Geschichte der geheimen Gendarmerie-Abteilung JİTEM im Kampf der Türkei gegen die Freiheitsbewegung Kurdistans

Der illegale Staat

Ferda Çetin, Journalist


Geschichte der geheimen Gendarmerie-Abteilung JİTEM im Kampf der Türkei gegen die Freiheitsbewegung KurdistansIm Jahr 1952 gründete der US-Geheimdienst CIA im Rahmen der NATO die geheime Struktur »Gladio« und übernahm auch deren Finanzierung. Das Ziel dieser neu geschaffenen NATO-Struktur bestand darin, sowohl gegen die Sowjetunion als auch gegen kommunistische, sozialistische und marxistische Bewegungen in anderen Teilen der Welt vorzugehen. Dafür sollte sich Gladio eines umfassenden Repertoires an Spionage- und Konterguerillaaktivitäten bedienen. Da sich diese Aktivitäten stets auf hinter der Front liegende Gebiete konzentrierten, im Geheimen geschahen und gegen bestehendes Recht verstießen, agierte Gladio immer unter dem Radar der allgemeinen Öffentlichkeit und bewahrte seinen illegalen Status.

Im Rahmen der von den USA, der CIA und der NATO geleiteten Planungen wurden in allen NATO-Staaten derartige illegale Gladio-Strukturen aufgebaut. In den verschiedenen Ländern erhielten diese Strukturen unterschiedliche Namen, z. B. »Gladio« in Italien, »Özel Harp Dairesi«1 in der Türkei, »Grupos Antiterroristas de Liberación« (Antiterroristische Befreiungsgruppen) in Spanien, »SDRA-8« in Belgien oder das »Operatiën en Inlichtingen« (Operationen und Aufklärung) in den Niederlanden.

In einem am 16. Februar 2009 in der türkischen Tageszeitung Sabah veröffentlichten Interview sprach der ehemalige italienische Präsident Francesco Cossiga offen über das Verhältnis der Gladio-Strukturen zur NATO2. In diesem Rahmen gab Cossiga zu, in den USA an einem speziellen Ausbildungsprogramm teilgenommen zu haben und daraufhin mit der Leitung der italienischen Gladio betraut worden zu sein. Francesco Cossiga beschrieb die Gladio-Gründung mit folgenden Worten: »Als der Kalte Krieg begann, erkannten die Briten, dass sie eine Besatzung Osteuropas durch die Sowjets nicht verhindern könnten, und begannen daraufhin mit den Planungen für den Aufbau einer geheimen Organisation. Gemeinsam mit den Amerikanern bauten sie sogenannte ›Stay-Behind-Netzwerke‹ auf, also ein Netzwerk von Spezialkräften. Diese geheime Organisation war nicht an die Armee des einzelnen Landes angebunden, sondern unterstand direkt dem jeweiligen Geheimdienst. Ableger dieser Organisation wurden in Deutschland, Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Norwegen, Griechenland und der Türkei aufgebaut. Auch in der Schweiz und in Schweden, also außerhalb der NATO, wurden Gladio-Ableger aufgebaut. Am umfassendsten und weitestgehenden war der Aufbau in Deutschland.«

Der ehemalige italienische Präsident Francesco Cossiga gestand in dem Sabah-Interview zudem ein, dass neben ihm auch der französische Präsident Valéry Giscard d‘Estaing, die britische Premierministerin Margaret Thatcher und die deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl in den USA an einem speziellen Ausbildungsprogramm teilgenommen hatten, bevor sie in ihren jeweiligen Ländern mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betraut wurden. Der ehemalige Leiter der italienischen Gladio Cossiga beschrieb in dem Interview auch ausführlich, wie die CIA und Gladio die Politik und Regierungen der jeweiligen NATO-Länder prägten.3

Die Konterguerilla

Die USA und die anderen NATO-Mitgliedsstaaten hatten ihre Kriegsstrategie und die Organisierung ihrer Armeen stets auf einen konventionellen Krieg ausgerichtet. Doch ab den 1950er Jahren entwickelten sich in zahlreichen Ländern Guerillakriege gegen die USA und ihre NATO-Partner. Im Zuge dessen breitete sich eine Art der Kriegsführung aus, mit der gegen konventionelle Armeen auf unkonventionelle Techniken und kleine geheim operierende Einheiten gesetzt wurde. Diese Form des Krieges erlaubte es waffentechnisch schwachen und zahlenmäßig kleinen Kräften mit einem hohen Maß an Qualität und Moral die Oberhand zu gewinnen und damit große Erfolge gegen konventionelle Armeen zu erzielen.

Der Krieg der Bevölkerung Spaniens im Jahr 1807 gegen den Versuch Frankreichs, die iberische Halbinsel zu besetzen, zeichnete sich durch einen langfristig angelegten und unkonventionellen Guerillakrieg aus, der letztendlich zum Sieg über die französische Armee führte. Im Jahr 1934 begann Chinas Widerstand gegen die japanische Besatzung, der sich unter der Führung Mao Tse-Tungs auch während des 2. Weltkrieges fortsetzte. Dieser langjährige Guerillakrieg endete aus chinesischer Sicht ebenfalls erfolgreich. Gegen die US-Armee fand von 1963 bis 1973 ein Guerillakrieg unter der Leitung Ho Chi Minhs und Nguyen Giaps statt, der zum Sieg über die US-Besatzung in Vietnam führte. Darüber hinaus fanden in Asien, Afrika, Südamerika und dem Mittleren Osten Dutzende weitere Guerillakriege statt, die allesamt noch immer einen wichtigen Platz in der Geschichte einnehmen. Auch in Kurdistan begann im Jahr 1984 ein Freiheitskampf. Unter der Leitung des kurdischen Volksrepräsentanten Abdullah Öcalan begann damals der Widerstand gegen die Türkei, also gegen die zweitgrößte NATO-Armee. Der Freiheitskampf in Kurdistan dauert seither unter anderem in Form eines Guerillakrieges an.

Als Folge der zahlreichen Niederlagen, die waffentechnisch und zahlenmäßig überlegene Armeen gegen unkonventionelle, sehr mobile und kleine Guerillaeinheiten erlitten, begannen die NATO und die CIA nach neuen Lösungen zu suchen. Daraufhin wurde parallel zu den konventionellen Armeen eine Struktur geschaffen, die sich in ihrer Organisierungsform und ihren Kriegsmethoden stark an der Guerilla orientierte.

Özel Harp Dairesi und JİTEM

Das türkische Pendant zu den in anderen NATO-Ländern gegründeten Gladio-Strukturen ist die sogenannte Özel Harp Dairesi (ÖHD). Das hinter dieser Gründung stehende Ziel bestand stets darin, die Verbreitung von kommunistischem und sozialistischem Gedankengut genauso wie den damaligen Einfluss der Sowjetunion zu verhindern. Die Özel Harp Dairesi wurde also für den Kampf gegen linke, sozialistische und revolutionäre Bewegungen ins Leben gerufen. Im Jahr 1952 wurde diese Struktur zunächst unter dem Namen »Özel ve Yardimci Muharip Birlikler«4 gegründet. Im Jahr darauf erhielt sie den Namen »Seferberlik Tetkik Kurulu«5. Nach einer Umstrukturierung im Jahr 1970 etablierte sich letztendlich die Bezeichnung »Özel Harp Dairesi«. Unabhängig von ihren unterschiedlichen Namen war all diesen drei Strukturen gemeinsam, dass sie direkt der Leitung des türkischen Generalstabs unterstanden und im Verborgenen operierten. Weder deren Leitung noch die Mitarbeiter:innen und genauen Aktivitäten waren bekannt. Das Gleiche galt für deren Budget und Ausgaben. Sie unterstanden daher keinerlei transparenter und offizieller Kontrolle.6

Die Finanzierung der ÖHD wurde von den USA bereitgestellt. Nachdem die Türkei im Jahr 1974 Nordzypern besetzt hatte, stellten die USA die Finanzierung ein. Nun bat der Leiter des türkischen Generalstabs Semih Sancar den damaligen türkischen Premierminister Bülent Ecevit um die Bereitstellung des geheimen Budgets. Bülent Ecevit machte daraufhin deutlich, dass er zum ersten Mal von der Existenz solch einer Organisation erfahre; dadurch wurde die Existenz der ÖHD auch offiziell bestätigt. Der General Kemal Yamalak, der 1970 die ÖHD leitete, gab einige Jahre später zu, dass die USA der ÖHD jedes Jahr 1 Million Dollar zur Verfügung gestellt hatten.7

Der im Jahr 1984 unter der Führung der PKK begonnene Guerillakrieg in Kurdistan breitete sich schnell aus und entfaltete eine entsprechend große Wirkung. Die 28 kurdischen Aufstände, zu denen es im Laufe des vergangenen Jahrhunderts gekommen war, hatte der türkische Staat immer mit wirkungsvollen Gegenmaßnahmen unterdrücken können. Doch gegen die seit dem 15. August 1984 aktiv kämpfende Guerilla erzielte der türkische Staat keine Erfolge, weshalb es ihm nicht gelang, ein stetiges Wachsen der Guerilla zu verhindern. Um neben dem Einsatz der konventionellen Armee auch einen Konterguerilla-Krieg führen zu können, gründete der türkische Staat am 27. August 1987 schließlich in Form der »Jandarma İstihbarat ve Terörle Mücadele Grup Komutanlığı«8 (JİTEM) eine klandestine Institution. Von Seiten türkischer Regierungsvertreter:innen, Militärs und Politiker:innen wurden sowohl die Existenz als auch die Aktivitäten der JİTEM konsequent bestritten.

Abdülkadir Aygan, selbst ein ehemaliges JİTEM-Mitglied und für zahlreiche Morde verantwortlich, verwies in einem Interview auf einen in seinem Besitz befindlichen schriftlichen Gehaltsnachweis, auf dem vermerkt war: »Arbeitsort: JİTEM«.9 Auch JİTEM-Mitbegründer Major Cem Ersever gestand in einem Interview mit dem Journalisten Soner Yalçın, dass die JİTEM im Jahr 1987 von Arif Doğan gegründet worden war und später stets der Leitung des türkischen Generalstabs unterstand.10 Gegen den mittlerweile pensionierten Oberst Arif Doğan wurde am 14. August 2008 im Rahmen der Ergenekon11-Ermittlungen ein Gerichtsverfahren eingeleitet. In diesem Zusammenhang berichtete er sowohl vor Gericht als auch in einem Fernsehinterview, dass er selbst JİTEM gegründet und deren Leitung später an den Brigadegeneral Veli Küçük übergeben habe.12

Das Ziel der JİTEM besteht eindeutig darin, durch die Verhaftung, Bedrohung oder Ermordung von Patriot:innen aus Kurdistan, die die Guerilla unterstützen, eben diese treibende Kraft des Freiheitskampfes in Kurdistan zu zerschlagen. Da die JİTEM letztendlich nur dieses eine Ziel verfolgte, konzentrierten sich ihre Hauptaktivitäten stets auf Kurdistan.

In dem Artikel »Wir mordeten nachts während der Überstunden. Kurdenverfolgung in der Türkei« des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel wurde die JİTEM als »Spezialeinheit der türkischen Gendarmerie« bezeichnet. Von der Gründung der JİTEM bis zum Beginn der 2000er Jahre wurden insgesamt 17 000 »Morde unbekannter Täter« an Menschen in Kurdistan registriert. Hunderte weitere Menschen wurden entführt und schlichtweg nie wieder gesehen. Als diese Morde der JİTEM von Menschenrechtsorganisationen und Journalist:innen immer stärker zum Thema gemacht wurden, versuchten türkische Staatsvertreter:innen, diese Morde der PKK und der Guerilla unterzuschieben.

Laut dem JİTEM-Gründer Arif Doğan und dem ehemaligen Mitglied einer Spezialeinheit der türkischen Polizei ­Ayhan Çarkın setzte die JİTEM im Kampf gegen die PKK viele verschiedene Methoden ein. Beide gestanden in diesem Zusammenhang ein, dass bei zahlreichen Morden der JİTEM an den Tatorten gefälschte Flugblätter der PKK, ERNK und HRK zurückgelassen wurden, um den Eindruck zu erwecken, die PKK habe diese Morde begangen.14 Laut Çarkın stammt auch das Foto eines von mehreren Kugeln getroffenen Babys in dem Dorf Pınarcık, das unter der Überschrift »Baby-Mörder« der türkischen Öffentlichkeit präsentiert wurde und sich zu einer Art Symbol entwickelte, von einem Massaker, für das die JİTEM verantwortlich war. Çarkın berichtete auch von vielen weiteren von der JİTEM verübten Massakern.15

Bei JİTEM handelte es sich also um eine illegale Organisation, die direkt der Leitung des türkischen Generalstabs unterstand, deren Existenz jedoch von Staats- und Regierungsvertreter:innen der Türkei konsequent verleugnet wurde. Dutzende Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der JİTEM endeten mit Freisprüchen.

Fußnoten:

1 - Abteilung Spezielle Kriegsführung

2 - Nur Batur, Paralel Devlet. Sabah [Tageszeitung], 16. Februar 2009; https://www.aydinlik.com.tr/haber/nato-gladyo-iliskisinin-en-acik-itirafi-323619

3 - Ebd.

4 - »Spezial- und Hilfskampfgruppen«

5 - »Untersuchungsausschuss für Mobilmachung«

6 - Suavi Aydın und Yüksel Taşkın, 1960’tan Günümüze Türkiye Tarihi. Istanbul, İletişim Yayınları 2014. S. 75-76

7 - https://tr.wikipedia.org/wiki/%C3%96zel_Harp_Dairesi

8 - »Geheimdienst und Terrorabwehr der Gendarmerie«

9 - Nevzat Çiçek, JİTEM Tabelesı Bile Vardı. Taraf [Tageszeitung], 17. Dezember 2008.

10 - Soner Yalçın, Binbaşı Ersever’in İtirafları. Istanbul, Kaynak Yayınları 1993.

11 - Die Ergenekon-Gruppe gilt als ein Kreis ultranationalistischer Kemalist:innen, die innerhalb des Militärs und des sogenannten tiefen Staates organisiert ist. Die AKP hat zunächst mit den Ergenekon-Prozessen zwischen 2007 und 2013 versucht, die Gruppe auszuschalten, weil diese als Gefahr für die eigene Machtstellung erachtet wurde. Nach dem Zerwürfnis mit dem Gülen-Orden suchte die AKP allerdings den Schulterschluss mit der Ergenekon-Gruppe. Seither ist von einem inoffiziellen Machtbündnis zwischen der AKP, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der Ergenekon-Gruppe an der Spitze des türkischen Staates die Rede.

12 - https://www.youtube.com/watch?v=UckpeqRiSo

13 - https://www.spiegel.de/international/world/turkey-s-dirty-war-against-the-kurds-we-used-to-murder-people-at-night-when-the-soldiers-weren-t-around-a-627144.html, deutsch: https://www.spiegel.de/politik/ausland/kurdenverfolgung-in-der-tuerkei-wir-mordeten-nachts-waehrend-der-ueberstunden-a-626351.html

14 - İsmail Saymaz, JİTEM’ci Doğan’ın Faili Meçhul Arşivi Hala Sır. Radikal [Tageszeitung], 24. September 2015.

15 -  Ekin Karaca, Çarkın: O Bebeği PKK Değil Biz Öldürdük. www.bianet.org, 22. März 2011.

 


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022