Dissertation über das Mediensystem in Kurdistan

»Vom System zum Netzwerk« – Rezension

Kalle Schönfeld, Kurdistan Report


»Vom System zum Netzwerk« – RezensionIn der Dissertation »Vom System zum Netzwerk – Medien, Politik und Journalismus in Kurdistan« lassen sich die Ergebnisse der Forschungsarbeit nachlesen, die Kerem Schamberger in den Jahren 2017 bis 2019 nach Başûr1, nach Rojava2 und in verschiedene Städte in Deutschland und Europa geführt hat. Durch Feldforschung, Dokumentenanalyse, aber vor allem anhand von über fünfzig Experteninterviews ist er der Frage nachgegangen, was die spezifischen Eigenschaften der kurdischen Medienlandschaft und eines kurdischen Journalismus ausmachen. Der Schwerpunkt lag bei den Medien und Akteur:innen der Freiheitsbewegung, aber ebenso diejenigen der PDK3 und YNK4 sowie weiterer Organisationen flossen in die Untersuchung ein. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die kurdischen Medien als transnationale Netzwerke funktionieren, die von politischen Akteur:innen dominiert sind. Sie sprengen somit die Medientheorien der westlichen Kommunikationswissenschaft, in denen einerseits der Nationalstaat eine unhinterfragte zentrale Rolle einnimmt und andererseits das liberale Idealbild des marktwirtschaftlich finanzierten »unabhängigen Journalismus« vorherrscht

Schambergers Ausgangspunkt im wissenschaftlichen Diskurs sind die veralteten aber in der Medientheorie noch präsenten Systemmodelle aus den 1950er Jahren. Diese sehen Gesellschaften als mechanische Steuerprozesse ohne individuelle Akteur:innen. Geprägt von einem »methodischen Nationalismus« stellen sie dagegen den Nationalstaat als zentrale »Steuereinheit« in den Mittelpunkt. Für kurdische Medien seien diese Modelle nutzlos, da sich diese nicht in einem Staat, sondern in verschiedenen Staaten und in der Regel unter Repression und Unterdrückung durch diese entwickelt haben. Auch das westliche Idealbild einer unabhängigen, privatwirtschaftlichen Presse als »Korrektiv« und »vierte Gewalt« sei auf die kurdischen Verhältnisse nicht übertragbar, da sich in der Region nie das Modell kommerzieller Medien, die sich über Werbung oder Abonnent:innen finanzieren, etablieren konnte.

Schamberger leitet diese spezifischen »Pfad­abhängigkeiten« aus der kurdischen Geschichte ab. Zwar gab es die ersten kurdischsprachigen Zeitungen schon im Osmanischen Reich. Diese wurden jedoch in geringer Auflage nur von einem kleinen intellektuellen Publikum gelesen, da die große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung analphabetisch und die Verteilung von Zeitungen durch die mangelnde Infrastruktur und bergige Landschaft kaum möglich war. Diese Bedingungen erschwerten das Entstehen von kurdischen Printmedien bis weit ins 20. Jahrhundert. Ab dem Beginn der linken Jugendrevolution und des erwachenden kurdischen Widerstands der 1970er Jahre gründete sich eine Vielzahl von Zeitschriften und Zeitungen auch in kurdischer Sprache. Sie litten aber schwer unter der Verfolgung und Unterdrückung des türkischen Staates. Hunderte Journalist:innen wurden von den Todesschwadronen ermordet. Mit der Gründung von Med TV 1995 etablierte sich dagegen das Satellitenfernsehen als das bis heute wichtigste Medium für Kurdistan, da der Sender sich trotz des Verbots durch die europäischen NATO-Verbündeten riesiger Beliebtheit bei der Bevölkerung erfreute und PDK und YNK ihn durch die Gründung eigener Sender nachahmten. Aus der Zerstückelung zwischen Nationalstaaten und dem Widerstand gegen die kulturelle Unterdrückung erklärt sich für Schamberger der Charakter der kurdischen Medien als von politischen Parteien dominierte transnationale Netzwerke.

Für deren Analyse wählt er das Netzwerkmodell, sowie die »Akteur-Struktur-Dynamik« des Soziologen Uwe Schimank, ein Systemmodell, das auch dem Handeln individueller Akteur:innen Platz einräumt. Diesem zufolge ist das menschliche Handeln zwar von Strukturen bestimmt, das Handeln jeder einzelnen Person prägt aber umgekehrt auch die Struktur. Schimank unterscheidet drei Arten von handlungsleitenden Strukturen: Konstellationsstrukturen (bestimmen das »Können«), Erwartungsstrukturen (bestimmen das »Sollen«) und Deutungsstrukturen (bestimmen das »Wollen«). Diese drei Strukturarten legt Schamberger den Analysekategorien zugrunde, mit denen er seine Forschungsergebnisse auf die Frage hin untersucht, was das Handeln der Journalist:innen in den kurdischen Mediennetzwerken prägt.

Diese Forschungsergebnisse machen den eigentlichen Hauptteil der Arbeit aus. Hier erfahren die Leser:innen mehr über die Forschungsaufenthalte des Autoren in Rojava und Başûr, lesen diverse Interviewauszüge und Beobachtungen und lernen einige Interviewpartner:innen kennen, die in Kurzportraits vorgestellt werden. Dem Ergebnisteil vorgelagert ist ein sehr persönliches und emotionales Bekenntnis des Autors über seine inneren Überzeugungen und Motivationen, die ihn zu der Forschungsarbeit veranlasst haben und denen er mit einem Zitat des französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie Ausdruck verleiht: »Die Welt ist ungerecht, die Welt ist schlecht, sie ist durchzogen von Systemen der Herrschaft, der Ausbeutung, der Macht und Gewalt, die es aufzuhalten, infrage zu stellen und zu überwinden gilt«.

An diesen Orten und mit Vertreter:innen dieser Medien führte der Autor Interviews: Başûr (Kurdsat, Kurdistani Nwe, Rojnews), Rojava (Nûçe Ciwan, ANF, Ronahî TV, Information Center of Afrin Resistance, ANHA, Artı TV, Al Aan TV, NRT, KNN, Mezopotamya Ajansı), Köln (Artı TV), Neu-Isenburg (Yeni Özgür Politika), Denderleeuw/NL (Medya Haber, Stêrk TV), Löhne (Çira TV), Bochum (Arta FM).

Mit Vertreter:innen folgender Medien führte er Skypeinterviews: Jin News, Mezopotamya Ajansı, Aryen Haber. Des Weiteren sprach er u. a. mit ehemaligen Mitarbeiter:innen von Med TV, unabhängigen Journalist:innen, Behördenvertreter:innen, Vertreter:innen der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien und anderen Fachleuten.

Die erste Analysekategorie der »Konstellationsstrukturen« (wodurch können die Journalist:innen handeln) liefert eindeutige Ergebnisse: die politischen Parteien bzw. Bewegungen ermöglichen in Kurdistan die Tätigkeit von Journalist:innen durch Finanzierung, logistischen Aufbau und Ausbildung. Gleichzeitig beschränken und bestimmen sie die Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeiten von Journalist:innen anderer Parteien. Im Falle der PDK geht das bis zum Mord, wie etwa an dem Roj News-Mitarbeiter Wedat Hussein Ali 2016, um ein »Signal« zu senden, dass kritische Berichterstattung auf PDK-Gebiet nicht geduldet werde. Die Kontrolle der Parteien über die Medien ist so groß, dass Schamberger ihre Rolle mit denen kleiner Nationalstaaten vergleicht. Außerdem sind die Mediennetzwerke zwar transnational aufgebaut und von regem Austausch zwischen einzelnen Medien geprägt, aber zwischen den Medien unterschiedlicher Parteien findet kaum personeller Austausch oder Vernetzung statt. Somit gibt es nicht ein kurdisches Mediennetzwerk, sondern mehrere voneinander getrennte, jeweils eins pro politische Partei. Folgende Auflistung nennt die Parteizugehörigkeit einiger kurdischer Medien:

KCK-Bewegung5: Medya Haber, Ronahî TV, Stêrk TV,
ANF News, ANHA, Roj News, Aryen TV, Jin News,
Yeni Özgür Politika
PDK: Rudaw, K24, Kurdistan TV
YNK: Kurdistan Nwe, Kurdsat, Gali Kurdistan TV
Gorran6: Kurdish News Network
Naway Nwe7: NRT, Nalia Media Corporation

Eine kleine Gruppe von Medien wird über ausländische NGOs finanziert, so wie der durch den deutschen WDR aufgebaute Radiosender Arta FM in Rojava. Zwar fand auf diesen 2016 ein Angriff aus der Jugendbewegung heraus statt, da diese mit dessen Berichterstattung unzufrieden war. Die Selbstverwaltung entschuldigte sich hierfür jedoch und leitete die Verurteilung der Täter:innen ein. Die Mitarbeiter:innen berichten seither von vergleichsweise freien und unproblematischen Arbeitsbedingungen.

Zur zweiten Analysekategorie der Erwartungsstrukturen, die das »Sollen« der Akteur:innen beschreibt, bemerkt Schamberger alles in allem, dass diese in der kurdischen Gesellschaft keine große Rolle spielen, da schriftliche, formale Gesetze entweder nicht existieren oder durch die politischen Akteur:innen nur selektiv und willkürlich angewendet werden. Die Akteur:innen der Befreiungsbewegung achten dort, wo sie von staatlicher Repression betroffen sind, also vor allem in der Türkei und Europa, auf die formale Einhaltung der staatlichen Gesetze und Regeln, aber dieses Verhalten ist taktischer Natur und wird von ihnen umgangen, wo es möglich ist.

In der dritten Kategorie der Deutungsstrukturen, dem »Wollen«, sieht er die entscheidende Trennlinie zwischen den Mediennetzwerken von PDK und YNK einerseits und der Befreiungsbewegung andererseits: Bei ersteren beziehen die Mitarbeiter:innen hohe Gehälter und sind motiviert diese zu steigern bzw. haben Angst sie zu verlieren. Auch Schenkungen, etwa von Immobilien, kommen vor. Dabei handelt es sich nicht wirklich um die Bezahlungen von erbrachten Leistungen, da auch Stellen und Posten an Personen vergeben werden, die keine nennenswerten Gegenleistungen erbringen. Vielmehr sind in diesem Fall die Medien Teil des südkurdischen Patro­nage- und Klientelsystems, in denen sich die Barzanî- und Talabanî-Familien an der Spitze die Loyalität und den Gehorsam von Gefolgsleuten durch die Verteilung der Finanzflüsse aus dem Ölgeschäft kaufen und so ihre Macht sichern.

Die Journalist:innen aus dem Umfeld der Freiheitsbewegung haben dagegen ein aktivistisches Selbstverständnis. Sie arbeiten für geringe oder ohne Bezahlung aus moralischer und ideologischer Überzeugung. Sie verstehen Medienarbeit als ein Teil des kurdischen Befreiungskampfes, ihre eigene Rolle als »die Stimme und das Ohr des Befreiungskampfes unseres Volkes«, wie ein:e Interviewpartner:in zitiert wird. Viele waren vor ihrer journalistischen Tätigkeit in anderen Bereichen der Befreiungsbewegung aktiv, etwa bei der Guerilla oder in der politischen Arbeit; und es wird viel zwischen den einzelnen Medien gewechselt. Einige nennen Erlebnisse von Unter­ drückung, Haft und Folter als Schlüsselerlebnisse für den Entschluss Journalist:in zu werden.

Schamberger identifiziert in den Selbstdeutungen der Akteur:innen ein kollektives Selbstverständnis bei den Journalist:innen der Freiheitsbewegung: Es ist die Erzählung der »Freien Presse« (kurdisch: Çapemeniya Azad; türkisch: Özgür Basın). Journalismus im Sinne dieser »Freien Presse« bedeutet Kampf mit medialen Mitteln um die politische und kulturelle Selbstbestimmung der Kurd:innen. Zu ihnen gehören Medien, »die an der Seite der Freiheit des kurdischen Volkes, der Gesellschaft und aller anderen Ausgeschlossenen stehen«. Internationale Solidarität mit anderen Widerstandsbewegungen, grundsätzliche Opposition zu nationalstaatlichen Regimen und Ablehnung von monistischem Nationalismus gehören zu den inhaltlichen Leitlinien. Die interne Arbeitsweise orientiert sich an Gleichberechtigung, Frauenemanzipation und Kritik an Hierarchien. Ein wichtiges Symbol dieses Selbstverständnisses und Quelle einer gemeinsamen Identität ist das Märtyrergedenken, also die Erinnerung an Journalist:innen, die bei ihrer Arbeit getötet wurden. In dem Selbstverständnis der »Freien Presse« finden sich also insgesamt die ideologischen Kerngedanken der Freiheitsbewegung auf den medialen Sektor bezogen. Besonders wirkmächtig bleibt diese Tradition, da sie auch in der Ausbildung neuer Journalist:innen vermittelt wird.

Mit einhelliger, bisweilen polemischer Ablehnung reagieren die Journalist:innen, die sich dieser »Freien Presse« verpflichtet sehen, auf die liberalen Konzepte einer »unabhängigen, objektiven Presse«: »Zu sagen, Journalismus ist unparteiisch und objektiv, ist ein sehr liberaler Standpunkt. Ein Journalist muss eine Weltanschauung und eine Positionierung haben«. Oder aus einem anderen Interview: »Unparteilichkeit ist nur ein Schwindel, das gibt es nicht. Auch die Presse muss parteiisch sein. Und zwar auf welcher Seite? Auf der Seite der Gerechtigkeit, der Gleichheit. Wenn die Frau unterdrückt wird, muss die Presse gegen das System sein, das diese Unterdrückung hervorbringt. Oder wenn in einer Fabrik ein Arbeiter unterdrückt wird, muss sie seine Rechte verteidigen. […] Der Begriff der Unparteilichkeit ist von der Bourgeoisie, den Inhaber:innen der Macht, hervorgebracht worden«. Das Idealbild der Unparteilichkeit und Objektivität wird von den Vertreter:innen der »Freien Presse« also zurückgewiesen, und als Garantin ihrer Unabhängigkeit sehen sie ihre Fundamentalopposition zum System des nationalstaatlichen Kapitalismus, da nach ihrer Lesart die Medien, die in diesem gefangen sind, nicht unabhängig sein können.

In seinem Fazit nennt der Autor dieses Leitbild der »Freien Presse« als mögliches Vorbild für den Aufbau von weiteren Alternativmedien. Besonders die Fundamentalopposition zum bestehenden System und das aktivistische und interventionistische Selbstverständnis könnten etwas grundsätzlich Neues jenseits existierender Herrschaftsverhältnisse hervorbringen. Auch der Aufbau eines eigenen Ausbildungssystems abseits der staatlich-universitären Ausbildung scheint ihm ein zentraler Baustein zu sein, um ein eigenes Denk- und Wertesystem zu entwickeln. Zwar räumt er ein, dass in der engen Abhängigkeit der Medien von politischen Akteur:innen die Gefahr politischer Willkür und Propaganda lauere wie im historischen Fall der Sowjetunion, doch nennt er pluralistische Organisationsstrukturen wie Genossenschafts- und Gemeinnutzungsmedien als mögliche Antwort darauf. Damit aus Oppositions- und Protestbewegungen eigene Alternativmedien erwachsen könnten, müssen diese allerdings eine entsprechende Größe erreichen.

»Vom System zum Netzwerk – Medien, Politik und Journalismus in Kurdistan« ist eine beeindruckende Forschungsarbeit und gibt Einblick in die enorme Materialmenge, die der Autor während seiner Feldaufenthalte und Recherchen über die Geschichte, Struktur und Funktionsweise der kurdischen Medien, insbesondere der Freiheitsbewegung und über das Selbstverständnis, die Lebensläufe und die Arbeitsbedingungen ihrer Akteur:innen gesammelt hat. In der wissenschaftlichen Analyse legt er erfolgreich den Eurozentrismus und »methodischen Nationalismus« offen, der vielen Theorien der Medientheorie zugrunde liegt und findet mit der Netzwerktheorie das geeignete Werkzeug, um die kurdische Medienlandschaft als Cluster transnationaler Netzwerke zu beschreiben – eine Medienlandschaft, die die eurozentrischen Systemtheorien sprengt.

Mit der »Akteurs-Struktur-Dynamik« erklärt er die Motivationen und Handlungsoptionen der Akteur:innen stimmig, scheint jedoch an einem Punkt der Analyse selbst mit einer »europäischen Brille« in eine Falle zu laufen und zwar, wenn er die »Erwartungsstrukturen«, die das »Sollen« der Akteur:innen bestimmen, sehr eng als schriftlich kodifizierte Gesetze und Regeln auslegt, die in den kurdischen Verhältnissen kaum eine Rolle spielen und deswegen vernachlässigt werden können. An anderer Stelle merkt er jedoch an, dass die Äußerungen Abdullah Öcalans in der Bewegung teilweise »als Gesetz« gelten und gibt damit selbst den Hinweis, dass für die Akteur:innen sehr wohl verbindliche Regeln und Normen existieren. Eine andere mögliche Quelle solcher ungeschriebenen Gesetze kann man in den traditionellen kurdischen Gesellschaftsstrukturen vermuten, wo beispielsweise die Handlungserwartung der Stammesloyalität in den Patronagesystemen der Barzanîs und Talabanîs eine Rolle spielen könnten. Dabei muss man Schamberger zugute halten, dass solche ungeschriebenen und wohl meistens auch unausgesprochenen Regel- und Normensysteme wenn, dann nur sehr schwierig und unter großem Zeitaufwand durch lange Feldaufenthalte mit Methoden wie der teilnehmenden Beobachtung zu ermitteln sind. Solche Forschungsvorhaben waren in der Forschungsphase der Arbeit 2017-2019 wegen der Sicherheitslage und der fehlenden Bewegungsfreiheit in Rojava und Başûr kaum und in Bakur8 gar nicht durchführbar und sind es aktuell leider noch viel weniger. Neben Aufzeichnungen aus den Feldaufenthalten stützt sich Schamberger daher notwendigerweise auf die Selbstauskünfte der Akteur:innen in den Interviews sowie auf Dokumente.

Eine andere Stelle, an der die Konzentration auf das geschriebene und gesprochene Wort Beobachtungen des Alltags zu verstellen scheint, ist diejenige, an der Schamberger diagnostiziert, dass die für die Befreiungsbewegung tätigen Journalist:innen vor allem durch die gemeinsame Ideologie zur Mitarbeit motiviert werden und dass diese Ideologie den eigentlichen Zusammenhalt dieses Mediennetzwerkes darstellt. Dieser Schluss ist naheliegend, da die Akteur:innen in den Interviews hauptsächlich politische und ideologische Überzeugungen wiedergeben und sich diese wie ein roter Faden durch das Datenmaterial ziehen. Das Bild, dass sich mir daraus bietet, ist das von isolierten, frei schwebenden Individuen, die sich durch die geistige Strahlkraft einer Idee zur gemeinsamen politischen Arbeit organisieren wie Eisenspäne an einem Magneten.

Was Schamberger meiner Meinung nach übersieht, ist die Bindungskraft und die Attraktivität des kommunalen Zusammenlebens, das für viele Akteur:innen der Bewegung Lebensrealität zu sein scheint. Gerade die häufig vorkommenden Aufgaben- und Ortswechsel dürften das Leben in Gemeinschaft wichtig machen und für unverzichtbare menschliche Bindungen sorgen. Die Organisationen der Bewegung scheinen mir daher für die Akteur:innen als soziale Heimat mindestens ebenso wichtig wie als geistige.

Nichtsdestotrotz ist das in dem Begriff »Freie Presse« ausgedrückte ideelle Selbstverständnis sicher zentral, und dessen ausführliche Darstellung anhand von Zitaten zählt zu den Kernergebnissen der Arbeit. Das eigenständige, nicht nach den westlichen Begrifflichkeiten ausgerichtete Verständnis der Bewegung von Journalismus als gleichberechtigtes Konzept in den wissenschaftlichen Diskurs einzuführen, könnte ein wichtiger Schritt sein, den Boykott der Berichterstattung der Bewegung durch die europäischen Medien aufzuweichen, so wie auch die gesamte Arbeit ein wichtiger Schritt ist, um deren wissenschaftliche Begleitung außerhalb des »Terror«-Narrativs voranzutreiben.

Mit dem Fokus auf die Gesamtheit der kurdischen Medien ist die Untersuchung für die Arbeit sehr breit angelegt. Dabei bleiben natürlich zahlreiche Leerstellen, die Raum für weitere Untersuchungen lassen. Weitgehend ausgeklammert blieben zum Beispiel die Medien der zwei neu gegründeten Parteien in Başûr, der Gorran-Bewegung und Naway Nwe. Ihre Rolle in der südkurdischen Gesellschaft scheint angesichts der sich wandelnden politischen Landschaft relevant zu sein, so wie überhaupt das komplexe Machtgefüge in der Region viel Raum für weitere Untersuchungen lässt. Auch die Seite der Medienrezipient:innen wurde an einigen Stellen anekdotisch angesprochen, aber diese zentrale Seite des Mediensystems, also die Menschen, für die die Medien gemacht werden, und ihre Wahrnehmung und Nutzung von diesen, scheint weitestgehend unerforscht. Es bleibt zu hoffen, dass sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Region so weit zum Guten wenden, dass solche Untersuchungen in der Zukunft möglich sind.

Zuletzt möchte ich anmerken, dass es natürlich wünschenswert wäre, wenn die Vielzahl an Informationen über die Personen, Geschichten und Schicksale, die Kerem Schamberger für seine Arbeit getroffen und gesammelt hat, in der einen oder anderen Form für ein nichtakademisches Publikum aufbereitet werden würde und so Einblick geben könnte in die faszinierende Geschichte von Widerstand, Opferbereitschaft und Hingabe, die die Medienaktivist:innen der kurdischen Widerstandsbewegung geschrieben haben und schreiben.

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und politischer Aktivist. Er promovierte und lehrte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und arbeitet nun bei medico international. Er ist zudem stellvertretender Vorsitzender des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung und im Vorstand des Instituts Solidarische Moderne.

 Fußnoten:

1 - Südkurdistan, die kurdischen Gebiete in Nordirak

2 - Westkurdistan, die kurdischen Gebiete in Nordsyrien

3 - Partiya Demokrata Kurdistanê, dt. Demokratische Partei Kurdistans, auch KDP abgekürzt; die machthabende Partei in Südkurdistan

4 - Yekîtiya Nîştimanî ya Kurdistanê, dt. Patriotische Union Kurdistans, auch PUK abgekürzt; eine der mächtigsten Parteien in Südkurdistan

5 - KCK: (Koma Civakên Kurdistanê, dt. Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), Dachverband der zur Freiheitsbewegung zugehörigen Organisationen, einschließlich der PKK

6 - Partei in Südkurdistan, die sich 2010 nach Abspaltung von der YNK gegründet hat.

7 - auch Nifşê Nû (Neue Generation), Partei in Südkurdistan.

8 - Nordkurdistan, die kurdischen Gebiete im Osten / Südosten der Türkei


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022