Über die türkisch-afghanischen Beziehungen
»Muslimische Bruderländer«?
Jörg Kronauer, Journalist und Autor
Es wäre ein bemerkenswerter Erfolg für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewesen, wäre sein Plan für die künftige Rolle seines Landes in Afghanistan aufgegangen. Türkische Truppen, so hatte es Erdoğan geplant, sollten nach dem endgültigen Abzug des Westens vom Hindukusch die Sicherung des Hamid Karzai International Airport in der afghanischen Hauptstadt Kabul übernehmen. Das wäre keine Kleinigkeit gewesen: Die Kontrolle über den Flughafen galt als äußerst wichtig, um für den Fall der Fälle die Evakuierung des westlichen Botschaftspersonals zu gewährleisten. Die Türkei sei besonders geeignet für den Job, erklärte Erdoğan: Sie verfüge als »muslimisches Bruderland« über beste Voraussetzungen, nicht nur von der afghanischen Bevölkerung, sondern auch von den Taliban akzeptiert zu werden ‒ quasi als Mittler zwischen Afghanistan und dem Westen. Der türkische Präsident hatte die Sache am Rande des NATO-Gipfels am 14. Juni in Brüssel mit seinem US-Amtskollegen Joe Biden besprochen, und die Verhandlungen dauerten an ‒ bis schließlich alles ganz anders kam: Binnen weniger Tage brachten die Taliban Afghanistan unter ihre Kontrolle und nahmen schließlich sogar Kabul ein. Erdoğans Pläne für die Sonderrolle der türkischen Streitkräfte am afghanischen Hauptstadtflughafen waren damit gescheitert.
Politiker und Experten greifen, wenn sie die besonderen Beziehungen zwischen der Türkei und Afghanistan beschreiben wollen, gern in die Tiefen der Geschichte zurück. Bereits in den späten Jahren des Osmanischen Reichs seien die Beziehungen zwischen Istanbul und Kabul ausgebaut worden, rief am 1. März der Botschafter der Türkei in Afghanistan, Oğuzhan Ertuğrul, in Erinnerung. Das sei so weit gegangen, dass Cemal Pascha, seit 1913 Mitglied des herrschenden jungtürkischen Triumvirats, 1920 nach Kabul gereist sei, um dort die Modernisierung der afghanischen Streitkräfte zu unterstützen. Cemal war ‒ Ertuğrul ließ das unerwähnt ‒ einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern, und er wurde 1922 in Tiflis ‒ auf der Rückreise aus Afghanistan ‒ von einem armenischen Kommando erschossen. Dass Ertuğrul die historischen Bindungen ausgerechnet am 1. März beschrieb, hatte seinen Grund: Es war der hundertste Jahrestag der Unterzeichnung des afghanisch-türkischen Bündnisvertrags, der am 1. März 1921 geschlossen wurde, obwohl es die Türkei ‒ sie wurde offiziell bekanntlich 1923 gegründet ‒ eigentlich noch gar nicht gab.
Ertuğrul beschrieb am 1. März, der seit 2011 offiziell als »Türkisch-afghanischer Freundschaftstag« begangen wird, auch knapp die weitere gedeihliche Entwicklung der bilateralen Beziehungen, die unter anderem, so formulierte er es, einen wichtigen Beitrag der Türkei »bei der Etablierung moderner Staatsstrukturen und öffentlicher Institutionen« in Afghanistan nach 1945 umfassten ‒ »auf den Feldern der Verwaltung, des Militärs, der Kultur, der Erziehung und der Gesundheit«; die Türkei habe dazu schon damals Lehrer, Ärzte, Offiziere und weiteres Fachpersonal nach Afghanistan entsandt. Ertuğrul hätte zudem einen weiteren Aspekt erwähnen können, nämlich die Sonderbeziehungen, die Ankara zu den turksprachigen Minderheiten Afghanistans, den Usbeken und den Turkmenen, unterhält. Hintergrund sind pantürkische Ansätze, die eine enge Kooperation mit sämtlichen turksprachigen Staaten und Bevölkerungsgruppen vorsehen ‒ von Aserbaidschan über weite Teile Zentralasiens bis ins westchinesische Xinjiang. Rashid Dostum etwa, ein mächtiger Anführer von Afghanistans usbekischer Minderheit, floh von 1997 bis 2001 vor den Taliban ins türkische Exil. Zuletzt wurde er am 1. April von Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in Ankara empfangen.
Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur mit der Ausbildung von Soldaten und Polizisten, sondern auch mit Entwicklungsaktivitäten in Afghanistan hervorgetan; ihre Entwicklungsagentur TİKA baut Straßen, leistet humanitäre Hilfe, fördert afghanische Schulen, unterstützt Ärzte und betätigt sich aktuell im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie. Dabei wird die Türkei ‒ anders als die westlichen Mächte ‒ am Hindukusch prinzipiell als islamisches »Bruderland« anerkannt. Afghanen seien diejenigen, die die meisten türkischen Stipendien nachfragten und auch die auch die größte Zahl davon erhielten, konstatierte Botschafter Ertuğrul am 1. März. Ankara wiederum baue auch seine diplomatischen Aktivitäten systematisch aus. So habe es erst im Juni 2020 ein neues Generalkonsulat im westafghanischen Herat eröffnet, und es plane, während andere Staaten ihre diplomatischen Vertretungen schlössen, weiterhin die Eröffnung eines dritten Konsulats in Kandahar noch in diesem Jahr. Die türkische Einflussarbeit sei durchaus erfolgreich, urteilte vor kurzem der Außen- und Militärpolitikexperte Metin Gürcan: Ankara habe sich am Hindukusch in den vergangenen Jahren in einem beachtlichen Ausmaß »soft power« aufgebaut.
Dass die Türkei ihre Stellung in Afghanistan aufwerten wolle, sei »immer deutlicher« zu erkennen, hatte bereits im September 2017 das Washingtoner Middle East Institute (MEI) festgestellt ‒ und darauf hingewiesen, dies liege ganz auf der Linie der Außenpolitik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Der strebe es bekanntlich an, Ankaras Einfluss vor allem in der islamischen Welt zu stärken, und zu dieser zähle nun mal auch Afghanistan. Tatsächlich passen die beharrlichen türkischen Einflussbemühungen am Hindukusch neben ihren pantürkischen Aspekten auch ohne Weiteres zu Erdoğans islamisch geprägter neoosmanischer Politik. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Erdoğan auch nach dem Scheitern seiner Pläne für die Sonderrolle türkischer Truppen am Flughafen von Kabul am Ball bleibt und seinem Land neuen Einfluss in Afghanistan zu sichern sucht: Ankara sei längst dabei, mit allen Seiten über seine künftigen Beziehungen zu Kabul zu verhandeln, teilte die türkische Regierung unmittelbar nach der Übernahme der Macht in Afghanistan durch die Taliban mit. Ob es Erdoğan gelingt, den Einfluss der Türkei am Hindukusch nach dem Abzug des Westens aufzuwerten, wird man sehen.
Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021