Aktuelle Bewertung

Die Machtkriege dehnen sich weiter aus

Nilüfer Koç, Sprecherin der Kommission für Außenbeziehungen des Kurdistan Nationalkongresses (KNK)


Das antimilitaristische Camp von „Rheinmetall Entwaffnen“ in Kassel protestiert gegen die deutsche Rüstungsindustrie. Foto: REAuf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 unter dem Motto NATO 2030 wurde sowohl die neue Vision als auch Strategie des Militärbündnisses für das nächste Jahrzehnt festgelegt. Um den »Weltfrieden« zu ermöglichen wurden namentlich China, Russland und Iran zu »Feinden des Friedens« erklärt. Es folgte im Februar 2022 der Ukraine-Krieg, der, wie es scheint, ein Krieg zwischen der NATO und Russland ist, der über die Ukraine geführt wird. Die Ukraine wurde zu einem Pufferzonen-Staat in diesem Machtkrieg gemacht. Es ist den USA gelungen, innerhalb der NATO führende EU-Staaten in diesen Krieg einzubeziehen. Nun kann gesagt werden, dass die EU mit diesem Krieg beschäftigt wird und den Auftrag hat, Russland über die Ukraine zu zähmen und in das Machtgefüge der NATO d. h. der USA zu unterstellen. Es ist ein Machtkrieg. Das Problem der Energiezufuhr wie die Gaslieferungen aus Russland ist eine Konsequenz, mit der allerdings die Bevölkerung in Europa beschäftigt werden soll. Diese Konsequenz ständig über die Mainstream-Medien in den Vordergrund zu stellen, dient vor allem dazu, die Urheber des Krieges zu decken. Metaphorisch ausgedrückt bedeutet dies, den Karren vor das Pferd zu spannen.

Es ist den USA tatsächlich gelungen, Russland in eine Sandwich-Position zu versetzen. Der russische Präsident Wladimir Putin wurde vor zwei Alternativen gestellt: entweder die Ukraine zu besetzen, oder Russland würde angegriffen werden. Putin hat unter Missachtung des internationalen Rechts die Ukraine besetzt, um sein Land jenseits seiner Grenzen zu verteidigen. Die Ereignisse zeigen, dass die Ukraine als neuer Pufferzonen-Staat noch lange Zeit die globale Politik befassen wird. Vor allem ist die EU hierdurch gefangen genommen worden, was einen Einschnitt in ihrer Entwicklung bedeutet.

Als beteiligte Staaten die ukrainischen Flüchtlinge aufzunehmen entschuldigt nicht die Beteiligung an der Eskalation, die zu diesem Krieg führte. Den Ukrainer:innen zu helfen, müsste bedeuten, alle Wege zur Beendigung des Krieges zu suchen. Es hilft auch nicht, die Opposition im eigenen Land entweder dem Putin- oder dem NATO-Lager zuzuordnen. Im 21. Jahrhundert wird der 3. Weltkrieg noch weitere Länder zu Pufferzonen neuer Kriege machen. Um dies zu verhindern, ist es wichtig, den 3. Weltkrieg in seiner Gesamtheit zu verstehen. Die existentielle Frage »Quo vadis Menschheit« kann dabei helfen, sich eine allgemeine Frage zu stellen. Nicht nur die Ukraine, sondern viele Länder befinden sich im Umbruch in diesem 3. Weltverteilungskrieg.

Countdown für Erdoğan läuft

Die gefährliche Eskalation des türkischen Staates in Politik und Krieg geht weiter. Bis zum 24. Juli 2023 sind es jetzt nur noch Monate. Der türkische Präsident Erdoğan spricht seit Jahren über seinen Traum einer großen Türkei. Am 24. Juli 2023 wird der Lausanner Vertrag 100 Jahre. Außerdem jährt sich im Oktober 2023 auch die türkische Republikgründung durch den »Vater der Türken« Mustafa Kemal Atatürk zum 100. Mal. Bis Juli 2023 möchte Erdoğan die türkischen Staatsgrenzen des Nationalpakts von 1921, den Atatürk nicht vollenden konnte, realisieren. 2023 stehen auch Präsidentschaftswahlen in der Türkei an. Da Erdoğan nochmals gewählt werden will, muss er für den türkischen Staat bis dahin einen Erfolg verzeichnen. Ansonsten droht ihm das Schicksal, das seinen Vorgängern wie Bülent Ecevit, Turgut Özal, Necmettin Erbakan widerfahren ist. Diese erfüllten ihre Staatsautorität nicht entsprechend der Bedürfnisse und Vorgaben des »tiefen Staates«. Der tiefe Staat, der augenscheinlich konspirativ wirkt, besteht aus ideologischen Kadern, die seit İttiḥâd ve Teraḳḳî Cemʿiyeti (Komitee für Einheit und Fortschritt1) einen wichtigen Kern des Staates bilden. Zusätzlich zu diesem wurde in den 1970er Jahren die sogenannte Ideologie des İttiḥâd ve Teraḳḳî Cemʿiyeti durch die Erweiterung in Form der türkisch-islamischen Synthese entwickelt.

Erdoğans Ära ist begleitet von radikalen Umwälzungen, vor allem seit dem »arabischen Frühling« und insbesondere seit der Syrien-Krise, in der Region des Mittleren Ostens sowie global. Das durch die Umwälzungen entstandene Vakuum im Mittleren Osten muss Erdoğan auf den »tiefen Staat« hin ausrichten. Hierfür wurde ihm erlaubt, die Staatsstrukturen zu zentralisieren. Das präsidiale Regierungssystem, das seit 2018 existiert, hat die Legislative, Judikative und Exekutive entmachtet und die Macht auf Erdoğan konzentriert. Er hat eine Clique von »Politikern« und »Experten« um sich gesammelt, um diese Aufgabe zu erfüllen. Durch hohe Gehälter und Löhne hat sich innerhalb dieser Clique schrittweise Korruption entwickelt, was gegenwärtig innerhalb der Bevölkerung thematisiert wird. Zudem wurde der Nepotismus2 gefördert. Für die Aufbesserung der Staatskasse wurde die Nähe zur Mafia gesucht. Staatlich geförderter Drogenhandel, Geldwäsche etc. haben ein weites Netz zwischen Staat und Mafia gesponnen. Einige im Umfeld von Erdoğan befinden sich wegen des Vorwurfs der Geldwäsche zurzeit in den USA in Haft. Fast jede Woche gibt Erdoğan Aufträge an Meinungsforschungsinstitute, um die Tendenz der kommenden Wahl in Erfahrung zu bringen. Auch haben sich viele Gründungsmitglieder der AKP von Erdoğan getrennt, und ihre kritischen Stimmen werden lauter. Auch der Koalitionspartner, die ultra-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), ist stark angeschlagen. Bis auf Kurd:innenfeindlichkeit und türkischen Nationalismus hat diese Partei politisch nichts zu bieten. Ihr Vorsitzender Devlet Bahçeli hilft Erdoğan, Drohungen gegen Kurd:innen und Oppositionelle und kritische Stimmen aus dem Ausland auszusprechen.

Sechserbündnis keine Opposition, sondern reaktionär

In der türkischen Politik fehlt es, ausgenommen die HDP (Demokratische Partei der Völker), an einer seriösen Opposition. Es hat sich eine Koalition aus CHP (Republikanische Volkspartei), İyi Parti (Gute Partei), Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit), DP (Demokratische Partei), DEVA Partisi (Partei für Demokratie und Fortschritt) und Gelecek Partisi (Zukunftspartei) gebildet, die angeblich die Schwächung der AKP-MHP-Koalition zum Ziel hat. Was aber realpolitisch dieser Sechser-Pakt macht, ist, auf Erdoğans Aktionen zu reagieren. Ein eigenständiges Konzept zur Lösung der Probleme des Landes hat das Sechserbündnis nicht. In ihrer Distanz zur HDP sind sie ähnlich wie ihre sogenannten Gegner. Dabei ist das Kernproblem der Türkei ihr »Kurdenproblem«, wofür die HDP eine Alternative zu bieten hat. Die HDP schlägt im Gegensatz zu ihnen eine Alternative für die Demokratisierung des Landes vor. Aber dem Sechserbündnis geht es um einen Machtwechsel, weniger um eine Systemkritik mit dem Ziel einer Demokratisierung. Ohne sich der »kurdischen Frage« anzunehmen wird es dem Bündnis sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch nicht gelingen, eine Opposition zur Kurd:innenfeindlichkeit des AKP-MHP-Regime zu stellen. Denn in der Ära von Erdoğans AKP ist der Umgang mit der »kurdischen Frage« Teil der außenpolitischen Strategie. Erdoğans Regime greift die Kurd:innen jenseits »türkischer« Grenzen an. Sein Krieg gegen die Kurde:innen in Nord- und Ostsyrien sowie in der Region Kurdistan-Irak eskaliert immer weiter.

Sowohl die Koalition der AKP/MHP als auch das Sechserbündnis sind nicht in der Lage, die Türkei aus der Sackgasse einer von Krisen geprägten Region zu holen.

Auch wenn Erdoğan ständig als Megalomane3 damit protzt, dass sein Staat allein gegen die kurdische Freiheitsbewegung Krieg führt und vielfach seine NATO-Partnerstaaten für die angeblich ausbleibende Unterstützung kritisiert, so widerspricht dies der Wahrheit. Innenpolitisch läuft Erdoğan auf dünnem Eis. Die politische Instabilität als Ursache für die Wirtschaftskrise ist nicht mehr haltbar. Seit 2018 befindet sich die türkische Wirtschaft in einer Rezession, auch weil die irrationale Zinspolitik zu Verunsicherungen führt und die Devisenpreise explodierten. Das Devisensystem richtet sich an den Wünschen des Autokraten Erdoğan aus. Im Wirtschaftssystem der Türkei herrscht ein konstantes Ungleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen in Fremdwährungen. Erstens werden seit Jahren öffentliche Güter in Privatbesitz umgewandelt. Zweitens werden, weil die Türkei im internationalen Finanzmarkt als unzuverlässig gilt, Swap-Instrumente eingesetzt, wenn die Möglichkeit, billige und frische Devisen aus dem Ausland zu erhalten, nicht mehr gegeben ist.

Die Türkei hat sich zu einem Swap-Staat entwickelt, jedoch nimmt die Zahl der Swap-Verträge nicht zu. Sie ist immer auf der Suche nach Ländern, mit denen Tauschgeschäfte abgeschlossen werden können. Dies ist auch einer der Gründe, warum Erdoğan Putin in seiner Krise geholfen hat: um die eigene Krise zu überwinden. Nach dem die EU die Swap-Verträge mit Russland gestrichen hat, hat sich die Türkei für Putin eingesetzt.

Neoosmanische Träumereien

Die türkische Armee, die nach der Rangliste der Streitkräfte die elftstärkste der Welt ist, ist die zweitgrößte Streitkraft in der NATO. Infolge der Strategie einer Großtürkei wurde dem Militarismus Priorität eingeräumt. Außenpolitisch wirkt sich dieser Militarismus als drohende Aggression aus, mit Folgen wie Besatzung, Verstößen gegen das internationale Recht bei Intervention in souveränen Staaten wie Syrien und Irak aus.

Aus diesem Grund hat Erdoğan seine Ansprüche maximiert, um größer als Atatürk dazustehen. In den letzten Jahren hat er indirekt sowohl Atatürk als auch dem Chefdiplomaten bei den Gesprächen über den Lausanner Vertrag İsmet İnönü4 vorgeworfen, die Republik nur auf einem kleinen Teil des ehemaligen Osmanischen Reiches gegründet zu haben, den Nationalpakt nicht eingehalten und bei den Lausanner Gesprächen mit dem Westen eine Niederlage für die Türkei unterzeichnet zu haben. Der türkische Regimechef möchte als der bessere Atatürk in die Geschichte eingehen, indem er ehemalige osmanische Gebiete – wie sie im Nationalpakt von 1921 stehen – annektiert. Sein Augenmerk hat er seit dem »arabischen Frühling« vor allem auf zwei ehemalige Provinzen des damaligen Osmanischen Reiches gesetzt, Mûsil (Mosul), das für das gesamte Südkurdistan (Nordirak) steht und die Provinz Aleppo für Rojava (Nord- und Ostsyrien). Erdoğan glaubt, hier sein Ziel schnell zu erreichen, da sowohl der Irak als auch Syrien auf allen Ebenen durch Krieg und andere Konflikte geschwächt sind. Unerwartet überraschten ihn die Kurd:innen. Denn auch sie haben sich auf das politische Vakuum im Mittleren Osten vorbereitet und eigens ein neues Modell und eine Lösung für die kurdische Frage in der Türkei, Syrien, Irak und Iran entwickelt. 2005 hatte der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan das Modell des demokratischen Konföderalismus, ein Modell der staatenlosen Demokratie, entwickelt, welches von der kurdischen Freiheitsbewegung schrittweise in allen Teilen Kurdistans umgesetzt wird. Die Lösung, die auf Koexistenz der Völker und Religionen in den kurdischen Gebieten setzt, hat sich auch unter den vielen ethnischen Gruppen bewährt. Kurzum kann gesagt werden, dass das Modell des demokratischen Konföderalismus die Lösung der kurdische Frage innerhalb der bestehenden Grenzen gewährleistet. Doch im Gegensatz dazu will die Türkei unter Erdoğan die Zukunft des türkischen Staates durch Änderungen des Grenzverlaufs garantieren.

Um dies durchzusetzen und um die kurdischen Gebiete zu entvölkern, hat der türkische Staat alles erdenkliche unternommen und mit der Besatzung einzelner Regionen in den umliegenden Ländern begonnen. Hierfür hat die Türkei selbst den sogenannten Islamischen Staat (IS) und andere Söldnergruppen gefördert und gegen die kurdische Bevölkerung gehetzt. Allerdings ohne großen Erfolg, denn die Guerilla der PKK, die Volks- sowie die Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ und die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) konnten den IS in Syrien und Irak besiegen.

Mit der Strategie des »Çöktürme Planı« (sinngemäß »In die Knie zwingen«), wurde ab 2015 der Krieg gegen die Kurd:innen durch Verhaftungswellen, die Besetzung kurdischer Gemeinden durch die staatliche Treuhand, die wirtschaftliche Unterentwicklung kurdischer Gebiete, Veränderung der demografischen Strukturen durch die Ansiedlung von Kriegsflüchtlingen aus Syrien und Afghanistan in kurdische Gebiete und vielem mehr weiter intensiviert. In Nordsyrien wurden 2018 Efrîn und 2019 Girê Spî und Serêkaniyê besetzt. Nahezu täglich wird die Zivilbevölkerung durch Drohnenschläge oder mit Artillerieangriffen terrorisiert.

Erdoğans neoosmanischen Traum bekommt auch das NATO-Land Griechenland zu spüren. Denn nach dem Vertrag von Lausanne wurden die Inseln Lesbos, Chios, Samos und Ikaria Griechenland zugesprochen. Mit dem 100. Jahrestag des Vertrages, am 24. Juli 2023, streckt Erdoğan mit seiner Expansionsstrategie seine Hände auch auf griechische Inseln aus, was Griechenland dazu veranlasst hat, als Präventivmaßnahme mehr Militär dorthin zu verlagern. Nicht zuletzt warf der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis in einem CNN-Interview Erdoğan Expansionismus vor indem er sagte: »Erdoğan sollte sich um die türkische Wirtschaft kümmern, anstatt neoosmanische Fantasien wiederzubeleben.«

Zuvor hatte Erdoğans Koalitionspartner Devlet Bahceli sich mit einer Landkarte fotografieren lassen, auf der sämtliche griechische Inseln der östlichen Ägäis und auch die größte griechische Insel Kreta als türkisches Gebiet dargestellt wurden.

Ohne internationale Rückendeckung ist der Krieg gegen Kurd:innen nicht möglich

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit finden in Kurdistan permanent statt. Die Türkei als Mitglied der NATO, UN, Europarat und als Beitrittskandidat der EU profitiert vom Schweigen dieser Organisationen, da diese glauben, die geopolitische und geostrategische Bedeutung des Landes sei für ihre Interessen von Bedeutung.

Seit zwei Jahren verurteilt die kurdische Freiheitsbewegung die Türkei wegen des Einsatzes von verbotenen C-Waffen gegen die kurdische Guerilla und an zivilen Orten. Gegenüber jedweder Bemühung zur Aufklärung dieser Verbrechen hat die OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) mit Sitz in Den Haag regelrecht die »drei Affen« gespielt. Dabei ist die Türkei Mitglied im OPCW und von daher verpflichtet, den Einsatz verbotener chemischer Kampfstoffe zu unterlassen. Vor allem im Verlauf der am 14. April dieses Jahres begonnenen Invasion in den Gebieten Zap, Avaşîn und Metîna in den Medya-Verteidigungsgebieten setzte die türkische Armee vermehrt unterschiedliche C-Waffen ein.

Ein weiteres schwerwiegendes Verbrechen ist die Ermordung von Zivilist:innen durch bewaffnete Kampfdrohnen. Dies ist eine neue Form der Todesstrafe ohne gerichtliche Verurteilung. Auch die Verbrechen gegen Kurd:innen in den besetzten Gebieten in Rojava wie Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî dauern unvermidert an.

Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist: Wer hält das Erdoğan-Regime trotzdem auf den Beinen? Sicherlich spielt die langjährige türkische Erfahrung der Diplomatie im kalten Krieg, in dem die Türkei stets zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO manövriert hat, eine wichtige Rolle. Kriegt sie bei der NATO nicht, was sie will, geht sie zu den Kontrahenten des Militär-Bündnisses, Russland oder China.

Auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 29. Juni hat Erdoğan die USA unter Druck zu setzen versucht, endlich grünes Licht für die vollständige Besetzung von Rojava zu bekommen. Allerdings passte dies zeitlich nicht in die Planungen der USA, weshalb Erdoğan aufgefordert wurde, noch zu warten. Sein Auftritt beim Madrider Gipfel war für seine innenpolitische Machtdemonstration wichtig. Auf der anderen Seite hat die NATO – und hier vor allem Schweden und Finnland – geholfen, das Antlitz eines Diktators zu beschönigen, indem sie wieder einmal die Kurd:innen diskreditieren. Dies ist ein Schandfleck für diese beiden Staaten, die mit ihrer Demokratie geprotzt haben. Wenn eigene Interessen im Spiel sind, dann wird die Demokratie ins Bücherregal verwiesen. Wichtig ist, wie die Menschen in diesen Ländern mit dieser brutalen und nackten Wahrheit der Interessenspolitik der Nationalstaaten umgehen. Sowohl die NATO und im Besonderen auch Schweden haben seit Beginn des bewaffneten Aufstandes am 15. August 1984 sowieso permanent zur türkischen Diktatur gehalten. Insofern ist hier die Frage: »Quo vadis Demokratie in Schweden und auch in Finnland?«

»Grünes Licht« für Erdoğan?!

Da sich die USA allerdings andere strategische Prioritäten - wie die gegen Russland, Iran und China – gesetzt haben, gab es bisher für die Türkei kein grünes Licht für eine breite neue Offensive zur Besetzung weiterer Gebiete in Rojava. Dennoch hat die USA Erdoğan auf die eine oder andere Art und Weise die Genehmigung zu extralegalen Hinrichtungen mit Killerdrohnen gegeben. So wurden allein in der zweiten Augustwoche mehrere kurdische Politiker:innen, Aktivist:innen und Zivilist:innen gezielt mit Drohnen in der nordsyrischen Stadt Qamişlo hingerichtet. Es ging soweit, dass eine führende Kommandantin der YPJ, Jiyan Tolhildan, die zugleich verantwortlich war für die Koordination mit der internationalen Koalition zur Bekämpfung des IS, zusammen mit zwei weiteren Freundinnen ermordet wurde.

Über die Chronologie des diplomatischen Verkehrs des Erdoğan-Regimes nach dem NATO-Gipfel wird verständlich, warum die USA den Luftraum über Rojava nicht schließen und den türkischen Drohnen die Erlaubnis zu den extralegalen Hinrichtungen geben.

Am 13. Juli 2022 trafen sich Militärdelegationen aus der Türkei, Russland, der Ukraine und den Vereinten Nationen (UN) in Istanbul, um über die Verschiffung von Getreide aus der Ukraine zu beraten. Am 22. Juli 2022 trafen dieselben Delegation in Istanbul zusammen und unterzeichneten das »Dokument über die Initiative für die sichere Verschiffung von Getreide und Lebensmitteln durch ukrainische Häfen«. Die im Rahmen dieser Vereinbahrung eingerichtete »Gemeinsame Koordinierungsstelle« nahm am 27. Juli in Istanbul ihre Arbeit auf. Es folgte ein permanenter Austausch mit Russland und den US-Kontrahenten.

Am 19. Juli traf sich Erdoğan mit Putin und dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi in Teheran zu einem trilateralen Treffen im Rahmen der Astana-Vereinbarungen. Hier hat Erdoğan erneut auf die Invasion in Rojava beharrt, so wie er das ebenfalls auf dem NATO-Gipfel in Madrid getan hatte. Interessant ist auch, dass sich der syrische Außenminister zu dieser Zeit in Teheran befand – auch wenn er nicht an dem Treffen teilnahm.

Diesem Treffen folgte ein türkisches Massaker im Dorf Perex in der Nähe von Zaxo in Südkurdistan am 20. Juli, bei dem neun schiitisch-arabische irakische Bürger getötet und etwa 30 Personen verletzt wurden, die als Touristen in das Sommerressort gereist waren. Die irakische und arabische Öffentlichkeit protestierte in vielen Städten des Landes. Dieses Massaker hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, weshalb die irakische Regierung diesen Vorfall den Vereinten Nationen vortrug. International wurde dieses Massaker verurteilt, allerdings ohne die türkische Armee als Täter zu benennen, obwohl die irakischen Vertreter alle auf die Türkei verwiesen hatten. Dies ist eine weitere Haltung zum Schutz des diktatorischen Partners Erdoğan.

America First durch Smart Power gestärkt

Die sogenannte neue Strategie und Vision der NATO folgte im Grunde der Neustrukturierung der US-Politik nach der Ära Donald Trump. Anstelle der groben und abstoßenden Art von Trumps »America First« folgte mit dem neuen Präsidenten Joe Biden die smarte Art. Mit Biden haben die USA eingesehen, dass sie ihren Anspruch auf globale Dominanz nicht allein durchsetzen können. Hierfür benötigen sie Partner, was der US-Präsident auf dem NATO 2030-Gipfel in Brüssel letztes Jahr verkündet hat. Das Motto dieses Gipfels wurde daher »NATO 2030. United for a new era« (NATO 2030: Vereint für eine neue Ära). Diese Einigung ist den USA binnen kurzer Zeit gelungen.

Seit den Debatten über die neue Strategie der NATO verspricht sich Erdoğan, diese als eine Chance für sich zu nutzen. Die neue Strategie hat als ersten Schritt die Staaten China, Russland und Iran als gefährliche und feindliche Staaten deklariert. Mit dem Ukraine-Krieg wurde somit der erste faktische Krieg gegen Russland begonnen. Mit diesem Krieg bekräftigten die USA innerhalb der NATO ihr neues Strategiekonzept des Gipfels vom 28.–30. Juni in Madrid.

Front gegen den Iran

Der Besuch des US-Präsidenten Joe Biden im Nahen Osten am 13. Juli verbunden mit Gesprächen in Israel, Palästina und Saudi Arabien, dann seine Teilnahme am 16. Juli am »Sicherheits- und Entwicklungsgipfel von Jeddah«, an dem Ägypten, Irak und Jordanien teilnahmen, waren dazu gedacht, eine starke arabisch-israelische Front gegen Iran zu errichten. Vor dem Gipfel von Jeddah fand am 27. und 28. März in Israel der erste »Najaf-Gipfel« statt, an dem die Außenminister Ägyptens, der USA, Marokkos, der VAE (Vereinigte Arabische Emirate) und Bahrains teilnahmen. Das zweite Gipfeltreffen folgte dann am 27. Juni in Bahrain, unmittelbar vor dem NATO-Gipfel in Madrid. An dem Gipfel nahmen Vertreter aus Israel, Ägypten, Marokko, Bahrain und den VAE teil. All diese Staaten wurde über die Konkretisierung des von Trump initiierten Abraham-Abkommens5 vom 15. September 2020 eingeschworen. Im Ergebnis dieser Treffen begannen die Diskussionen über eine gegen Iran ausgerichtete Nahost-NATO in den Vordergrund zu treten. Vor allem mit dem Besuch von Biden in Israel am 13. Juli ist zu erwarten, dass die Eskalationen gegen den Iran zunehmen werden.

Das Abraham-Abkommen hat vor allem auch Israel genutzt, da es aus der diplomatischen und politischen Isolation in der Region herausgekommen ist. Auch innerhalb der palästinensischen Politik haben einige wie die Hamas ihre Politik dementsprechend gemildert. Es ist zu erwarten, dass auch der palästinensische Präsident Mahmud Abbas viel mehr Kompromisse mit Israel eingehen wird. Die Frage ist dann, welche Reaktionen der Iran zeigen wird, da er auch starken Einfluss in der Palästina-Frage hat.

All dies muss zur Kenntnis genommen werden, um das Bild der hegemonialen Ansprüche der USA in seiner Gesamtheit sehen zu können. Sich nur auf den NATO-Russland-Krieg zu konzentrieren, lässt das Bild unvollständig. Ein weiterer Gewinner der US-Politik ist Saudi-Arabien geworden. Denn nach der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi war die saudische Führung – vor allem der Kronprinz – diplomatisch, politisch und öffentlich diskreditiert worden. Nach dem Biden-Besuch startete der saudische Kronprinz seine Europareise nach Griechenland, Frankreich etc. Es sieht so aus, dass ein Teil der antiiranischen Politik der USA auch von der saudischen Monarchie übernommen worden ist.

Es ist offensichtlich, dass die Biden-Regierung sehr entschlossen und sehr schnell handeln will. Auch gegen den dritten Feind neben Iran und Russland, nämlich China, werden die Schritte zunehmend schneller. Der Besuch der Sprecherin des Repräsentantenhauses der USA, Nancy Pelosi, nach Bidens Nahost-Reise am 3. August in Taiwan signalisiert, dass die Maßnahmen gegen China gestärkt werden. Viele Expert:innen der internationalen Politik hegen aufgrund dieses Besuches den Verdacht, dass Taiwan zur Pufferzone gegen China entwickelt wurde, da es über das Finanzzentrum Hongkong nicht geklappt hatte.

Alle Entwicklungen nach dem NATO-Gipfel vom Juni 2021 zusammengefasst ergeben, dass drei Zentren gegen drei Feinde errichtet wurden. Gegen Russland die EU, gegen Iran ein arabisch-israelisches Bündnis und mit dem »Indo-Pacific Economic Framework (IPEF)«, dem viele asiatische Staaten wie Indien, Philippinen, Südkorea, Thailand, Vietnam, Indonesien, Japan, Malaysia, Neuseeland, Australien eingegliedert sind, gegen China. Daneben spielt auch das Einwirken der USA auf Japan, Australien, Südkorea und Neuseeland eine Rolle, die selbst bemüht sind, ihre Interessen im Indopazifik zu entwickeln.

Erdoğan provoziert durch jonglieren

Alle genannten Entwicklungen haben seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs direkt oder indirekt mit Kurdistan zu tun. In Iran leben etwa 15 Millionen Kurd:innen. Darüber hinaus ist der Iran sehr stark sowohl in Südkurdistan, Irak als auch in Syrien involviert. Russland ist darum bemüht, dem Erdoğan-Regime bei der Überwindung der wirtschaftlichen wie diplomatischen Isolierung zu helfen. Es geht Russland auch darum, über die Stärkung seiner Bündnispolitik mit der Türkei die NATO zu provozieren, deren Mitglied die Türkei ja ist. In Syrien ist Russland vehement bemüht, einen türkisch-syrischen Dialog zu fördern, der sich dann in ein antikurdisches Bündnis umsetzen soll. Aus welcher Ecke auch geschaut wird, man wird auf die Kurd:innen treffen.

Annalena Baerbocks Besuch in der Türkei

Nachdem sich Schweden und Finnland dem Diktator Erdoğan gebeugt haben, war die kritische Haltung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch im Juli in der Türkei doch ein wichtiger Schritt, zumindest das Gesicht europäischer Demokratie und Progressivität ein wenig zu bewahren. Auch wenn dieser Besuch von einigen Teilen der deutschen Politik als nicht diplomatisch bezeichnet wurde, war er ein wichtiges Signal für die Demokratie Deutschlands und Europas. Denn, was eigentlich nicht diplomatisch ist, ist, wenn einem Partner wie der Türkei fehlende Glaubwürdigkeit attestiert wird. Hin- und herjonglieren der Türkei, ihren Versuchen, anderen ihre eigenen Interessen aufzuoktroyieren, zu provozieren, gehört als Reaktion auch, ihr ihre Ecke zu zeigen. Dies zu tun, zeigt zugleich Stärke. Es bedeutet allerdings nicht, dass die deutsche Außenpolitik gegenüber den Kurd:innen – vor allem gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung – Sympathie hegt. Im Gegenteil, die deutsche Regierung hat innerhalb der NATO stets zu den verschiedenen türkischen Regierungen gestanden. Im Gegenteil zum US-Pragmatismus war es wichtig, dem türkischen Regime zu zeigen, dass alles seine Grenzen hat. 

Trotz allem: Die Kurd:innen sind unschlagbar

»Wir haben uns vereint, wir haben alles überlebt, wir sind hier«, sprachen Kurd:innen 99 Jahre nach Vertragsunterzeichnung in Lausanne im selben Saal.  Foto: ANFDie Kurd:innen haben das Erdoğan-Regime bereits im Juni 2015 durch den Sieg in Kobanê besiegt. Denn die militärische Niederlage des IS war zugleich auch eine Niederlage der Regierung Erdoğans. Immerhin hatte Ankara mit allen Mitteln den IS gefördert und unterstützt. Bei den Wahlen am 7. Juni 2015 verlor Erdoğans Partei die Mehrheit, da er keine kurdischen Stimmen mehr bekommen hatte. Im März 2019 hatte Erdoğan auch bei den Kommunalwahlen die Megametropole Istanbul verloren, da die Kurd:innen seinem Kandidaten die Stimmen nicht gaben. Heute benötigt er für die Wahlen 2023 ebenfalls wieder die Stimmen der kurdischen Bevölkerung. Erdoğans Regime hat in den letzten zwei Jahren vehement versucht, über die südkurdische PDK einen innerkurdischen Krieg zu initiieren. Dieser ist nicht gelungen, da die kurdische Bevölkerung offensichtlich die PDK des Verrats beschuldigt und sich eindeutig für die PKK positioniert hat. Trotz der C-Waffen und der Drohnen gelingt es der Türkei nicht, den Widerstand der kurdischen Freiheitskämpfer:innen zu brechen; sie ist mit der Militäroffensive seit dem 17. April in der Zap-Region militärisch in eine Sackgasse geraten, die Erdoğan auch innenpolitisch schlecht ausschauen lässt. Er braucht dringend einen Erfolg, was gegenüber dem kurdischen Freiheitskampf nicht so einfach ist. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass er nach neuen Wegen für die Liquidierung der Kurd:innen suchen wird. In diesem Zusammenhang lässt er auch den kurdischen Denker Abdullah Öcalan seit dem 25. März 2021 mit der totalen Isolation bestrafen. Um die kurdische Bevölkerung zu manipulieren, werden über ihm nahestehende Journalist:innen falsche Informationen verbreitet, wie z. B. »in Kürze wird Öcalan von seiner Familie besucht werden«.

Seine Bemühungen, mit Teilen der irakischen Regierung wie Mustafa Al-Kadhimi und Muqtada as-Sadr eine Front gegen die Êzîd:innen in Şengal (gehört zur Provinz Musîl) zu betreiben, ist ebenso gescheitert. Somit ist das Abkommen vom 9. Oktober 2021, nach dem das Gebiet erneut unter die Kontrolle der PDK und Teilen der irakischen Armee gestellt werden sollte, auch hinfällig geworden. Denn es waren diejenigen, die am 3. August 2014 die Êzîd:innen an den IS ausgeliefert haben, indem sie, ohne auch nur eine Kugel abzuschießen, einfach abgehauen sind. Es waren die PKK und YPG/YPJ-Kämpfer und Kämpferinnen, die ihnen zu Hilfe eilten und viele Menschen in letzter Minute retten konnten.

Hinzu kommt, dass die kurdische Freiheitsbewegung im Multilateralismus der gegenwärtigen Politik sowohl über Flexibilität als auch Vorausschau verfügt.

Zuletzt sollte gesehen werden: Genau am 99. Jahrestag des Lausanner Vertrages am 24. Juli 2022 trafen sich Vertreter:innen von 57 kurdischen politischen Parteien und Organisationen aus allen vier Teilen Kurdistans in Lausanne zu einer gemeinsamen Konferenz. Nach 99 Jahren sprachen die Kurd:innen genau in dem Saal, in dem der Vertrag zur Verleugnung von Kurd:innen unterzeichnet wurde und sagten: »Wir haben uns vereint, wir haben alles überlebt, wir sind hier.« Dies sollte doch von denen zur Kenntnis genommen werden, die immer noch über die kurdische Karte ihre Bündnispolitik mit der Türkei, dem Iran, Syrien und Irak machen.

Fußnoten:

1 - Das Komitee für Einheit und Fortschritt (İttiḥâd ve Teraḳḳî Cemʿiyeti), auch bekannt als Ittihadisten, war eine politische Organisation im Osmanischen Reich. Es war die treibende Kraft hinter der konstitutionellen Revolution von 1908 und dem Völkermord an den Armenier:innen und regierte mit kurzer Unterbrechung von 1908 bis 1918. Es war die mächtigste und langlebigste Partei der Bewegung der Jungtürken. Quelle: wikipedia.org

2 - Klüngelei, Vetternwirtschaft

3 - In etwa: Größenwahnsinniger

4 - Mustafa İsmet Pascha, ab 1934 İsmet İnönü, war ein türkischer Offizier und später Politiker der CHP und Gefährte des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.

5 - Am 15. September 2022 jährt sich nun zum zweiten Mal die Unterzeichnung des Abraham-Abkommens zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrein. Später folgten Abkommen mit Marokko und dem Sudan.


 Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022