Der Hungerstreik in den Gefängnissen der Türkei ist in eine neue Phase eingetreten

Stimmen von einem »unsichtbaren Ort«

Fabian Priermeier

Solidaritätshungerstreik im Flüchtlingslager Lavrio bei Athen In den letzten Wochen und Monaten hat sich die politische Situation in allen Teilen Kurdistans sehr gewandelt. In Südkurdistan (Nordirak) läuft seit Ende April der Invasionsangriff des türkischen Militärs, in Westkurdistan (Nordsyrien) finden konstant Angriffe statt, Tag für Tag wird der Krieg um Wasser intensiver, in Ostkurdistan (Westiran) verschärft der iranische Staat seine Grenzpolitik, was hunderte Menschen das Leben kostet, und in Nordkurdistan (Südosttürkei) werden die neoosmanischen Bestrebungen der AKP-MHP-Regierung immer deutlicher sichtbar. Auf der anderen Seite steht ein intensiver Widerstand der in Kurdistan lebenden Gesellschaften, der Selbstverwaltung der Frauen und Männer vor Ort und der Selbstverteidigungskräfte in allen Regionen.

Doch einer der akutesten und dringendsten Widerstände, welcher bereits seit dem 27. November 2020 organisiert stattfindet, wird häufig übersehen. Seit diesem Tag organisierten tausende politischer Inhaftierter in türkischen Gefängnissen einen Hungerstreik. Begonnen hatte der Hungerstreik in Form einer sogenannten Hungerstreikstaffel, sprich: Gruppen übernahmen für zunächst jeweils 5 Tage den Hungerstreik. Am 14. Juli gaben die Gefangenen eine Erklärung ab und erklärten, dass die Periode einer Staffel auf 15 Tage ausgeweitet werden würde. Anlass dafür war die historische Bedeutung des 14. Juli.

Nachdem mit dem Militärputsch 1980 eine immense Verfolgung und Zerschlagung von revolutionären Kräften in der Türkei stattgefunden hatte, wurde am 14. Juli 1982 eine neue Phase des Widerstandes von innerhalb der Gefängnismauern gestartet. An diesem Tag rief eine Handvoll inhaftierter PKK-Kader den Beginn eines Todesfastens aus. Im Rahmen der Aktion verloren Kemal Pir, Mehmet Hayri Durmuş, Ali Çiçek und Akif Yılmaz ihr Leben. Die Aktion rüttelte die Menschen damals aus der Lethargie auf und so gelang es, erneut Schritt für Schritt gegen die faschistischen Ausmaße des Regimes anzugehen.

Doch welche Zustände in den Gefängnissen bewegten die Aktivist:innen zu solch einem radikalen Schritt? Was sind die Forderungen und was sagen die Inhaftierten selbst über die aktuelle Lage?

Der Mediziner Dr. Murat Ekmez, Vorstandsmitglied der Istanbuler Ärztekammer, bezeichnete in einem Interview Gefängnisse als »unsichtbare Orte«, da die Menschen dort hineingesteckt werden, um nicht mehr von der Gesellschaft gehört zu werden. Diese Aussage beschreibt die Situation in den Haftanstalten sehr treffend. Insbesondere seit Beginn der Covid-19-Pandemie haben sich die dortigen Zustände massiv verschlechtert und trotzdem wurde und wird nicht interveniert. Die Menschen werden isoliert, schikaniert und teilweise gefoltert. So ist folgende Geschichte von zwei Inhaftierten weder ein Einzelfall noch verwunderlich. Sie stellt lediglich die Spitze des Eisberges der Zustände im Gefängnis dar.

Salih Ilmin und ein weiterer politischer Gefangener sind für eine Gerichtsverhandlung vom Hochsicherheitsgefängnis Elazığ (ku. Xarpêt) ins T-Typ-Gefängnis Batman (Êlih) verlegt worden. Salih Ilmin befindet sich seit 2018 wegen »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« in Untersuchungshaft und ist am 27. Mai verlegt worden. Seine Schwester Gülçin Ilmin berichtet über ein Telefongespräch vom 10. Juni: »Die Wächter wollten, dass mein Bruder und ein weiterer Gefangener während der Zählung aufstehen. Sie antworteten darauf, dass sie nur zu zweit seien, und erklärten, dass sie nicht aufstehen würden. Die Wächter versuchten, sie mit Gewalt zum Aufstehen zu zwingen. Die Gefangenen erklärten weiterhin, sie würden nicht aufstehen, und weigerten sich. Daraufhin wurden sie mit den Stühlen, auf denen sie saßen, aus der Zelle geworfen und gewalttätig angegriffen. Das geschieht bei jeder Zählung.« Salih Ilmin und der andere Gefangene wurden von den Wächtern mit den Worten angegriffen: »Wir werden mit eurer Ehre spielen.« Die Schwester berichtet, dass sie darauf erklärt haben, sie würden niemanden mit ihrer Ehre spielen lassen und sie auch um den Preis ihres Lebens verteidigen.

Vor dem Hintergrund der Pandemie wurde von der AKP-MHP-Regierung eine Vollzugsreform durchgedrückt, die fast 90.000 Gefangene betraf und ihnen aufgrund des hohen Infektionsrisikos die vorzeitige Entlassung brachte. Zehntausende der Entlassenen, unter ihnen einschlägig bekannte türkische Mafiapaten, waren »zufälligerweise« Anhänger des Regimes. Zurückbleiben mussten alle politischen Gefangenen. Die Begründungen dafür waren oftmals mehr als absurd. Der 83-jährige Mehmet Emin Özkan (von seinen Mitinhaftierten liebevoll Onkel Dedo genannt) beispielsweise sitzt seit mittlerweile 25 Jahren im Gefängnis und ist schwer krank. Obwohl er nicht einmal mehr in der Lage ist, alleine zu gehen, wird er weiterhin im Gefängnis mit der Begründung festgehalten, dass akute Fluchtgefahr bestehen würde.

Da die Gefangenen dazu gezwungen werden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben, und ihnen kein Zugang zu Hygieneartikeln gewährt wird (meistens fehlen Desinfektionsmittel und Masken, obwohl ausreichend zur Verfügung stehen würden), wird damit direkt provoziert, dass sich die Menschen gegenseitig anstecken. Selbst bei einer Ansteckung wird in den seltensten Fällen die Erlaubnis gegeben, die Gefangenen ins Krankenhaus zu bringen oder von einem Arzt untersuchen und behandeln zu lassen. Dr. Murat Ekmez bestätigte bereits, dass viele Menschen während der Pandemie im Gefängnis gestorben sind, da ihnen der Zugang zur Gesundheitsversorgung verwehrt blieb. Eine genaue Zahl ließ sich jedoch nicht ermitteln, da das Gesundheitsministerium keine Informationen veröffentlicht und zu allen Geschehnissen schweigt.

Neben der kritischen Situation mit der Pandemie sehen sich die Gefangenen mit vielen weiteren Schikanen und Misshandlungen konfrontiert. Ihnen wird verboten, in ihrer Muttersprache Kurdisch zu sprechen. Ständig kommt es zu Zellendurchsuchungen, bei denen oft das wenige Hab und Gut der Gefangenen grundlos zerstört oder beschlagnahmt wird. Besuche von Angehörigen werden mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt, Telefonate nicht gestattet und Gefangene berichten häufig davon, in unregelmäßigen Abständen gefoltert worden zu sein. Viele sind durch die Folter für ihr weiteres Leben gezeichnet und haben noch Jahrzehnte später mit den Folgen der Folter zu kämpfen.

Der letzte Tropfen, der dann das Fass zum Überlaufen brachte, kam von der Generalstaatsanwaltschaft Bursa am 23. September. Sie sprach für die Gefangenen auf der Gefängnisinsel Imralı, insbesondere für Abdullah Öcalan, ein Besuchsverbot über weitere sechs Monate aus, während Öcalans Rechtsbeistand und Familienangehörige regelmäßig Besuchsgenehmigungen beantragt hatten. Für die Gefangenen stellt die Situation Öcalans eine rote Linie dar, was sie regelmäßig betonen. Deswegen war die Intensivierung der Isolation seiner Person letztlich der schwerwiegendste und ausschlaggebende Grund, den Hungerstreik zu beginnen.

Viele der Teilnehmenden verweigern zum wiederholten Mal für die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen die Nahrungsaufnahme und sind dadurch entsprechend geschwächt. Noch dazu gibt es Meldungen, dass in einigen Gefängnissen den Hungerstreikenden der Zugang zu Wasser, Zitronen und Salz, welche alle drei unverzichtbar sind, um dem Körper die notwendigen Vitamine und Nährstoffe zu geben, verwehrt wurde. Das Regime will die Aktivist:innen somit zum Aufgeben ihrer Aktion bringen und nimmt dabei auch den Tod der Gefangenen in Kauf.

Während sich das Regime und seine Institutionen vehement weigern, auf die Forderungen der Aktivist:innen einzugehen oder sich dazu zu äußern, haben sich Menschen an verschiedensten Orten solidarisch gezeigt. In vielen Städten weltweit wurden seit November 2020 Aktionen organisiert, mehrere solidarische Hungerstreiks (zum Beispiel von der MLKP zuletzt im Januar dieses Jahres) durchgeführt. Außerdem finden in den Camps von Mexmûr in Südkurdistan (seit dem 18. Dezember) sowie von Lavrio in Griechenland (seit dem 4. Januar) auch Hungerstreikstaffeln statt. Diese Aktionen sind für die Hungerstreikenden in den Gefängnissen wichtig, sie geben ihnen die Kraft und Hoffnung ihre Aktion fortzusetzen. Aber vor allem zeigt es, dass Gefängnisse nur dann »unsichtbare Orte« sind, wenn wir dies zulassen.

Die Europäische Union hatte zwar eine Delegation des CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) in die türkischen Gefängnisse gesandt und obwohl diese Delegation über die Isolation und die Rechtsverletzungen in den Strafvollzugsanstalten berichtet hatte, wurden keinerlei Schritte dagegen eingeleitet. Hätte die EU sich auch nur im Ansatz für die Werte eingesetzt, die sie sich auf die Fahne schreibt, müssten nicht so viele Menschen in den Gefängnissen leiden und sterben.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die aktuelle Situation in den Gefängnissen der Türkei die Erfolglosigkeit des Ein-Mann-Regimes widerspiegelt. Die politischen Gefangenen werden wider jegliches Menschenrecht behandelt, nur damit Erdoğan und seine AKP-MHP-Regierung sich weiterhin an der Macht halten können. Und wie schon so häufig geschehen, werden auch hier die Kraft und der Wille der Gesellschaft das Scheitern auch dieses Regimes herbeiführen. Der Widerstand der Gefangenen und der gemeinsame Kampf für die Durchsetzung der legitimen Forderungen bringt die Möglichkeit einer demokratischen Alternative zum türkischen Staat und allgemein zum Nahen Osten mit sich. Dies ist eine Chance für alle, wie auch der Hungerstreik eine Aktion für alle ist.


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021