Zum 25. Todestag von Cengiz Ulutürk – Munzur

Von Anatolien nach Berlin, von Berlin nach Kurdistan

Anja Flach, Autorin und Ethnologin

Zum 25. Todestag von Cengiz Ulutürk – Munzur25 Jahre sind vergangen, seitdem Cengiz Ulutürk sein Leben in den kurdischen Bergen verloren hat. Heute wäre er fast 50 Jahre alt. Seine Biografie ist eine Besonderheit in der Geschichte der Guerilla. Vermutlich ist er der erste türkische Internationalist, der sich aus Deutschland der Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK), der Vorgängerorganisation der Volksverteidigungskräfte (HPG), angeschlossen hatte. Vor dem Hintergrund u. a. der rassistischen Morde von Hanau und Celle und der Versuche der Neuorganisierung ist es umso bedeutsamer, sich mit seiner politischen Herkunft zu beschäftigen. Cengiz war Antifaschist, genauer: Er war Mitglied der Antifaşist Gençlik, der »Antifaschistischen Jugend«, er hatte sie mit aufgebaut.

Cengiz‘ Familie stammte aus Sivrihisar, bei Eskişehir nahe Ankara, aber Cengiz war in Berlin groß geworden. In Deutschland fand er es schwierig, sich in einer Umgebung auszudrücken, die weit von seinen eigenen Werten, Ideen und Gefühlen entfernt war. Eine Freundin beschreibt, dass er eine große Abneigung seinem Vater gegenüber hatte, aber eine tiefe Liebe zu seiner Mutter. Diese habe er häufig besucht und über sie gesprochen. Seine Familie führte ein isoliertes und verschlossenes Leben, um sich selbst zu schützen, aber er hatte das Gefühl, dass dies nicht die richtige Lösung in einer Umgebung der Ausbeutung und Erniedrigung war. Er suchte einen anderen Weg und kam in Kontakt mit antifaschistischen Gruppen aus der Türkei, Kurdistan und Deutschland.

Antifaşist Gençlik

Die sogenannte Wiedervereinigung Deutschlands hatte eine extreme nationalistische Welle hervorgebracht. Pogromartige Angriffe wie in Hoyerswerda1, der Brandanschlag von Mölln2, der Angriff in Rostock-Lichtenhagen3, der Anschlag in Solingen4 waren die krassesten Auswüchse, fast täglich gab es Tote. In Ostberliner S-Bahnen wurden Migrant:innen angegriffen, sogar aus fahrenden Zügen geworfen. Es war die Zeit der Baseballschlägernazis. Als Reaktion bildeten sich Jugendgangs und die Antifaşist Gençlik, eine erste migrantische antifaschistische Organisation in Deutschland.

»Die Organisation der Selbstverteidigung wurde zu einer zentralen Frage der politischen Arbeit und des täglichen Überlebens. In diesem Kontext entstand die Antifa Gençlik, der es vor allem darum ging, Nazis offen zu konfrontieren und von zentralen Orten zu verdrängen. Die Antifa Gençlik war stark praxisorientiert, doch gab es auch die Bemühung, Analysen der Verhältnisse in Deutschland zu erstellen.«5 Diese wurden in der Zeitschrift Antifaşist Haber Bülteni veröffentlicht.

Die Gruppe entstand 1988 im Umfeld des kurdischen Vereins in Neukölln und in Kreuzberg, wo sie ein Café im besetzten Haus Adalbertstraße 6 betrieb. Ab 1989 nannte sie sich Antifaşist Gençlik. Auch Cengiz arbeitete mit. Freund:innen beschreiben ihn als zugewandt, herzlich, hilfsbereit und offen. Er hatte enge Kontakte zu Kurd:innen der PKK-Bewegung, die damals noch nicht verboten war.

Der Kern von Antifaşist Gençlik war nie sehr groß, bestand vielleicht aus 10 bis 15 Personen. Die Gruppe hatte jedoch ein großes Umfeld, darunter Türk:innen und Kurd:innen, Chilen:innen, Griech:innen, Araber:innen und weitere. Die größten Mobilisierungen brachten Tausende auf die Straße.

Die meisten Mitglieder von Antifaşist Gençlik kamen aus organisierten türkischen und kurdischen Strukturen. »Viele der Linken haben uns als ideologielose Leute bezeichnet, die keine politische Linie verfolgen und im Endeffekt selbst eine Art Bande sind. Die PKK hatte demgegenüber eine andere Position. Sie meinten, dass es besser sei, die Jugendlichen auf der Straße zu politisieren, als ›im Blumentopf‹ – also in einem Verein beim Teetrinken«6, beschreibt ein Aktivist diese Zeit.

Ende der 1980er Jahre entstanden in vielen großen Städten Gangs migrantischer Jugendlicher, z. B. in Berlin-Wedding die Black Panthers, die 36 Boys in Kreuzberg, die Barbaren in Schöneberg. Die Antifaşist Gençlik versuchte, diese Gangs zusammenzubringen und zu politisieren. Gemeinsam patrouillierte man in den Vierteln, stellte die räumliche Dominanz der Rechten in Frage. So organisierte die Gruppe 1992 die Veranstaltung Birlikte Güclüyüz – Gemeinsam sind wir stark! 600–700 Jugendliche kamen im SO 36 zusammen, um zu rappen und zum Breakdance. Zu dieser Zeit hatte der Berliner Senat eine Kampagne gestartet, um die Politisierung der Gangs zu unterbinden. Offensichtlich hatte der VS (Verfassungsschutz) einen Agent Provocateur in den Saal geschickt, es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Arbeit mit den Gangs war zerschlagen. Die Selbstkritik und Analyse in der Gruppe führte zu dem Ergebnis, dass viel mehr Bildungsarbeit notwendig gewesen wäre.7

Repression

Nachdem der rechtsextreme Politiker Gerhard Kaindl, Mitglied der Deutschen Liga für Volk und Heimat und Kandidat der Wählergemeinschaft »Die Nationalen«, im April 1992 nach einer Auseinandersetzung mit jugendlichen Antifaschist:innen in einem Kreuzberger Restaurant seinen Verletzungen erlag, wurden das politisches Umfeld der Antifaşist Gençlik und die Gruppe selbst verdächtigt. Nach eineinhalb Jahren erfolgloser Ermittlungen stellte sich im November 1993 ein an Schizophrenie erkrankter, siebzehnjähriger Jugendlicher der Polizei. Er belastete die Antifaşist Gençlik und ihr Umfeld, woraufhin vier Jugendliche festgenommen wurden und weitere mit Haftbefehl Gesuchte untertauchten. Die Presse, unter ihnen die taz, vertrat die Linie des Staatsschutzes.8

Zwei Mitglieder stellten sich 1994 der Polizei, woraufhin sie in Untersuchungshaft gingen. Cengiz konnte gerade noch einer Festnahme entkommen, sprang vom Balkon seiner Wohnung und tauchte unter. Nach einiger Zeit in verschiedenen Verstecken ging er in den Mittleren Osten und schloss sich der ARGK an.

Im September 1994 begann in Berlin ein Prozess gegen sieben vorwiegend türkische und kurdische Antifaschist:innen. Ihnen wurden »gemeinschaftlicher Mord und sechsfache gefährliche Körperverletzung« vorgeworfen. Im November 1994 wurden die Angeklagten zu Bewährungsstrafen von fünfzehn Monaten bis zu Haftstrafen von drei Jahren verurteilt, ein weiterer Angeklagter wurde freigesprochen. Da war Cengiz schon in Kurdistan.

Devrimci Halk Partisi

Anfang der 1990er Jahre waren viele Revolutionär:innen mit türkischer Herkunft vorwiegend von den Universitäten zur PKK gekommen. In der Parteischule diskutierte der Vorsitzende Abdullah Öcalan mit ihnen, wie die Revolution in der Türkei jenseits vom Dogmatismus großer Teile der türkischen Linken weiterentwickelt werden könnte. Der Vorsitzende schlug ihnen vor, zunächst in den Städten in der Türkei legale Gruppen aufzubauen. Dies geschah u. a. in Ege, Izmir und Istanbul. So wurde die Devrimci Halk Partisi (Revolutionäre Volkspartei, DHP) gegründet. In der Türkei breitete sie sich schnell aus. Der türkische Staat reagierte mit Repression; ab 1993 wurden viele Mitglieder festgenommen, sie bekamen hohe Haftstrafen. Ziel war es, Angst zu verbreiten. Die Genoss:innen gingen in die Berge.

Eine ideologische Zeitschrift mit dem Namen Alternatif und einer Auflage von 20.000 wurde herausgegeben. Auch in Deutschland wurde die Gruppe aktiv und eröffnete ein Büro in Köln.

Als Cengiz zur Guerilla kam, wurde ihm vorgeschlagen, sich ebenfalls der DHP anzuschließen, was er mit großer Begeisterung tat. Cengiz war entschlossen, den Kampf von den Kämpfer:innen selbst zu lernen und die Geschwisterlichkeit der Völker im Kampf zu entwickeln. Inspiriert von Kemal Pir nahm er zunächst den Kampfnamen Kemal an.

Er wurde Teil des Guerillalebens und nach seiner zweijährigen Ausbildung zog er in die Berge Anatoliens weiter. Während seiner Zeit im Taurusgebirge erlebte er die Gastfreundschaft und Menschlichkeit der anatolischen Turkmen:innen.

Guerilla

Persönlich habe ich Cengiz zweimal im Winter 1995/96 für wenige Stunden getroffen. Diese Treffen, obwohl nur so kurz, haben großen Eindruck bei mir hinterlassen. Zu der Zeit hatte er den Kampfnamen Munzur angenommen. Aus meinem Tagebuch: »Ein Freund aus Deutschland ist auf dem Weg zum Logistikpunkt bei uns vorbeigekommen. Heval Munzur ist Türke und in Berlin groß geworden. Es ist wunderbar, sich mal wieder fließend unterhalten zu können. Er hat sich einer DHP-Gruppe (Devrimci Halk Partisi, Revolutionäre Volkspartei) angeschlossen. Die Freunde der DHP haben wir schon in der Akademie9 kennen gelernt. Sie wollen eine revolutionäre Plattform aufbauen und den Kampf in die Türkei tragen. Ihr Unterricht ist in türkischer Sprache und auch inhaltlich anders, da sie sich viel mit den Fehlern der türkischen Linken auseinandersetzen. Einige von ihnen werden bald in die Praxis gehen, in Gebiete der Türkei und nach Dersim. Heval Munzur versteht meine Schwierigkeiten. Die kurdische Kultur war ihm genauso fremd wie mir, als er vor einigen Jahren gekommen ist. In Berlin war er in der Antifa organisiert, kennt also auch die Probleme der deutschen Linken. In der BRD wurde er gesucht. Das war aber nicht der Grund, sich der Guerilla anzuschließen, es war nur ein Auslöser. Es ist offensichtlich, dass er bei der Guerilla glücklich ist. Munzur strahlt eine mitreißende Energie aus und kann es kaum erwarten, in die Kampfgebiete im Norden zu gehen. Sein größter Wunsch ist es, nach Dersim zu gehen, eine der nördlichen Provinzen Kurdistans. Dort gibt es auch Guerillakräfte linker türkischer Organisationen, z. B. der TIKKO. Was Heval Munzur mir noch mit auf den Weg geben kann, sind seine Erfahrungen: ›Es ist wichtig, dass du nie so herangehst: ›Keiner versteht mich.‹ Vielmehr musst du erst mal versuchen, die Realität, aus der die Freunde kommen, zu verstehen. Das ist nicht immer leicht, aber du musst bedenken, dass die meisten von ihnen das Leben in Europa nicht kennen.‹«10 Diesen Ratschlag habe ich mir sehr zu Herzen genommen. Er erklärt mir, dass sie in unserem Gebiet etwa 30 Freund:innen bei der DHP sind, zwei Freundinnen sind im Kampf gegen die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) im Winter gefallen, Mizgîn und Ronahî. 10 werden im Frühjahr in den Kampf gehen, er wird auch dabei sein.11

1997 traf ich die türkische Freundin Güneș aus der DHP in Botan wieder. Sie berichtete mir von Heval Munzur. Er sei im Juni 1996 auf dem Weg nach Dersim gefallen. Seine Gruppe war in einen Hinterhalt geraten.

»Wir brauchen unabhängige Selbstorganisierung wie die Antifa Gençlik, unabhängig von staatlichen Strukturen und Parteien, nicht in Abgrenzung zueinander, sondern auf Augenhöhe. Dafür müssen neue Plattformen geschaffen werden, neue Sprachen, neue Beziehungen. Wir sind in den letzten Jahren durch identitätspolitische Haltungen auf allen Seiten – auch die deutsche Linke ist identitätspolitisch – zu sehr isoliert voneinander. Wir brauchen Solidarität. Alleine entsteht aber keine Solidarität. Wir müssen zusammenkommen und lernen, intersektional und auf Augenhöhe Politik zu machen«,12 so Garip Bali, ein Zeitzeuge aus Berlin.

Cengiz Leben und Kampf ist ein Gruß an alle, die Widerstand leisten, an die Antifa, die in den Straßen gegen die Faschisten kämpft, an den Guerillawiderstand der Würde und der Menschlichkeit und an alle, die entschlossen sind, den Kampf um jeden Preis für ein Leben in Würde fortzusetzen.

Alle zusammen gegen den Faschismus! 

Fußnoten:

1 - Dort fanden zwischen dem 17. und 23. September 1991 Angriffe auf Wohnheime u.a. für Vertragsarbeiter:innen statt. Teilweise beteiligten sich bis zu 500 Personen. Die Polizei war angeblich nicht in der Lage, die Angriffe zu stoppen.

2 - Bei dem rechtsextremen Brandanschlag am 23. November 1992 kamen Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz ums Leben, neun Menschen wurden schwer verletzt.

3 - Die Angriffe von Nazis zwischen dem 22. und 26. August 1992 gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen im sogenannten Sonnenblumenhaus waren die massivsten rassistisch motivierten Angriffe in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

4 - Rechtsextremer Brandanschlag am 29. Mai 1993. Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç starben, 17 Menschen wurden schwer verletzt.

5 - Ak wantok (hg.): Antifa Gençlik, Unrast 3. Auflage 2021, S. 14

6 - Ebd.

7 - Interview Arranca Sommer 1994

8 - Ak wantok (hg.): Antifa Gençlik, Unrast 3. Auflage 2021

9 - Parteischule der PKK in Damaskus

10 - Jiyaneke din – ein anderes Leben, Köln 2003

11 - Die Geschichte der DHP aufzurollen würde hier den Rahmen sprengen. In einer der nächsten Ausgaben soll jedoch ein Interview mit einer Freundin aus der Aufbaugruppe veröffentlicht werden.

12 - http://freiesicht.org/2020/was-koennen-wir-vom-migrantischen-selbstschutz-der-1990er-lernen-interview-ceren-tuerkmen/


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021