»Internationale Initiative: DEFEND KURDISTAN – gegen die türkische Besatzung!«

Friedensdelegation nach Südkurdistan: ein Erfolg

Kalle Schönfeld, Mitglied der Delegation

Friedensdelegation nach Südkurdistan: ein Erfolg Mit der Friedensdelegation ist es gelungen, ein solidarisches Zeichen gegen staatliche Gewalt, Repression und Kriegspolitik zu setzen und den Schleier des Schweigens um den Krieg in Südkurdistan vor der Weltöffentlichkeit zu zerreißen.

Die gefährlichen Entwicklungen seit der Eskalation der türkischen Angriffe am 23. April 2021 machte eine schnelle Antwort der solidarischen internationalen Kräfte notwendig. Die Machthaber im türkischen Staat und ihre Verbündeten wollten die Ablenkung der Weltöffentlichkeit durch die Corona-Krise und die damit verbundenen Reisebeschränkungen nutzen, um in ihrem Schatten eine schnelle Entscheidung im Angriffskrieg in Südkurdistan zu erzwingen. Dagegen sahen und sehen es weltweit viele Organisationen und Personen als ihre Pflicht an, Seite an Seite mit dem kurdischen Volk gegen die geplante Besetzung Südkurdistans zu stehen und einen durch die Türkei befeuerten innerkurdischen Krieg zu verhindern. Diese aktive und praktische Solidarität sollte im Kontakt mit der Gesellschaft in Südkurdistan ausgeübt werden, um zum Dialog zwischen den politischen Akteur:innen beizutragen, internationale Öffentlichkeit für deren Anliegen zu schaffen und den vom Barzanî-Clan beherrschten Parteiapparat der PDK dahingehend unter Druck zu setzen, von der Kollaboration mit der Türkei abzurücken. Auch die Verbündeten der Türkei in der NATO sollten merken, dass ihre geostrategischen Machtspiele in der Region von einer internationalen zivilen Öffentlichkeit nicht unwidersprochen bleiben. Den Völkerrechtsbrüchen, Genoziden und Angriffskriegen der staatlichen Mächte galt und gilt es, eine Antwort der internationalen Zivilgesellschaft entgegenzusetzen.

Um dieses Ziel zu erreichen, wurde die »Internationale Initiative: DEFEND KURDISTAN – gegen die türkische Besatzung!« ins Leben gerufen.

150 Politiker:innen, Akademiker:innen, Menschenrechts­aktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen, Femi­nist:innen und Umweltaktivist:innen aus elf europäischen Ländern wollten nach Hewlêr (Erbil) reisen, um sich über die Situation zu informieren, Parlamentsvertreter:innen aller Parteien und NGO-Vertreter:innen zu treffen und zu einem Dialog zwischen verschiedenen politischen Akteur:innen beizutragen. Ein Besuch der durch die türkischen Militäreinsätze zerstörten Dörfer und Gespräche mit den unmittelbar Leidttragenden des Krieges waren geplant. Von großer symbolischer Bedeutung ist, dass die Delegation zeitgleich zum NATO-Gipfel in Brüssel am 14. Juni stattfinden sollte, auf dem, wie sich später herausstellte, um den Preis gehandelt wurde, für den Erdoğan bereit sei, dem westlichen Machtblock die »Treue« zu halten.

Die Ziele der Initiative beschreibt eine Erklärung der deutschen Delegationsteilnehmer:innen so:

»Wie viele sowohl militärische Provokationen der Türkei als auch jahrelange Besatzung außerhalb der Grenzen des türkischen Staatsgebiets, erfährt auch der seit dem 23. April andauernde Krieg keine öffentliche Aufmerksamkeit. Dieses Schweigen der internationalen Medien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien und Regierungen zu brechen, um den Weg zu Frieden zu ebnen, ist unsere Hauptintention.«

Repression

Obwohl sich Organisator:innen und Teilnehmer:innen im Vorfeld um Diskretion bemühten, wurde schnell deutlich, dass die staatlichen Mächte von dieser Initiative Wind bekommen hatten und offensichtlich von ihr derart beunruhigt waren, dass sie die Demaskierung ihrer Sicherheitsapparate bis zum Verfassungsbruch riskierten, um die Delegation zu verhindern.

Bereits in der Zeit vom 7. bis zum 10. Juni waren kleinere Gruppen bei ihrer Ankunft in Hewlêr verhaftet und abgeschoben worden. Besonders besorgniserregend ist dabei die Verhaftung von drei Vertretern der Selbstverwaltung in Nordsyrien, Cîhad Hesen, Mistefa Osman Xelîl und Mistefa Ezîz Mistê, die ohne den Schutz europäischer Pässe von PDK-Kräften verhaftet wurden, von denen bekannt ist, dass sie Foltergefängnisse betreiben. Über ihren Verbleib ist bei Redaktionsschluss noch nichts bekannt.

Das internationale Ausmaß der Repression wurde deutlich, als einer europäischen Delegationsgruppe bereits bei der Anreise über den Flughafen Doha auf dem Territorium des Türkei-Verbündeten Qatar die Weiterreise nach Hewlêr verweigert wurde.

Ein weiterer enger Verbündeter der Türkei ging noch einen Schritt weiter auf dem Weg staatlicher Willkür, als er seinen eigenen Staatsbürgern die Ausreise zur Delegation verweigerte.

Offensichtlich auf türkische Anfrage und vermutlich mithilfe türkischer Geheimdienstinformationen setzte die deutsche Bundespolizei am 12. Juni einen Großteil der deutschen Delegation fest und verhängte für die Mehrzahl von ihnen ein Ausreiseverbot mit der expliziten Begründung, dass »eine Teilnahme deutscher Staatsbürger [...] die Beziehungen zur Türkei weiter negativ belastet«.

Auch einen Verfassungsbruch nahmen die Auftraggeber der Aktion in Kauf, da Delegationsmitglied Cansu Özdemir als Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete in ihrer Arbeit als Parlamentarierin behindert wurde.

In Hewlêr ging gleichzeitig die Repression durch die PDK weiter. Hier waren es Personen in zivil, die die Reisenden ohne Angabe von Gründen aus den Warteschlangen oder vom Flughafenparkplatz herauszogen und festsetzten. Da sie jede Auskunft verweigerten, wer sie seien und zu welcher Organisation sie gehörten und der uniformierten Polizei offenbar übergeordnet waren, kann vermutet werden, dass sie einem Geheimdienst, etwa den »Parastin û Zanyarî« angehörten. Abgeschlossene Einreiseformalitäten und gültige Visastempel waren bei dieser Zwangsmaßnahme nur ein Schulterzucken wert. Der Abschiebebereich des Flughafens war bald derart mit Personen aus der Schweiz, Belgien, Italien, Deutschland und den Niederlanden überfüllt, dass eine Delegationsgruppe aus Schweden zwölf Stunden von Geheimdienstlern bewacht in der Flughafenhalle herumwandern musste. Eine Gruppe aus Slowenien war drei Tage lang im Abschiebebereich festgehalten worden.

Insgesamt 50 Personen wurden in Hewlêr festgesetzt und abgeschoben, darunter der ehemalige Bürgermeister Demir Çelik und der Linken-Politiker und alevitische Gemeindevertreter Ecevit Emre. Der Berliner Stadtverordnete Hakan Taş musste 12 Stunden am Flughafen ausharren, bevor er einreisen konnte.

Die Delegation

Trotz dieser international koordinierten Repressionswelle konnten von 150 Delegierten etwa 80 den Tagungsort in Hewlêr erreichen und ihre Arbeit trotz weiterer Repressalien aufnehmen. Zwar verhinderte die Barzanî-PDK durch Einschüchterung und Repression den Kontakt der Delegation zu den meisten Organisationen und Akteur:innen, mit denen Gespräche angestrebt waren. Eine Reise zu dem Oberhaupt der Êzîden Baba Șêx und ein Besuch des Flüchtlingslagers Șarya gelang jedoch. Insgesamt blieb die Bewegungsfreiheit der Delegierten stark eingeschränkt, da Sicherheitskräfte sie über lange Zeiträume am Verlassen des Hotels in Hewlêr hinderten. Dafür kamen Vertreter:innen der kurdischen Parteien zu Gesprächen mit der Delegation an den Tagungsort. Die Unterredungen mit Vertreter:innen der YNK (Patriotische Union Kurdistans) der Talabanî-Familie, der Gorran-Bewegung, der Tevgera Nifşe Nû (Bewegung Neue Generation) und der Kommunistischen Partei ergaben erstaunlich große Übereinstimmungen. Einhellig war die Meinung, dass der Konflikt in Südkurdistan nur durch Dialog zu beenden sei.

Ein Treffen mit der PDK, das im Rahmen eines Parlamentsbesuchs eingeplant war, wurde von dieser erst verweigert. Ein Gespräch kam zustande, als am Abend des 11. Juni der Leiter der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten der kurdischen Regionalregierung, Safeen Dizayee, im Hotel mit der Delegation zusammenkam, wobei er wiederholt betonte, dass er nicht als Vertreter von Parteiinteressen, sondern als Regierungsvertreter wahrgenommen zu werden wünscht.

Als Höhepunkt der Delegationsreise und als Gegenpol zum zeitgleich stattfindenden NATO-Gipfel war eine Pressekonferenz am 14. Juni einberaumt.

Diese konnte nicht wie geplant vor dem UN-Hauptquartier stattfinden, da Peschmerga die Mitglieder am Verlassen des Hotels hinderten. Die Delegierten verlasen ihre Erklärungen daher von der Hotellobby aus vor zahlreich anwesenden kurdischen Medienvertreter:innen. Dabei erklärten sie:

»Anlässlich des NATO-Gipfels in Brüssel verkündet die Delegation für Frieden und Freiheit in Kurdistan, die sich seit einigen Tagen in Hewlêr aufhält, die Initiative ›Defend Kurdistan – Gegen die türkische Besatzung!‹. Seit sechs Wochen führt die Türkei eine Militäroffensive in Gebieten Südkurdistans/Nordirak durch. Diese Operation auf fremdem Staatsgebiet ist völkerrechtswidrig. Außerdem gibt es mehrfach Berichte über den Einsatz von Giftgas durch das türkische Militär. Die Delegation ist vor Ort, um auf die Auswirkungen des Krieges aufmerksam zu machen und für Frieden einzustehen.«

Das Schweigen brechen

Einige Delegierte stellten insbesondere die zweifelhafte Rolle der europäischen Staaten innerhalb des Konflikts in Frage, so Pierre Laurent, Vizepräsident des französischen Senats und Abgeordneter des Parti Communiste Français:

»Sowohl die NATO als auch die EU sind sich der Völkerrechtswidrigkeit dieser Angriffe bewusst. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie den Werten, die sie sich auf die Fahne schreiben, gerecht werden und ihre Unterstützung für Ankara einstellen. Alles andere wäre Heuchelei und würde ein weiteres Massaker am kurdischen Volk besiegeln.«

Ein gemeinsamer Marsch zur UN-Niederlassung wurde durch die PDK-Milizen mit körperlicher Gewalt verhindert. Darauf antworteten die Delegationsteilnehmer:innen mit einem Sitzstreik.

Auf einer Pressekonferenz zwei Tage später in Silêmanî, das zum Einflussgebiet der YNK gehört, ergab sich für die Delegation die umgekehrte Situation: weil der Hotelbetreiber Repressalien fürchtete, verlegte sie die Konferenz einfach auf die Straße. Bei dieser Gelegenheit verurteilte die Teilnehmerin Maja Hess die Verfolgung durch die PDK: »Wir verurteilen diese illegalen Aktionen und alle Repressionen, denen die PDK uns ausgesetzt hat, aufs Schärfste. Wir kamen hierher in der Hoffnung, als Gäste willkommen zu sein, aber stattdessen wurden wir wie Kriminelle behandelt.«

Birthe Witthöft, Aktivistin der feministischen Organisierung »Gemeinsam Kämpfen! Für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie« betonte die Überparteilichkeit der Delegation: »Wir repräsentieren hier keine einzelne Gruppe oder Organisation, und wollen uns gegen keine einzige kurdische Gruppe stellen. Unsere erste Deklaration von vorgestern wurde von 251 Organisationen unterzeichnet. Wir sind sehr divers und wir setzen uns ein für den Dialog und Frieden hier in Kurdistan. Als friedliche Menschen waren wir enttäuscht, dass wir so behandelt wurden. Wir sind demokratische Menschen, die mit anderen demokratischen Parteien und Strukturen in Austausch gehen wollen.«

Im Anschluss besuchte eine Gruppe die Angehörigen von Opfern türkischer Luftangriffe. Bei Redaktionsschluss dauerte die Arbeit der Delegation noch an.

Bislang lässt sich sagen, dass das Konzept, die Friedensdelegation als Kontrapunkt zu dem NATO-Gipfel staatlicher Gewalt zu setzen, ein überragender Erfolg war. Zum einen hat hier gesellschaftliche Vernetzung und Organisierung das Schweigen durchbrochen, das den Krieg staatlicher Mächte in Südkurdistan weltweit umhüllte und Öffentlichkeit für einen innerkurdischen Dialog geschaffen. Zum anderen haben die Staaten sich durch ihre koordinierte Repression gegen eine Friedensinitiative sich selbst die Maske vom Gesicht gerissen. Ihre Überreaktion hat gezeigt, dass sie ihre Kriegspläne durch Frieden gefährdet sehen, ihre geheimen Absprachen durch Transparenz und Offenheit und ihre Macht durch Solidarität. Diese Überreaktion hat besonders in Deutschland für Aufsehen gesorgt, wo ein offener Rechts- und Verfassungsbruch begangen wurde, um die machtpolitisch inszenierte Harmonie des NATO-Bündnisses nicht zu stören. Das Medienecho hierzu erfasste einen Großteil der etablierten Mainstream-Medien und wird auch rechtlich weitere Schritte nach sich ziehen. Hier gilt es in den folgenden Wochen anzuknüpfen.

Die Solidarität mit der Bewegung, die für Demokratie, Ökologie, Frauenbefreiung und eine befreite Gesellschaft steht, ist für viele Bündnispartner anschlussfähig. Es ist zu wünschen, dass der Aufruf »DEFEND KURDISTAN – gegen die türkische Besatzung!« noch viele vielfältige Unterstützer:innen gewinnt.


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021