Auszug aus der »Roadmap für Verhandlungen« anlässlich des Gründungsjubiläums der PKK

44 Jahre des Widerstandes und doch die Hoffnung auf Frieden nicht verloren

KR Redaktion


Diese Ausgabe des Kurdistan Report erscheint im Zeichen des 40-jährigen Bestehens der Zeitschrift, doch ist das nicht das einzige Jubiläum, das wir als Redaktion feiern. In diese Zeit fällt auch der 44. Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) am 27. November. Wir haben uns dagegen entschieden, wie üblich die Geschichte der Gründung nachzuerzählen oder das Statement einer Organisation bezüglich des Jahrestages hier zu veröffentlichen, und wollten dieses Jahr lieber den Vordenker der PKK – Abdullah Öcalan – selbst zu Wort kommen lassen und beleuchten, aus welchem Bedürfnis heraus die PKK gegründet wurde.

Roadmap für VerhandlungenDer folgende Text ist ein Auszug aus der »Roadmap für Verhandlungen«1 und folgt im Buch auf eine ausführliche Analyse der Geschichte und Gegenwart der Türkei. Die Analyse zeigt die Gründe auf, warum die Türkei sich nicht demokratisieren konnte und eine Anerkennung der vielfältigen ethnischen Gruppen nicht möglich war. Es umreißt kurz, wie die kurdische Frage in der Türkei entstand, wie in diesem Zusammenhang der Widerstand der kurdischen Gesellschaft überlebenswichtig wurde und wie er sich später in Form der PKK organisierte.
Das Ziel des Buches war und ist es, ausgewogene, konstruktive Vorschläge für eine Demokratisierung der Türkei zu machen. Öcalan vermeidet jede Einseitigkeit in seinem Text. Er sieht diese Demokratisierung als einen wichtigen Schritt hin zu einer friedlichen Lösung der kurdischen, aber auch türkischen Frage. Seine Vorschläge sind kein einseitiger Forderungskatalog, sondern Vorschläge, aus denen sich letztendlich auch die so genannten »Friedensgespräche« entwickeln konnten.

So war die Roadmap, nach ihrer Fertigstellung am 15. August 2009, genau 25 Jahre nach Beginn des bewaffneten Kampfes, der Grundlagentext in dem geheimen Dialogprozess zwischen der PKK (vertreten durch Abdullah Öcalan) und dem türkischen Staat (2013 bis 2015). Sie ist auch ein Versuch, die seit 1999 andauernde Isolation von İmralı zu durchbrechen.

Auch wenn es damals nicht zu einer, von Millionen von Menschen sehnsüchtig erhofften, friedlichen Lösung gekommen war, da der türkische Staat letztlich den Dialog abbrach und im Gegenteil den Konflikt weiter eskalieren ließ, so hat die Roadmap bis heute nicht im Ansatz an Bedeutung und Aktualität verloren. Im Gegenteil bietet Öcalan einen Dialog an, der heute mehr Brisanz denn je hat. Denn er stellt eine Hoffnung auf Frieden dar, derer es heute, zu Zeiten des dritten Weltkrieges, mehr denn je bedarf. In diesem Sinne möchten wir anlässlich des 44. Jahrestages der Gründung der PKK, das Wort an Abdullah Öcalan selbst geben:

Im Lichte dieser Analyse lässt sich besser verstehen, dass die stagnierende und Probleme verursachende Struktur der Republik eine entscheidende Rolle für den Aufbruch der PKK spielte. Die 1970er Jahre waren wirklich eine Zeit, in der ein demokratischer Aufbruch an Stärke gewann. Der Putsch vom 12. März 1971 war nicht in der Lage, dies aufzuhalten. Die gesellschaftlichen Kräfte, die beim Aufbau der Republik mitgewirkt hatten, betraten von Neuem die Bühne der Geschichte. Sozialismus, Islamismus und kurdischer Nationalismus suchten in der Republik für sich eine Legitimität. Sie brachten demokratische Forderungen mit. Hätte man diese Forderungen nicht durch Putsch und faschistische Praktiken unterdrückt, wäre durch Demokratisierung sicherlich eine Lösung möglich gewesen. Doch die Wahl fiel auf die Fortführung des Kalten Krieges und der Krise der Elemente der Moderne mit immer repressiveren und zum Faschismus tendierenden Methoden. Die Republik Türkei wurde zu dem Land, in dem die Kontrolle von GLADIO auf die schlimmste Weise ausgeübt wurde. Das Regime des Militärputsches vom 12. September 1980 wurde zu einem der schlagendsten Beispiele für diese Kontrolle.

Dass die PKK nicht völlig unterdrückt werden konnte, hängt mit der inneren Struktur der Kurden und den Verwerfungen im Nahen Osten zusammen. Der Putsch von 1980 hatte eigentlich innerhalb von 24 Stunden alles befriedet. Für die Fehleinschätzung hinsichtlich der Kurden waren tiefer liegende soziale Gründe verantwortlich. Man glaubte, dass die Kurden als Gesellschaft und Volk am Ende seien. Nach der Niederschlagung der Aufstände und der sich anschließenden sehr harten Phase der Assimilation schien es unmöglich, dass sie sich noch einmal erholen könnten. Die neue gesellschaftliche Mentalität, insbesondere der Bürokratie und Mittelklasse, die auf der Basis der Elemente der kapitalistischen Moderne entstanden waren, hielt die Kurden für aus der Geschichte getilgt. Ihre historische Rolle war vergessen. Wo sie vereinzelt auftraten, wurden sie mit primitiven Geschöpfen gleichgesetzt. Die Mitglieder der kurdischen Oberschicht spielten weiterhin ihre Rolle als Lakaien der Macht. Diejenigen nationalistischen Gruppen und tariqat2 hingegen, die Beziehungen zu den USA besaßen, stellten sich nicht auf die Seite von Widerstand leistenden Kräften und der Freiheit, sondern wurden auf der Gegenseite gehalten. Der PKK gelang es, zur Schicht der Kurmandsch und zu den armen Bauern und Städtern Beziehungen aufzubauen, obwohl die kurdische gesellschaftliche Dynamik bereits schwer beschädigt war. Sie profitierte dabei von den patriotischen Gefühlen und der kulturellen Struktur der Kurden, aber eigentlich erschuf sie diese erst neu. Trotz aller Unterdrückung und Partikularisierung besaß die gesellschaftliche Natur der Kurden bestimmte strukturelle Merkmale. Es brauchte nur minimale patriotische Gefühle und das Bewusstsein über einige Begrifflichkeiten. Bei der damaligen PKK hatten sich ausreichend beeindruckende Emotionen und Begriffe gebildet. Sie brauchte keine abgehobenen diplomatischen und politischen Kader, sondern musste diese Emotionen und Begriffe mit hohem Tempo mobilisieren. Einige begrenzte Aktionen reichten voll aus, um diesen Elan sicherzustellen.

Vom Aufbruch in den 1970er Jahren bis zum Beginn der 1980er wurde dieser Stil beibehalten. Als das Militärregime nach dem Putsch vom 12. September 1980 durch extreme Gewalt die anderen linken und oppositionellen Gruppen schnell niederwarf, Folter und Widerstand im Militärgefängnis von Diyarbakır und in den militärischen Stellungen im Nahen Osten aufeinandertrafen, war es nicht schwer, den militärischen Vorstoß zu unternehmen, den wir »Offensive des 15. August 1984« nannten. Eigentlich hätte bereits 1982 damit begonnen werden können. Weil jedoch einige Personen in den Bergen ihre Aufgaben nicht ausreichend erfüllten, musste die Offensive bis in den August 1984 verschoben werden. Der Iran-Irak-Krieg hatte nützliche Rahmenbedingungen geschaffen. Doch die Bewegung war niemals aus der Türkei verschwunden, sondern hatte sich stets eine gewisse Präsenz bewahrt. Wir können nicht von einem meisterhaften Guerillakampf sprechen, es handelte sich eher um eine Karikatur von Guerilla. Der Staat hatte die Offensive des 15. August nicht erwartet, doch selbst dieser Vorteil des Überraschungsmoments wurde nicht gut genutzt. Obwohl die Staaten und die Kräfte in Irakisch-Kurdistan ablehnend eingestellt waren und Unterwanderungsversuche unternahmen, reichte die Präsenz im Nahen Osten aus, die Bewegung aufrechtzuerhalten und Unterstützung aus allen Teilen Kurdistans und von Kurden in Europa zu erhalten.

Als die Interventionsmethode des Militärregimes positive Resultate zeigte, folgte mit Unterstützung der NATO die Phase des Ausnahmezustands und des JİTEM3. Die GLADIO-Organisation der NATO war unter Führung Deutschlands seit 1985 aktiv. Die Verschwörungen um das Papst- und das Palme-Attentat4 passten zwar zu allgemeinen Erwägungen, hatten aber auch direkt mit der Guerilla-Offensive in Kurdistan zu tun. In der Entstehungsphase der PKK von 1973 bis 1983 stand die politisch-ideologische Einflussnahme im Vordergrund, bewaffnete Aktivitäten spielten eine Nebenrolle. Mit Beginn der Offensive 1984 spielte die bewaffnete Dimension die Hauptrolle, aber auch die ideologisch-politische Entwicklung ging weiter. Auf die Rolle des Ausnahmezustands und des JİTEM ist dabei ausführlicher einzugehen. Es ist bekannt, dass er innerhalb und außerhalb der Bewegung eine Reihe von verheerenden Aktionen durchführte. In diesem Zusammenhang können wir Aktionen wie solche, bei denen nicht auf Frauen und Kinder Rücksicht genommen wurde, Angriffe auf Gruppen, die niemals Ziele hätten sein dürfen, sowie Tendenzen zu maximaler Willkür und minimaler Pflichterfüllung anführen.

Das Erstaunliche war jedoch, dass die PKK stärker wurde, je mehr sie dämonisiert wurde. Dies verweist auf eine tiefe Sehnsucht im kurdischen Volk. Obwohl die große Vertreibung der Kurden mehr Menschen betraf als diejenigen von Armeniern, Griechen und Aramäern zusammen, stieg das Ansehen der PKK. Natürlich spielten die historischen und geografischen Bedingungen dabei eine Rolle. Der wichtigste Faktor war, dass sie den Ausdruck einer historischen Forderung darstellte, nämlich die gesellschaftliche Existenz zu bewahren und die Menschenwürde zu verteidigen. Die Eigendynamik historischer Forderungen sollte niemals unterschätzt werden.

Die Kurdenpolitik von Präsident Turgut Özal kam 1992 unerwartet. Wir erkannten ihre große Bedeutung zu spät. Dass die ernsthafte Chance auf eine Lösung durch seinen Tod zunichtegemacht wurde, betrachte ich persönlich als einen historischen Verlust. Die Republik hätte die Chance auf eine demokratische Lösung besessen, doch wurde sie meiner Meinung nach von gewissen Kräften bewusst sabotiert. Der damalige Generalstabschef Doğan Güreş äußerte sich Anfang der 1990er Jahre auf der Rückreise aus England folgendermaßen: Er habe grünes Licht für die Vernichtung erhalten. Dies ist nur ein Ausdruck dieser Tatsache. Der Tansu-Çiller-Putsch nach Turgut Özals Tod und die zahllosen aufeinander folgenden Verschwörungen innerhalb und außerhalb der Armee gehören zu den wichtigsten Knoten, die entwirrt werden müssen. Die dokumentierte Agententätigkeit Tansu Çillers für die CIA kann einen Teil dieser Verflechtungen erklären. Die massenhafte Ermordung wahrer Kemalisten und prominenter Kurden, die Tausende »Morde unbekannter Täter«, die Dorfzerstörungen und die Förderung der Hisbollah erscheinen mir als eine der größten Verschwörungen gegen die Republik. Sie erinnert an die Phase der Verschwörungen und Aufstände in der Republik zur Zeit Mustafa Kemals in den Jahren 1924–1927. In diesen Jahren wurden die demokratischen Elemente des Fundaments der Republik liquidiert.

Der Auszug ist folgendem Buch entnommen:
»Die Roadmap für Verhandlungen«
von Abdullah Öcalan
mit einem Vorwort von Immanuel Wallerstein
Edition Mezopotamya 2019
Originalausgabe 2011

Fußnoten:

1 - https://ocalanbooks.com/#/book/die-roadmap-fuer-verhandlungen

2 - Islamische Ordensstruktur, die mit Hilfe ihrer Mitglieder im Hintergrund Einfluss auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft nimmt.

3 - Geheimdienst der Gendarmerie in der Türkei, dessen Existenz lange geleugnet wurde und der in Form von Todesschwadronen für viele der schwersten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Siehe Artikel »Der illegale Staat« in dieser Ausgabe.

4 - Am 13. Mai 1981 verübte der Türke Mehmet Ali Ağca ein Attentat auf Papst Johannes Paul II., am 28. Februar 1986 wurde der schwedische Ministerpräsident Olof Palme in Stockholm erschossen. Beide Attentate wurden instrumentalisiert, um die PKK zu kriminalisieren. 


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022