Am 10. Juli verstarb die 96-jährige Zeitzeugin, linke Aktivistin und Musikerin

Die Rache der Esther Bejarano

Anja Flach, Autorin und Ethnologin

Microphone Mafia auf dem Zîlan-Frauenfestival 2011, in der Mitte Esther Bejerano | Foto: A. BenderDie Shoah-Überlebende Esther Bejarano, geb. Loewy, lebte seit den 1960er Jahren in Hamburg. Hier ist die 96-jährige Zeitzeugin, linke Aktivistin und Musikerin am 10. Juli 2021 gestorben. Unermüdlich setzte sie sich für die Unterdrückten und Benachteiligen ein. Ihre Stimme wurde gehört und sie wird fehlen!

»In Auschwitz, in Ravensbrück und auf dem Todesmarsch habe ich immer daran gedacht, mich eines Tages an diesen schrecklichen Nazis zu rächen: Ich muss überleben, und dann räche ich mich für das Leid, das mir, meiner Familie und all den anderen angetan wurde. [..] Vielleicht ist meine Rache, dass ich in Schulen gehe, meine Geschichte erzähle und Musik gegen Krieg und für Frieden mache.«1

Esther, die im Saarland 1924 geborene und aufgewachsene deutsche Jüdin, wurde als Neunzehnjährige 1942 nach ­Auschwitz verschleppt, ein Konzentrationslager (KZ), das weltweit bis heute als Synonym für unvorstellbare Grausamkeit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt. Ihre Eltern waren bereits November 1941 in den Wäldern von Kowno/Litauen von den Nazis erschossen worden. Ihre Schwester Ruth wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Esther Loewy überlebte, weil sie als Akkordeonspielerin im »Mädchenorchester« von Auschwitz mit anderen gefangenen Musikerinnen u. a. für ankommende Transporte von Jüd:innen, die in die Gaskammern geführt wurden, pervers muntere Marschmusik spielen musste. Die Eingelieferten hätten dann gedacht, dass der Ort ja nicht so schlimm sein könne, wenn sie so nett mit Musik empfangen wurden, erzählte Esther später.2 Im November 1943 wurde Esther ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie Zwangsarbeit für Siemens leisten musste. Während der Evakuierung des Lagers und dem nachfolgenden Todesmarsch konnte sie mit Freundinnen fliehen. In der mecklenburgischen Stadt Lübz wurden sie von russischen und US-amerikanischen Truppen befreit. »Russische und amerikanische Soldaten feierten gemeinsam und verbrannten ein großes Bild von Hitler; ich spielte dazu Akkordeon. Es war fantastisch«, berichtete Esther später. Das Akkordeon hatten die Soldaten ihr geschenkt, nachdem sie ihre Geschichte gehört hatten. Es blieb ihr Traum, dass beide Länder sich auch weiterhin gemeinsam für Frieden und Freiheit einsetzen würden.

Esther ging im September 1945 nach Palästina. 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Sie machte eine Ausbildung als Koloratursopranistin und schloss sich einem Arbeiter:innenchor an. Sie lernte ihren späteren Mann Nissim Bejarano kennen. 1951 bekamen sie ihre Tochter Edna und 1952 ihren Sohn Joram. 1960 verließen sie zusammen Israel. Nissim wollte keinen Militärdienst mehr leisten. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab es nicht und Esther konnte z. B. nicht Mitglied des Künstlerverbandes werden, weil ihr Chor Arbeiter:innenlieder sang. Und sie lehnten beide die brutale Politik gegenüber Palästinenser:innen ab.

»Mein Ehemann und ich konnten die israelische Politik nicht ertragen. Es war eine Katastrophe. [...] Das Leben war schwierig, weil wir mit den schrecklichen Dingen, die den Palästinensern angetan wurden, nicht einverstanden waren.«3

Weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft hatte und deutsch sprach, zog sie mit ihrer Familie zurück in das Land der Täter:innen. Sie gingen nach Hamburg, weil sie u. a. gehört hatten, hier gebe es keine Nazis.

Viele Jahre konnte Esther nicht über die Erlebnisse in ­Auschwitz reden, auch nicht mit Nissim und den Kindern. Dies ändert sich schlagartig, als NPDler 1979 einen Stand vor der Boutique, die Esther in Eimsbüttel eröffnet hatte, aufbauen. Als Demonstrant:innen dagegen mit Rufen wie »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« protestieren, bedrohte die Polizei diese mit Schlagstöcken. Esther packte einen der Polizisten wütend am Kragen: »Was machen sie hier? Sie schützen die Nazis und verprügeln die Demonstranten? Das ist doch eine Katastrophe!« Der Polizist drohte, er werde sie festnehmen, darauf Esther: »Mich verhaften? Ich habe Schlimmeres erlebt. Ich war in Auschwitz.« Darauf ein NPD-Mann: »Die Frau da, die müssen sie verhaften! Sie ist eine Verbrecherin. Alle, die in Auschwitz waren, waren Verbrecher.«4

Esther Bejarano trat nach diesem Erlebnis in die VVN BdA5 ein und gründete 1986 mit anderen Shoah-Überlebenden das Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik. »Sagen, was ist« betrachtet sie fortan als ihre Aufgabe und »Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht!«

Und sie hielt in der Folgezeit bei unzähligen Aktionen und Interventionen Wort. So z. B. zum zweiten Bettlermarsch in Hamburg am 8. November 2003:

»Diese Menschen sind obdachlos geworden, weil sie im Kapitalismus dem Konkurrenzkampf nicht standhalten konnten, weil sie arbeitslos wurden und dann mangels Geld ihre Wohnung gekündigt bekamen und so immer tiefer in den Abgrund gesunken sind. Es ist das System, das unmenschlich, ja menschenverachtend ist. Der Trend geht nach rechts. Wenn dieser Rechtsruck nicht verhindert wird, kann wieder Faschismus mit all seinen schrecklichen Folgen entstehen.«6

Oder gegen die unmenschlichen Abschiebungen von Roma nach Serbien und ins Kosovo: »Sie sind wie wir in Auschwitz und anderen Lagern als ›unwertes Leben‹ vernichtet worden. Und heute abschieben?« und sie kritisiert den Hamburger Senat z. B., als er die Aufnahme der Lampedusa-Flüchtlingsgruppe verweigert.7

Aber Esther nutzte auch Musik und Stimme für ihre unermüdliche Aufklärungsarbeit. U. a. in der Gruppe Coincidence mit Edna und Joram zusammen und in über 900 Konzerten gemeinsam mit der Rap-Band Microphone Mafia. Über Vorträge an Schulen versuchte sie, kontinuierlich junge Menschen zu erreichen, kämpfte zeitlebens gegen alte und neue Nazis.

Nazis in Verfassungsschutz und Justiz

»Nazismus und Rassismus … konnte sich auch weiterhin in staatlichen Strukturen festhalten, vor allem im Verfassungsschutz und der Justiz, und ja, sogar noch mehr, er konnte sich wieder ausbreiten. Um es klar auszusprechen, ohne das Wegschauen und das Decken nach 1945 hätte es das Oktoberfestattentat, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln und den NSU so nicht geben können. Es hätten aus den Erfahrungen und Ereignissen des Nationalsozialismus die richtigen Konsequenzen gegen den Hass gezogen werden müssen. Es gab jedoch eine Toleranz gegen Täterinnen und Täter, und Nazis wurden und werden in diesem Land direkt und indirekt, durch politische Kampagnen und das Schweigen und Wegschauen ermutigt, weiter Hass und Leid zu verbreiten. Das ist der rote Faden von damals zu heute,«8 schrieb Esther an die Überlebenden der Nazianschläge von Solingen und Mölln.

Esther nahm auch kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Politik Israels gegen die Palästinenser:innen ging. Deutsche dürften nicht darüber entscheiden, wozu Jüd:innen sich äußern dürfen. Sie machte gemeinsame Veranstaltungen mit Moshe Zuckermann, Sohn von Ausschwitz-Überlebenden, der immer wieder angegriffen wurde, wenn er Israel kritisierte und sich für konföderative Strukturen einsetzte. Sie kritisierte die Haltung der »Antideutschen«, die »Israel, Judentum und Zionismus, mithin Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik wahllos in einen deutschen Eintopf werfen, um es, je nach Lage, opportunistisch zu verkochen und demagogisch einzusetzen.«9

Und Esther Bejarano stand auch an der Seite der Kurd:innen, sang z. B. auf dem internationalen Zîlan-Frauenfest der kurdischen Bewegung in Dortmund. Der KCDK-E (Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa) schrieb in seinem Nachruf für Esther:

»Sie unterstützte … viele Initiativen kurdischer Vereine …war Teil vom ›Bündnis für Demokratie und Frieden in Afrin‹, das die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien unterstützte und sich gegen die türkischen Angriffe auf die Seite der Revolution stellte. Sie unterstütze auch die Forderung der kurdischen Gesellschaft nach der Freiheit des auf Imralı inhaftierten kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan. So war sie eine von 21 bekannten Persönlichkeiten, die in einem gemeinsamen offenen Brief die Bundesregierung dazu aufgefordert haben, ihren politischen Einfluss auf die Türkei auszuüben und sich für das Ende der Isolation Abdullah Öcalans einzusetzen«.10

Der Krieg ist nach wie vor das Geschäftsmodell von Rheinmetall

2019 schickte Esther, 94-jährig, eine Audiobotschaft an das antimilitaristische Camp von »Rheinmetall entwaffnen«:

»Idyllisch klangen [...] die Namen der Orte der Vernichtung …Die todbringenden Waffen mussten Zwangsarbeiter produzieren, Kriegsgefangene und KZ- Häftlinge aus Auschwitz. Rheinmetall hat mehr als 5000 KZ-Insassen als Zwangsarbeiter:innen beschäftigt, Juden wie Nichtjuden.

Neben dem KZ-Außenlager Tannenberg gab es noch 20 weitere Zwangsarbeiter:innenlager in Unterlüß. 4200 Zwangsarbeiter:innen … standen 2500 Einwohner:innen gegenüber. In Unterlüß gibt es bisher … keinen Ort der Erinnerung und Mahnung. Das wollt ihr ändern … Ihr habt nach den Spuren der Frauen und Männer gesucht, die hier Zwangsarbeit leisten mussten. Ihr habt nach den Wegen gesucht, über die sie täglich getrieben wurden, nur Holzpantoffeln an den Füßen, in grausamer Kälte, hungrig, hungrige Mütter, denen die Babys entrissen wurden … Ihr habt diese Gräber besucht und der Ermordeten gedacht.

Und dann am 13. April 1945, als die SS-Bewacher die Flucht ergriffen hatten, und 500 gefangene Frauen das Lager am frühen Morgen verlassen wollten. Wer hat die Ärmsten dann in das KZ Bergen-Belsen gebracht? Etwa 300 dieser Frauen starben dort noch in den letzten Kriegstagen. Und die Verdrängung der Schuld und der Aufarbeitung der NS-Zeit hat hier auch wieder funktioniert …

Krieg ist nach wie vor das Geschäftsmodell von Rheinmetall … Der Rüstungskonzern, der so viel todbringende Erfahrung hatte, wurde … wieder gebraucht … Ein Milliardengeschäft mit Waffen, mit Panzern, mit Munition, todbringend weltweit, in Syrien, im Jemen, Kurdistan, geliefert für die Arabischen Emirate … Allein seit 2015 sind durch Waffenlieferungen in Krisengebieten wie Jemen 18.000 getötete Zivilpersonen, 85.000 verhungerte tote Kinder zu beklagen. Nun sagt die neue zuständige Ministerin, der Verteidigungshaushalt muss weiter ansteigen … So löst man Rüstungswettläufe aus … Deutschland befeuert diese Kriege dadurch, dass die Waffenproduktion von Rheinmetall gestärkt und solche Konzerne mit Ausfuhrlizenzen praktisch subventioniert werden … der Rüstungskonzern, der ab 1986 mit Steuergeldern des Landes Niedersachsen zusätzlich das Landestechnologiezentrum Nord (TNZ) für militärische Forschung errichtet hat, (die auch zivil nutzbar sein sollte), stellt sich dar als Technologiekonzern für Mobilität und Sicherheit. Kein Wort zu der Waffenproduktion.

Ihr sagt, Krieg macht Flucht. Und ihr fordert, Schluss mit der Kriegspolitik und der Rüstungsproduktion. Ihr habt die Waffenproduktion blockiert und ihr demonstriert für eine friedliche und gerechte Welt …

Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass die Erfahrung meiner Generation in Vergessenheit gerät. Dann wären alle Opfer des Faschismus und des Krieges, alles, was wir erlitten haben, umsonst gewesen. Aber ihr seid da. Wir bauen auf euch. Ich vertraue euch, liebe Freundinnen und Freunde. Eine bessere Welt ist möglich.«

»Sie war Kommunistin, wie ihr Mann Nissim«, sagte ihr Freund, Rolf Becker, bei der Beerdigung. Das ist der Teil von Esther, der in sämtlichen Nachrufen der Mainstream-Medien unterschlagen wurde und wird. Der Rabbiner, Shlomo Bistritzky, sagte, dass es ohne Erinnerung keine Zukunft gebe. »Esther Bejarano wurde zum Symbol, zur Lehrerin für uns alle, entschlossen für das Leben zu kämpfen.« Ihre Rache an den Nazis war gewesen, hier in Hamburg zu leben und auf diesem jüdischen Friedhof begraben zu werden.

Unsere Zukunft bedeutet, in den großen Fußstapfen dieser nur 1,50 Meter kleinen Frau voranzuschreiten. Esther lebt weiter!

Fußnoten:

1 - http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/bejerano.html

2 - https://www.tagesschau.de/inland/esther-bejarano-101.html

3 - https://electronicintifada.net/content/why-auschwitz-survivor-esther-bejarano-supports-bds/26191

4 - https://www.dalberg-gymnasium.de/artikel/28010

5 - Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschisten 

6 - Zitiert nach Rolf Becker: https://www.auschwitz-komitee.de/5937/rolf-becker-zum-abschied-von-esther/

7 - Ebd.

8 - Ebd.

9 - Ebd.

10 - https://anfdeutsch.com/aktuelles/trauer-nach-dem-tod-von-esther-bejarano-27224


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021