Eine sichere Zukunft für Christen und andere Minderheiten in Nord- und Ostsyrien

Fundament für die multiethnische und multireligiöse Inklusion konnte geschaffen werden

Rojava Information Center (RIC)

Demonstration in Til Temir: Die Bevölkerung protestiert gegen die täglichen Angriffe der Türkei gegen Nordsyrien/Rojava. | Foto: anhaDie Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien ist geprägt von religiöser und ethnischer Vielfalt. Es ist eine wichtige Aufgabe der Gesellschaft und der Selbstverwaltung, ein gleichberechtigtes Zusammenleben zu ermöglichen, was einen kontinuierlichen Aushandlungsprozess erfordert. Wir veröffentlichen einen Auszug zu diesem Thema aus einem Bericht des Rojava Information Centers (RIC) vom September 2020.

Zivile und politische Auseinandersetzungen

Die Kritik am Umgang der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens mit den Beziehungen der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen untereinander hat sich verständlicherweise auf das Verhältnis zwischen Kurd:innen und Araber:innen konzentriert, die mit Abstand größten ethnischen Gruppierungen in Nord- und Ostsyrien. Innerhalb des politischen Meinungsspektrums in Nord- und Ostsyrien stellen die sehr konservativen arabischen Gemeinden in den vom »Islamischen Staat« (IS) befreiten Regionen den politischen Gegenpol zu den kurdischen Gemeinden in Dschazira dar. Diese unterstützen mehrheitlich seit langem das politische Programm der Selbstverwaltung. In den arabischen Gemeinden stößt deren politisches Programm auf großen Widerspruch. Diese Spannungen wurden schon an anderer Stelle ausführlich dokumentiert und diskutiert und werden den Schwerpunkt im nächsten Bericht des RIC bilden.

Die Haltung der Christen und anderer Minderheiten zum politischen Projekt im Nordosten war neutral bzw. mehrheitlich positiv. Vor allem Vertreter:innen traditionell marginalisierter Gruppen wie Êzîd:innen und Alevit:innen berichten nur Positives über die in den letzten Jahren unternommenen Schritte zu ihrer Einbindung in die lokale und regionale Politik.

Assyrische Demokratische Partei (ADP) – Ein Beispiel aus der Praxis

Funktionäre der ADP beschreiben die Beziehung zwischen der ADP und der Selbstverwaltung als weitgehend positiv, aber auch durch Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Syrisch-Assyrischen Militärrat getrübt. Die beiden Ko-Vorsitzenden des Militärrats sind miteinander verheiratet und das wird von der Selbstverwaltung nicht akzeptiert. ADP-Vertreter berichten dem RIC, dass die Verwaltung sich in dieser Frage unflexibel gezeigt und nicht erkannt hat, dass es für die kleine und traditionell geprägte assyrische Gemeinschaft schwierig ist, Frauen für Führungspositionen zu finden, so wie es die Politik der Geschlechtergleichstellung erfordert. Der Lösungsvorschlag einer Gruppe innerhalb der ADP, das Ehepaar aus ihrer Position abzuziehen und sie zu einfachen Mitgliedern zu machen, wurde nicht von allen Mitgliedern des Rates akzeptiert. Daraufhin wurde der Leiter des assyrischen Büros seines Amtes enthoben.

Außerdem gab es Beschwerden von offiziellen Vertreter:innen über die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Selbstverwaltung für die ADP.

Außerhalb des militärischen Bereichs betrifft die Hauptkritik die Lehrpläne an den Schulen. Im Jahr 2018 versuchte die Selbstverwaltung, ihren eigenen Lehrplan in privaten und an den von der syrischen Regierung finanzierten syrischen Schulen durchzusetzen. Diese unterrichteten noch nach einem von Damaskus genehmigten Lehrplan. Das führte zu Spannungen mit der Schulbehörde der Regierung in Damaskus. Im September 2018 kam es zu einer Einigung zwischen der Selbstverwaltung und dem örtlichen syrisch-orthodoxen Erzbistum: Die ersten beiden Klassen in diesen Schulen werden nach dem Lehrplan der Selbstverwaltung unterrichtet und die Klassen drei bis sechs weiterhin nach dem von Damaskus geprägten Lehrplan. In ihrem eigenen öffentlichen Schulsystem bietet die Selbstverwaltung weiterhin muttersprachlichen Unterricht in Syrisch für syrische Kinder an und außerdem Syrisch als zweite Sprache für arabische, kurdische und andere Schüler:innen.

Die Beschwerden über die Nutzung des Eigentums geflüchteter Christen durch die Selbstverwaltung wurden zur Zufriedenheit aller vom RIC befragten Parteien durch die Einführung eines Sondergesetzes gelöst, welches den besonderen Schutz von Häusern, Eigentum und Land der Christen bis zu ihrer Rückkehr festschreibt. Beaufsichtigt wird dieser Prozess von einem eigens eingerichteten Komitee lokaler Christen.

Im Allgemeinen ist die Beziehung zwischen den christlichen Gemeinden und der Selbstverwaltung  durch begeistertes Engagement in einigen Vierteln und vorsichtige Distanz in anderen gekennzeichnet.

Hevin Aisa vom Armenischen Rat berichtete dem RIC, dass sich die armenische Bevölkerung bisher eher von der Selbstverwaltung ferngehalten hat: »Das liegt daran, dass sie die Repression des Regimes fürchten. Aus diesem Grund hält sich der Armenische Rat von der Politik fern. Manche seiner Mitglieder stehen dem Regime und andere der Selbstverwaltung näher.«

Diese nach beiden Seiten offene Formulierung ist typisch für zivilgesellschaftliche Aktivist:innen, die Beziehungen zur Selbstverwaltung und gleichzeitig zu Damaskus nahestehenden Personen und Einrichtungen pflegen. Deutlich unterscheiden sich auch die Haltungen der christlichen Gemeinde in Qamişlo (und in geringerem Maße in Hesekê) von den Gemeinden im Khabour-Tal, Til Temir, Dêrik und Tirbesipiyê. In Qamişlo hat Damaskus während des gesamten Krieges die Kontrolle über einige christliche Viertel behalten und die Gemeinde sucht dementsprechend weiterhin Schutz in Damaskus. Die Gemeinden im Khabour-Tal, Til Temir, Dêrik und Tirbesipiyê haben sich mit mehr Begeisterung an dem politischen Projekt im Nordosten beteiligt .

Aktuelle Bedrohungen

Die Invasion der Türkei 2018 und die anschließende Besetzung von Efrîn zeigen, welche Gefahr weitere Invasionen für die Minderheiten in Nord- und Ostsyrien darstellen.

Die Bevölkerung der Region Efrîn war zu etwa 95 % kurdisch mit großen alevitischen und êzîdischen Minderheiten und kleineren armenischen, arabischen und nawarischen Gemeinschaften. Verglichen mit anderen kurdischen Gebieten innerhalb der syrischen Grenzen war Efrîn sowohl ethnisch als auch sprachlich viel homogener kurdisch.

Heute ist die Mehrheit der Christ:innen und Êzîd:innen aus Efrîn gewaltsam vertrieben worden und lebt entweder in Flüchtlingslagern in der Region Şehba oder in anderen syrischen Städten. Die verbleibenden Minderheiten in Efrîn wurden von türkisch kontrollierten radikal-islamistischen Milizen öffentlich mit dem Tod oder der Zwangskonvertierung bedroht – eine Drohung, die ernst genommen werden musste.

Das von der Türkei betriebene »Demographic Engineering« in Efrîn ist gut dokumentiert. Kurz zusammengefasst handelt es sich dabei um Prozesse

  • der Arabisierung (die Ansiedlung arabischer Milizionäre aus anderen Teilen Syriens und ihrer Familien in ehemals kurdischen, êzîdischen, christlichen und alevitischen Städten und Regionen)
  • der Türkisierung (durch die Einführung eines türkischen Lehrplans in Schulen, die Umbenennung von Gebäuden und behördlichen Strukturen, die Etablierung einer de-facto türkischen Kontrolle über alle Aspekte der Regierung und der Zivilgesellschaft)
  • der Islamisierung (über den Schullehrplan und durch die Gewalt türkisch kontrollierter bewaffneter Gruppen)
  • der Etablierung eines »turkmenischen Gürtels« entlang der Grenze zur Türkei.

Am 9. Oktober 2019 griff die Türkei erneut Grenzstädte in ganz Nord- und Ostsyrien an, um die Städte Serêkaniyê und Girê Spî und das umliegende Land zu besetzen. In den ersten Tagen wurden Dutzende von Städten und Dörfern unter Beschuss genommen. Eine Reihe von überwiegend christlichen Enklaven wurde angegriffen, darunter Dörfer in der Umgebung von Dêrik und das christliche Viertel Bişeriye in Qamişlo. Diese Angriffe erfolgten, obwohl diese Enklaven weit von der Region entfernt sind, die die Türkei besetzen wollte. Christliche Bewohner:innen wurden bei diesen Angriffen verletzt und getötet.

Die türkische Invasion ermöglichte den Schläferzellen des sogenannten Islamischen Staat (IS) die Intensivierung ihrer Aktivitäten. Folglich nahmen die Angriffe seit Beginn der Operation gegen allgemeine Ziele und gegen religiöse Minderheiten deutlich zu. Die Angriffe der Schläferzellen fielen im September 2019 auf ein Rekordtief (43 Angriffe), stiegen aber nach der türkischen Invasion im Oktober 2019 wieder an. Im November und Dezember wurden 83 bzw. 84 Angriffe verzeichnet. Besondere Aufmerksamkeit erregte im November 2019 die Ermordung des armenischen Priesters Housib Petoyan und seines Vaters durch den IS, als sie nach Deir ez-Zor fuhren, um an der Restaurierung der dortigen armenischen Kirche zu arbeiten.

Die christliche Gemeinschaft war auch schon vor der türkischen Invasion Ziel des IS, zuletzt bei einem Autobombenanschlag im Juli 2019. Doch nicht nur der IS allein führt im Nordosten Anschläge mit Schläferzellen aus: Autobombenanschläge auf Kirchen, z. B. in Qamişlo mit fünf toten Zivilist:innen während der türkischen »Friedensfrühlingsoffensive« weisen auf die Beteiligung türkisch unterstützter Schläferzellen hin.

Perspektiven für die Zukunft

Das politische Projekt im Nordosten bietet den ethnischen und religiösen Minderheiten zweifellos Chancen, die ihnen nirgendwo sonst im Nahen Osten in Bezug auf garantierte politische Vertretung, Schutz und die Förderung ihrer kulturellen Rechte gewährt werden. Das politische System Nord- und Ostsyriens legt ein Fundament für die multiethnische und multireligiöse Inklusion, wenn auch noch einiges getan werden muss, um sicherzustellen, dass die Realität diesem Anspruch gerecht wird. Wir konnten mit einem breiten Spektrum von politischen Akteuren aus religiösen und ethnischen Minderheiten sprechen, auf der Ebene der Kommune bis zu den höchsten Ebenen der Verwaltung. Da viele dieser Gruppen, genau wie die Kurd:innen, auch eine historische Marginalisierung erfahren haben, vereint sie die gemeinsame Betroffenheit und ihre gemeinsamen Interessen, die sich aus den historischen Veränderungen im Nordosten ergeben.


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021