt nicht mehr die alte türkische Militärstruktur, sondern es ist nun eine Struktur, in der verschiedene Gemeinschaften ihren Einfluss haben.

Aus diesem Grund haben die pensionierten Admiräle diese Erklärung veröffentlicht und ihre Reaktion kundgetan. Ihre Sorge gilt nicht der Demokratie. Sie gilt nicht dem Demokratieproblem und den rechtsstaatlichen Problemen in der Türkei. AKP und MHP haben das Land zusammen mit den Orden und Gemeinden in ein Familienunternehmen verwandelt. Das einzige Ziel der pensionierten Admiräle ist es, die klassische Staatsstruktur zu erhalten. Dies zeigt uns eine Zunahme der Widersprüche und Konflikte innerhalb des Staates, innerhalb der AKP, der Armee und der verschiedenen staatlichen Kreise.

Im Grunde sind alle mit dem bestehenden faschistischen Regime in Konflikt. Jeder sagt, dass diese Situation so nicht weitergehen kann. Bislang hat die AKP ihre ganze Strategie und Politik darauf ausgerichtet, unsere Bewegung zu zerschlagen. Ihre Außenpolitik, Wirtschaft und Innenpolitik sind darauf ausgerichtet. Als sie ihre Ziele nicht erreichen konnten, hat sich dies negativ auf sie ausgewirkt. Nun wollen sie sich mit verschiedenen Initiativen auf internationaler Ebene behaupten. Im Zusammenhang mit dem Vertrag von Montreux1 wollen sie sich bei den USA einschmeicheln, also Zugeständnisse machen. Die pensionierten Admiräle erklären, dass es ein Vertrag zu Gunsten der USA sei, und sind daher auch besorgt, dass es Probleme mit Russland geben könnte. Es geht in dieser Erklärung nicht um die Demokratie, Freiheit oder Menschenrechte in der Türkei. Mit anderen Worten, diese Situation zeigt uns nur, dass innerstaatliche Widersprüche und Konflikte zunehmen.

Nach dieser Erklärung versucht die türkische Regierung nun wieder mit einer Taktik, sich in eine Opferrolle zu begeben, die Gesellschaft auf ihre Seite zu ziehen. Das ist eine große Lüge, denn es gibt keine Opferposition. Es gibt auch keinen Putsch, wie sie erklärten. Doch die Widersprüche zwischen ihnen sind sehr intensiv. Es ist schwer vorherzusagen, wann zwischen ihnen was passieren wird. Weil die AKP-MHP-Regierung den Staat ganz im Einklang mit ihren eigenen Ambitionen und Interessen nutzt. Auch ein Putsch ist möglich. Aber es ist schwer zu sagen, wann und in welcher Form. Die Widersprüche drehen sich darum, wer wie lange an der Macht sein wird. Momentan kann nicht mehr von einer ernsthaften Staatlichkeit die Rede sein. Sie haben Recht, Gerechtigkeit und politische Prinzipien auf das Abstellgleis geschoben.
Dass keine ernsthafte Staatlichkeit mehr übrig geblieben ist, zeigt das Verhältnis des MHP-Vorsitzenden zum Mafiaboss Alaattin Çakıcı. Diese Beziehung, die offenen Treffen und seine illegale Freilassung bringen die Situation des Staates gut zum Ausdruck. Die vom Staat gestärkten Mafiosi bedrohen offen die Politiker. Dieses faschistische AKP-MHP-Regime kann nicht länger so weitermachen. Auch außenpolitisch haben sie keine Referenz mehr. In der letzten Entscheidung zum Libyen-Konflikt hieß es, dass sich alle Kräfte aus Libyen zurückziehen sollen. Was hat der türkische Staat mit seiner Offensive in Libyen gewonnen? Nichts. Werden Kräfte wie England, Frankreich und die USA die Initiative der Türkei überlassen? Werden die USA und Russland dem türkischen Staat in Syrien erlauben sich zu bewegen, wie er will? Jetzt versuchen sie mit einigen Vorstößen in Südkurdistan und ihrer NATO-Mitgliedschaft die Tagesordnung zu bestimmen. Aber auch bei diesen Themen bleibt ihnen nicht mehr viel Handlungsspielraum.

Wie bewerten Sie die Reaktionen der türkischen Opposition und internationaler Institutionen auf das Schließungsverfahren gegen die HDP?

Die wesentliche Opposition in der Türkei ist die HDP. Sie betreibt wirkliche demokratische Opposition und vertritt die Rechte und Forderungen der Frauen, der Jugend und der anderen gesellschaftlichen Gruppen. Das weiß auch das faschistische Regime von AKP und MHP. Aus diesem Grund greift es die HDP unentwegt an. Wenn die anderen Parteien, die CHP und die İyi-Partei, wirklich oppositionelle Politik machen würden, wäre die Regierung keinen Tag länger an der Macht. Würden alle politischen Parteien zusammenkommen und auf einer Pressekonferenz erklären, dass AKP und MHP das Land wie einen Bauernhof regierten und nur ihre eigenen Interessen verträten, wäre es vorbei mit der Regierung. Das tun sie jedoch nicht, weil es in ihrer politischen Tradition keine demokratische Kultur gibt.

Vor allem in der kurdischen Frage und beim Thema Demokratisierung der Türkei sind sie feige. Die HDP hingegen agiert an diesem Punkt verantwortungsbewusst und mutig. Das ist der Grund, warum sie auf allen Ebenen angegriffen wird. Zum Beispiel wurde zuletzt Ömer Faruk Gergerlioğlu verhaftet. Er ist ein Mensch mit Würde, der die Menschenrechte unter allen Umständen verteidigt. Er wurde brutal von einem Polizisten aus seiner Wohnung geholt, den er zuvor als Folterer auf die Tagesordnung gebracht hatte. Dieser Fakt steht sinnbildlich für diesen Staat. Kein Mensch soll ein einziges Wort gegen die Regierung aussprechen dürfen. Alle sollen in einen stummen und willenlosen Zustand versetzt werden. Die HDP steht den Machthabenden dabei im Weg. Wenn sie beiseitegeschafft wird, ist die Bahn frei. Der Widerstand und die Haltung der HDP sind in dieser Hinsicht sehr ehrenhaft und wichtig. Sie sollte sich selbst vertrauen und diese Haltung bewahren.

Wenn CHP und İyi-Partei nicht für wirkliche Demokratie kämpfen, werden sie nicht über ihren Ist-Zustand hinauskommen. Sie werden niemals an die Regierung kommen. Wenn sie wirklich eine Veränderung wollen, müssen sie ein Bündnis mit der HDP eingehen. Gelingt ihnen das nicht, ist ihre Politik eine einzige Lüge. Das weiß inzwischen auch die Gesellschaft in der Türkei.

Die HDP befindet sich in einer Schlüsselposition. Weil das allgemein bekannt ist, wurde ein Verbotsverfahren eingeleitet. Hunderten Politikerinnen und Politikern soll ein politisches Betätigungsverbot erteilt werden. Finanzielle Zuwendungen sollen eingestellt werden, damit die HDP ihren Einfluss verliert. Die Angriffe auf sie werden weitergehen, das sollte sowohl die HDP als auch das kurdische Volk wissen.

Dass die HDP verboten wird, ist wahrscheinlich. So wie zuletzt im Fall Gergerlioğlu wird versucht werden, alle ihre Politikerinnen und Politiker ins Gefängnis zu bringen und Angst zu verbreiten. Ihr Wille soll gebrochen werden. Die HDP diskutiert natürlich intern darüber, welche Alternative möglich ist. Letztendlich wird ihr der politische Weg immer offen stehen, denn sie ist aus einer politischen Tradition hervorgegangen, hinter der Millionen Menschen stehen. Sie wird ihren eigenen Weg finden. Bisher hat sie Widerstand geleistet; diese würdevolle Haltung sollte sie beibehalten. Das Ausmaß des Widerstands ist ausschlaggebend für die Auswirkungen der stattfindenden Angriffe. Auf internationaler Ebene gibt es Proteste von Institutionen und Personen. Diese Solidarität ist wichtig.

Die Reaktion der Staaten ist unterschiedlich. Beispielsweise hat der deutsche Staat vor kurzem in einer Erklärung dem türkischen Staat nach dem Mund geredet: Die HDP solle sich von der PKK distanzieren. Warum macht Deutschland das? Es ist genau das, was die AKP täglich wiederholt. Im Wesentlichen muss man die Bundesregierung und die europäischen Staaten fragen: Wo sind die von Millionen Menschen gewählten Politikerinnen und Politiker jetzt? Warum werden sie ins Gefängnis gesteckt? Alle HDP-geführten Rathäuser sind usurpiert worden, überall wurden Zwangsverwalter eingesetzt. Bis hin zu den Ortsvorstehern werden von Millionen Menschen gewählte Personen des Amtes enthoben und ins Gefängnis geworfen. Danach sollte die EU die Türkei fragen. Sie sollte nachfragen, wo diese Menschen sind. Waren das alles Terroristen? Europa verhält sich in dieser Hinsicht heuchlerisch und opportunistisch.

Nach allem, was passiert ist, wird von der HDP tatsächlich eine Distanzierung von der PKK gefordert. Dahinter stehen ausschließlich schmutzige Eigeninteressen. Zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien hat Erdoğan auf gerissene Weise erklärt: »Wir haben gemäß der osmanischen Tradition die Tore geöffnet, alle Menschen können zu uns flüchten.« Durch diesen Aufruf sind Millionen Schutzsuchende in die Türkei gekommen. Diese Menschen werden jetzt maßlos und unmoralisch als Trumpf gegen Europa ausgespielt. Bei der kleinsten Unstimmigkeit wird damit gedroht, die Grenzen zu öffnen und alle nach Europa zu schicken. Die EU und vor allem Deutschland machen angesichts dieser Drohung alle erdenklichen Zugeständnisse. Ihre Politik wird von gegenseitigen schmutzigen Interessen bestimmt.

Diese heuchlerische und opportunistische Politik hat mit demokratischen Werten nichts mehr zu tun. Es ist ja nicht so, dass Deutschland oder die EU an die Politik oder den Verlautbarungen der AKP glauben würden. Sie machen Zugeständnisse für ihre eigenen Interessen. In dieser Hinsicht sehen wir den Ansatz Deutschlands und der EU als unehrliche Politik mit zwei Gesichtern. Darüber hinaus gibt es jedoch viele Reaktionen von Institutionen und Personen in Europa, die wir sehr positiv und wertvoll finden. Die HDP sollte ihre diplomatische Arbeit intensiv fortsetzen. Noch wichtiger ist es, dass unser Volk sich selbst vertraut und seinen gerechtfertigten Kampf weiterführt. Wir sprechen hier von einer jahrzehntelangen Erfahrung und Tradition. Ohne die HDP sieht die Zukunft der Türkei finster aus. In diesem Bewusstsein sollte gehandelt werden. Die Zukunft gehört unserem Volk und der HDP. Eine andere Alternative gibt es nicht.

Fußnote:

1 - Das Schifffahrtsabkommen von 1936 regelt die Durchfahrt im Bosporus und in den Dardanellen und garantiert u. a. zivilen Schiffen die Durchfahrt in Kriegs- und Friedenszeiten. Die Admiräle hatten sich in ihrer Erklärung dazu bekannt und Erdoğans dortiges Großprojekt »Kanal Istanbul« kritisiert.


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021