Ein autobiographischer Bericht aus der Zeit der Verteidigung Kobanês 2014

Und wenn wir unser Leben geben müssen, Kobanê wird nicht in ihre Hände fallen!

Şehîd Deştî Amanos


Şehîd Deştî AmanosDamit die heute weltweit bekannte Revolution in Rojava sich entwickeln konnte, mussten große Opfer gebracht werden. Um die Region vom sogenannten »Islamischen Staat« (IS) zu befreien und die Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens aufzubauen, haben 12 000 Menschen ihr Leben gelassen, und über 20 000 weitere wurden zum Teil schwer verwundet. Auch heute noch geht der Kampf weiter, denn auf der einen Seite versucht der türkische Staat durch seine völkerrechtswidrigen Angriffskriege die Selbstverwaltung zu zerschlagen, und auf der anderen Seite versucht der IS sich neu zu formieren, um Rache zu üben.
Vor kurzem erst wurde das zehnjährige Jubiläum der Revolution in Rojava gefeiert. Das nahm die Vereinigung der Verwundeten in Rojava zum Anlass, ein neues Buch zu veröffentlichen, in welchem die Geschichten der Menschen festgehalten sind, die alles dafür gaben, die Region zu befreien und zu verteidigen. Aus diesem Buch ist die Geschichte von Deştî Amanos. Er berichtet von seinen beiden Verwundungen, die er sich in Kobanê zu Beginn des Niedergangs des IS zugezogen hat.
Es sei an dieser Stelle darauf ­hingewiesen, dass im folgenden Text explizite Kriegsszenen beschrieben werden.

Als die Revolution in Rojava begann, herrschte eine große Spannung bei uns Jugendlichen in Nordkurdistan1. Es war ein Gefühl, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Ich würde sagen, es war wie ein Wind, den alle längst vergangen wähnten und der nun zu neuem Leben erwachte; es war ein revolutionärer Wind. Niemand konnte sich ihm entziehen, und so schaute auch ich gespannt nach Rojava.

Es war das Jahr 2014. Der Krieg gegen diesen barbarischen Feind, der sich Islamischer Staat nennt, erreichte in Rojava seinen absoluten Höhepunkt. Alle wussten, dass Kobanê das Zentrum des Krieges war, der Ort, an dem die entscheidende Schlacht stattfinden würde. Alle, die ganze Welt, blickten in diesen Tagen auf diese Stadt, die kurz zuvor die wenigsten gekannt hatten – das sagenumwobene Kobanê. Für uns war klar, dass in diesem Kampf sehr viel auf dem Spiel stand, weswegen dieser eine Satz in unserer Gesellschaft die Runde machte: »Kobanê ist die Antwort auf die ›kurdische Frage‹.« Niemand wusste damals, wie diese Antwort aussehen würde, aber alle wollten dabei sein, wenn sie gegeben werden würde. Als die Schlacht also begann, entschied ich mich, genau wie Tausende andere kurdische Jugendliche, nach Kobanê zu gehen.

Als wir Kobanê erreichten, dauerte der Widerstand schon einige Tage an, und das war eindrücklich zu sehen. Viele Freund:innen hatten bereits ihr Leben gelassen, noch mehr waren verwundet, und alle waren physisch total ausgelaugt. Wir kamen also mit einer Gruppe von 180 Freund:innen als Unterstützung in die zur Festung ausgebaute Stadt Kobanê. Unverzüglich waren wir in Kampfhandlungen verwickelt. Die Auseinandersetzungen waren vom ersten Moment an intensiv, sodass bereits am ersten Tag mehrere Freund:innen unserer Gruppe ihr Leben ließen.

Nie werde ich vergessen, wie wir von den Freund:innen vor Ort empfangen wurden. Wir wurden zu einem großen Haus an der Front gebracht, in welchem sich die Freund:innen seit Tagen verschanzt hatten. Sie kamen auf uns zu; ihre weit geöffneten Augen und ihr Lachen strahlten uns entgegen, sie waren das Einzige, das nicht komplett in Staub getaucht war. Eine Freundin kam zu uns, begrüßte uns freudig und meinte: »Ihr kommt genau im richtigen Moment. Wir dachten bereits, dass wir eingeschlossen sind und nicht mehr rauskommen werden. Deswegen hatten wir ausgemacht, dass, wenn die Situation aussichtslos ist und der Feind das Haus stürmt, wir die letzten Granaten zünden, damit wir dem Feind einen letzten großen Schlag versetzen können, und damit wir nicht in seine Hände fallen. Denn für uns steht fest, selbst wenn wir unser Leben geben müssen, wird Kobanê nicht in ihre Hände fallen. Aber jetzt, da ihr gekommen seid, bin ich davon überzeugt, dass wir gemeinsam Kobanê befreien können.«

Die Freund:innen erzählten uns – immer wieder vom Geräusch der Schüsse und von mal nahen und mal fernen Explosionen unterbrochen –, was bisher geschehen war. Sowohl die Berichte als auch die Ausstrahlung der Menschen, die wir kennenlernten, haben mich damals stark beeindruckt. Meine Ankunft in Kobanê stellte einen absoluten Wendepunkt in meinem Leben dar. Da standen wir also in Kobanê. Lediglich das Industriegebiet Sînaa, das kleine Viertel, war noch in unserer Hand. So weit hatte uns der IS zurückgedrängt. Er wollte uns in Kobanê vernichten, gerade uns als Kurd:innen, die wir es gewagt hatten, gegen ihn aufzustehen.

Meine ersten Kampfhandlungen erlebte ich also in den Straßen und Gassen Sînaas. Damals war ich in einer Gruppe mit Freund:innen aus Aleppo. Der Feind hatte den Plan, auch das letzte Viertel einzunehmen und von dort weiter zum Grenzübergang Murşîd Pinar zu ziehen. Genau dort sollte der Feldzug enden und sich das Kalifat strukturieren. Unsere Gegner unternahmen mehrere Versuche dies umzusetzen, alle konnten jedoch abgewehrt werden. Dort sammelte ich meine erste Erfahrung.

Bei einem erneuten Angriff hielten wir uns in einer engen Gasse auf, die sich nahe am Grenzübergang befand, hatten uns in einem zweistöckigen Gebäude verschanzt und warteten auf den IS. Es kam zu einem kurzen Schusswechsel, und auf einmal hörte ich eine immense Explosion. Es fühlte sich an wie ein massives Erdbeben, als hätte die Erde spontan entschieden zu intervenieren, um zu sagen, es reicht. Es war jedoch kein Erdbeben, sondern eine Rakete, die das Haus getroffen und zum Einsturz gebracht hatte. Im nächsten Moment lag ich unter den Trümmern, und mein einziger Gedanke war: »Ach Deştî, jetzt bist du gefallen, jetzt ist es vorbei.«

Wenn ich heute daran denke, kommt mir die Erinnerung vor, als würde ich einen Film sehen. Die Wand war explodiert, und die Decke war auf uns niedergekracht. Überall war Staub, ich konnte nichts erkennen, dann fiel mir ein Trümmerteil auf den Kopf, und ich verlor schließlich doch noch das Bewusstsein. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich meine Augen im improvisierten Krankenhaus Kobanês aufschlug. Es kam mir noch vor wie im Traum. Ich war wie benebelt, mein Kopf schmerzte höllisch, und ich konnte anfangs nicht klar sehen. Langsam kam ich zu mir und wollte mich umschauen, doch fiel mir das noch zu schwer. Ich wollte mich aufrichten, doch es fühlte sich an, als ob mich jemand aufs Bett drücke, als sei ich festgebunden. Mit einiger Mühe fragte ich also in den Raum: »Heval2, wo bin ich?« Ein Freund kam und antwortete mir: »Heval, du bist verletzt worden und befindest dich gerade noch im Krankenhaus von Kobanê. Sobald der nächste Krankenwagen kommt, bringen wir dich nach Nordkurdi­stan, damit du dort versorgt wirst.« Durch die Anwesenheit des Freundes kam ich allmählich zu mir. Mir kamen die Bilder vom Einsturz des Hauses in den Kopf, und schon hatte ich die zweite Frage auf den Lippen: »Was ist mit den anderen?« Der Freund antwortete, dass es allen gut gehe; ich wusste jedoch, dass er mich anlog. Ein paar Freund:innen mussten ihr Leben sicher gelassen haben, zu schwer war die Explosion. Ich wollte nicht weiterreden und sagte dem Freund nur noch, dass ich auf keinen Fall nach Nordkurdistan gehen wolle, ich wolle hier in Kobanê bleiben. Der Freund schüttelte nur den Kopf und meinte, dass ich gehen müsse.

Ich befand mich in einem schlechten Zustand, war sowohl am Kopf als auch am Rücken verwundet, und es war noch unklar, ob ich überhaupt überleben würde. Trotzdem beharrte ich darauf, in Kobanê zu bleiben. Ich wollte die Stadt nicht verlassen, ehe sie befreit war. Irgendwann wurden die Freund:innen angesichts meiner Sturheit wütend und sagten zu mir: »Heval! Als wir dich unter der Mauer ausgegraben hatten, dachten wir, du seist tot. Ein Freund hatte bereits ein Bild gemacht, um deinen Tod bekannt zu geben. Erst als du gehustet hast, haben wir gemerkt, dass überhaupt noch ein kleines bisschen Leben in dir steckt. Also mach uns jetzt keine Schwierigkeiten und lass zu, dass wir dich zu einem richtigen Arzt bringen. Wenn du wieder gesund bist, kannst du gerne zurückkommen, aber dafür musst du uns erst einmal vertrauen.« Ich hatte also keine andere Wahl und hörte auf sie und schwor mir insgeheim, dass, selbst wenn die Welt untergehen würde, ich einen Weg zurück finden würde.

Ich blieb noch 14 Tage in Kobanê, und diese waren nahezu unaushaltbar. Denn wie gesagt war es noch nicht sicher, ob ich überhaupt überleben würde. Vor allem der Schlaf ist gefährlich. Nie kann man sich sicher sein, ob man wieder aufwacht. Ich habe also in diesen zwei Wochen – wie viele andere Freund:innen auch – versucht, möglichst nicht zu schlafen, und wenn, dann nur für wenige Minuten, die dann aber auch reichten, um ausgeruht zu sein. Erst als ich im Krankenhaus in Nordkurdistan lag, wagte ich es, wirklich zu schlafen, und öffnete meine Augen für ganze zwei Tage nicht. So viel Schlafentzug hatte ich hinter mir.

Nachdem ich mich zwei Tage in Behandlung befunden hatte, wurde ich langsam unruhig. Ich wollte nicht hierbleiben. Die ganze Zeit liefen Nachrichten im Fernsehen, und es wurde für mich immer schwieriger, es hier auszuhalten. Ich ging in mich und befasste mich mit meiner Verwundung. Auch wenn ich noch massive Schmerzen hatte, war ich gut versorgt worden und auf dem Weg der Besserung. Ich traute mir zu, zurückzugehen, doch mir war klar, dass ich das Krankenhaus erst würde verlassen können, wenn ich die Ärzt:innen von meiner Besserung überzeugen könnte. Ich nahm also all meine Kraft zusammen, machte alle Übungen, die mir die Ärzt:innen aufgaben, und verzichtete weitestgehend auf Medizin, um ihnen zu zeigen, dass ich bereit sei. Auch wenn es noch ein paar Tage dauerte, gelang es mir schließlich, sie zu überzeugen, und ich konnte nach Kobanê zurückgehen.

Wie gesagt, es war die Phase der intensivsten Kämpfe in Kobanê. Wir kämpften täglich ums Überleben, denn weiterhin stand alles auf dem Spiel. Ein Thema, das uns viel beschäftigte, war Schlaf. In den Straßen und Gassen Kobanês konnte Schlaf damals den Tod bedeuten. Zu schlafen kam uns vor, als begingen wir Verrat, als verrieten wir den kurdischen Traum der Freiheit. Also blieben wir wach. Wir blieben die meiste Zeit wach, um den Widerstand aufrechterhalten zu können. Hätten wir geschlafen, wären wir überrannt worden, denn schließlich schlief der Feind auch nicht.

Um die Moral hochzuhalten, machten wir ständig Witze. Das war die einzige Möglichkeit, all die Schwierigkeiten auszuhalten. Wer sich einfach nur trocken mit der Situation, in der er oder sie sich befand, auseinandersetzte, verlor sich darin. Also machten wir in den schlimmsten Momenten des Krieges die meisten Witze. So gingen wir auch mit den Verwundeten um. Wie gesagt, wenn ein:e Freund:in verletzt wurde und viel Blut verlor, musste er oder sie unbedingt bei Bewusstsein bleiben. Wer einschlief, wachte oft nicht wieder auf. Also sagten wir den Verletzten immer: »Heval, hast du den Schlaf so vermisst? Schäm dich, dass du jetzt schlafen willst, während alle anderen wach sind. Wir lassen nicht zu, dass du jetzt schläfst. Wir können später alle gemeinsam schlafen, aber jetzt haben wir noch eine Arbeit zu erledigen.« Für viele war verwundet zu werden, der einzige Moment, in dem sie sich ausruhten. Es war die einzige Zeit, in der man wirklich schlafen konnte. Sobald man wieder auf den Beinen war, kehrte man zurück und begab sich ins Gebiet der Schlaflosigkeit. Es gab Freund:innen, die so unter Schlaflosigkeit litten, dass ihnen gar nicht mehr bewusst war, in was für einem schlimmen Zustand sie sich befanden, und es bestand die Gefahr, dass sie ihren Verletzungen erliegen würden, ohne es wirklich zu merken.

Als ich also zurückkam, wurde ich von den Freund:innen wieder freudig empfangen. Ich kam in eine Gruppe, die über Efrîn nach Kobanê gekommen war. Die Freund:innen sagten mir im Spaß, dass ich ja jetzt alleine die Nachtwache übernehmen könne, da ich im Gegenteil zu ihnen ja die letzten Tage ausreichend geschlafen habe. Mir war jedoch klar, dass sie es im Kern ernst meinten, ohne es mir aufzwingen zu wollen. Ich erklärte mich also dazu bereit, die Nachtwache allein zu übernehmen. Es war das erste Mal seit langem, dass die Freund:innen so lange schlafen konnten. Auch wenn ich noch Schmerzen aufgrund meiner Kopf- und Rückenverletzung hatte, hatte ich das Gefühl, dass es mir im Vergleich zu allen anderen in meiner Einheit am besten ginge.

Wir waren eine Unterstützungseinheit und machten uns auf den Weg, um eine andere Einheit an der Front abzulösen. Als wir sie erreichten, waren sie nur noch 80 Freund:innen. Sie hatten tage- und nächtelang gekämpft, und sie befanden sich in einem sehr schlechten Zustand. Noch als sie sich zurückzogen und hinter der Front Stellungen bezogen, verloren einige von ihnen ihr Leben. Auch in unserer Einheit, die nun neu an der Front stand, verloren innerhalb kurzer Zeit einige Freund:innen ihr Leben. Einer von ihnen ist der Freund Pêşeng, der in den ersten zwei Stunden des Kampfes sein Leben ließ. Noch als wir auf dem Weg nach Kobanê waren, hatte er gute Laune und hatte ständig gesagt: »Heval, wir müssen auf uns aufpassen. Weder dürfen wir sterben, noch dürfen wir uns verletzen. Denn mein größter Wunsch ist es, das befreite Kobanê zu sehen. Und das sollte auch eurer sein.«

Es gab viele Freund:innen wie Pêşeng, die mit großen Träumen und einer unzerstörbaren Hoffnung gekommen waren, um an der Befreiung Kobanês mitzuwirken. Es waren diese Träume, diese Hoffnung und insgesamt diese Überzeugung, die es uns ermöglichten auf den Beinen zu bleiben.

Auch Şehîd Destîna3 und Heval Rizgar waren zwei Freund:innen, die mich geprägt haben. Sie haben selbst in den schwierigsten Momenten immer dafür gesorgt, dass wir eine gute Moral und Kraft hatten. Sie haben sich und uns immer angespornt. Beide auf ihre ganz eigene Art und Weise. Rizgar zum Beispiel hat mich immer kritisiert. Er wollte, dass ich an mir arbeite, dass ich die Probleme, die ich habe, nicht einfach akzeptiere, sondern mich verändere. Dabei wollte er mir helfen. Selbst als wir stundenlang unter Beschuss lagen, an unsere emotionalen Grenzen gekommen, da neben uns viele Freund:innen ihr Leben ließen, kritisierte er mich noch. Bis heute habe ich keine seiner Kritiken vergessen, jede einzelne war wie eine kleine Bildungseinheit für mich.

Auch einen anderen Freund muss ich noch erwähnen: Heval Cûdî. Er hat bei allen Freund:innen in Kobanê für eine gute Moral gesorgt, indem er Lieder sang. Jeden Morgen und bei jedem Gefecht nahm Cûdî sein Funkgerät in die Hand und hat für uns gesungen. Wenn wir in unseren Stellungen lagen und seine Stimme hörten, verschwanden für uns die Geräusche der uns um die Ohren fliegenden Kugeln und der Explosionen, die uns abzustumpfen drohten. Auch in Feuerpausen versuchten wir häufig Heval Cûdî davon zu überzeugen, für uns zu singen, was nicht immer gelang. Ich erinnere mich noch, wie wir einmal zusammen um ein Feuer saßen und Şehîd Rizgar im Spaß zu Heval Cûdî sagte: »Hey Heval Cûdî, bevor du anfängst zu singen, will ich etwas sagen.« Dieser antwortete: »Ok Heval Rizgar, schieß los, wir sind schon gespannt, was du sagen wirst. Willst du etwa auch singen?« »Nein, mein Freund, wieso singen? Als ob ich singen könnte?« »Was willst du denn sonst sagen? Komm, spann uns nicht so auf die Folter, wir platzen ja schon fast vor Neugier.« Da wurde Heval Rizgar plötzlich ernst und sagte: »Wenn ich fallen sollte, will ich, dass du ein Lied über mich singst.« Wir machten uns darüber lustig und haben gefragt, ob er denn berühmt werden wolle. Er antwortete uns: »Gut, Heval Cûdî, ich nehme es zurück. Wenn wir sterben sollten, dann musst du über uns alle ein Lied schreiben.« Heval Rizgar hatte aus seinem Herzen gesprochen, weshalb Heval Cûdî nicht ablehnen konnte, aber er kritisierte sowohl ihn als auch uns. Ihn, weil es ihm wichtig war, dass man ihn nicht vergessen würde, während Tausende ihr Leben gegeben hatten und nicht jede:r von ihnen ein Lied, einen Film oder eine Geschichte bekommen hat. Und uns kritisierte er, weil wir uns lustig gemacht hatten, denn schließlich sei es sehr wichtig, den Widerstand auch auf kultureller Ebene aufzuarbeiten, ihn transparent zu machen und dafür zu sorgen, dass nicht vergessen wird, was hier geschehen ist. Aber Heval Cûdî sagte auch noch etwas anderes: »Freund:innen, ihr denkt ständig über das Sterben nach, wieso denkt ihr nicht an das Leben? Das wirklich Wichtige ist doch, die Bedeutung des Moments, in dem man lebt, zu verstehen und ihn zu leben. Hört also auf, dauernd über das Sterben nachzudenken, denkt an das Leben, und macht euch Gedanken, wie das Leben im befreiten Kobanê eines Tages aussehen soll.«

Jeder Morgen lief gleich ab. Wer als Erstes aufstand, fing als Erstes an, die Islamisten zu beschießen. Heval Cûdî hatte den tiefsten Schlaf von uns allen und war immer der Letzte, der aufstand. Oft passierte es, dass er erst durch das Geräusch der ersten Schüsse geweckt wurde. Es ärgerte ihn, und er schämte sich immer dafür. Eines Tages haben wir ihn absichtlich nicht geweckt und angefangen zu schießen. Uns war klar, dass er sich ärgern würde, aber wir wollten ihn ein wenig provozieren. So schreckte Heval Cûdî wieder einmal durch das Geräusch der Schüsse auf, schlug gegen den Holzpfosten, der verhinderte, dass unsere Stellung zusammenbrach, und murmelte ein paar Worte, die sich anhörten, als schwöre er sich selbst etwas. Er sagte: »Freund:innen, wenn ihr mich noch einmal durch das Geräusch der Schüsse weckt, werde ich nicht mehr für euch singen.«

Gleich am nächsten Morgen jedoch kamen wir in Bedrängnis. Es war um fünf Uhr in der Früh. Noch war niemand wach, außer der Nachtwache, die aber nicht sah, was vor sich ging. Die Islamisten hatten sich angeschlichen und unsere Stellung umstellt. Die ersten Schüsse fielen um fünf Uhr morgens, und der Kampf zog sich bis neun Uhr abends hin. Heval Cûdî war sofort aufgewacht und wollte sich bereits beschweren, verstand dann aber schnell, dass die Schüsse von außen auf unsere Stellung trafen, und spielte sofort seine Rolle als erfahrener Freund. Denn die meisten Freund:innen um uns herum waren neu und hatten kaum oder keine Erfahrung. Er verfiel nicht in Panik, sondern leitete uns an: »Heval, nimm dein Gewehr so, und schieß auf die Islamisten, die aus der Gasse kommen!«, »Heval, komm her. Schau, da kommt einer direkt auf uns zu, kümmere du dich um ihn!«, »Heval, Heval! Nimm deine Granaten, da versteckt sich eine Gruppe hinter der Mauer!« Er befasste sich mit jedem Freund und jeder Freundin einzeln. So lernten sie schnell, verfielen nicht in Panik und bekamen den Mut und das Selbstvertrauen, die Islamisten zurückzuschlagen. Auch als unsere Munition und unsere Granaten zur Neige gingen, ließ er sich nichts anmerken, und niemand wagte es zu resignieren, alle kämpften weiter. Viele Freund:innen wurden verwundet an diesem Tag, und er endete erst, als Freund:innen sich von außen einen Weg zu uns bahnen konnten, um uns Nachschub zu bringen. Schließlich war der Feind gezwungen sich zurückzuziehen. Es war allein das Verdienst von Heval Cûdî, dass wir trotz allem an diesem Tag keinen Freund und keine Freundin verloren.

Heval Cûdî ist einige Wochen später im Kampf um das Dorf Bexdikê gefallen. Es war ein heftiger Kampf, und die Freund:innen waren gezwungen, sich erst einmal zurückzuziehen. Heval Cûdî kehrte noch einmal um, da noch verletzte Freund:innen in der Schusslinie lagen, dabei wurde er getroffen. Die Freund:innen nahmen seinen Tod zum Anlass, doch weiterzukämpfen, und es gelang ihnen dann das Dorf einzunehmen. Heval Cûdîs Tod war so, wie er gelebt hatte, ein ehrenvoller und einer, den er für seine Freund:innen, die er nicht zurücklassen wollte, in Kauf genommen hatte.

Nach den ganzen Angriffen der letzten Wochen wurde uns langsam klar, dass wir nur weiterkommen würden, wenn wir die Initiative ergreifen. Also wurde ein Plan ausgearbeitet, und wir haben die Offensive »Befreiung Kobanês« begonnen.

Wir schlossen unsere Vorbereitungen zur Offensive ab, und es war Unterstützung eingetroffen. Wir hatten den absoluten psychologischen Vorteil, während der Feind nur noch verzweifelt versuchte, sich tiefer in der Stadt einzugraben. Wir schworen uns, dass wir ihnen die Stadt nicht überlassen würden, und sagten uns, dass diese Erde unsere Erde sei, dass diese Stadt die unsere sei. Viele von uns haben ihr Blut vergossen, viele haben Teile ihres Körpers im Krieg verloren, doch wir waren bereit noch mehr zu geben, wenn wir dafür unser Kobanê befreien könnten. Es war eine große Anspannung, Nervosität, Aufgeregtheit, aber auch Vorfreude in der Luft. Man konnte sie fast greifen, so groß war die Spannung.

Ich selbst befand mich zu Beginn der Offensive in der berühmten Straße 48. Es ist die große Straße, die vom heutigen Arîn-Mirkan-Platz bis zur Grenze reichte und die Stadt in zwei Teile teilte. Der Feind setzte alles daran, diese Straße nicht aufzugeben, und warf alle seine Kräfte an die Front. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in dieser Zeit die Kampfhandlungen auch nur für eine Minute eingestellt wurden. Das Geräusch der Schüsse waren wir mittlerweile so sehr gewöhnt, dass wir es gänzlich ausblendeten. Wir hatten keine andere Wahl, wir mussten an dieser Stelle durchbrechen, sonst wäre die Offensive in dem Moment ihres Beginns auch schon beendet gewesen. Der Feind musste große Verluste hinnehmen, und man konnte zunehmend erkennen, dass er die Lust zu kämpfen verlor.

Zu den häufigsten Waffen, die unsere Gegner damals einsetzten, gehörten Mörsergranaten. Sie hatten sehr viele davon, und für sie war es angenehm darauf zurückzugreifen, da sie angreifen konnten, ohne sich selbst der Gefahr auszusetzen, aus der Deckung herauszugehen. Irgendwann mussten sie trotzdem einsehen, dass sie die Straße nicht länger würden halten können, und zogen sich zurück. Ihr Rückzug stand im Zeichen verbrannter Erde. Sie zerstörten alles, was sie unterwegs finden konnten, legten zahlreiche Minen sowie Hinterhalte, damit sich ihre anderen Kämpfer zurückziehen konnten.

In dieser Auseinandersetzung war ich in dem Team, das dafür verantwortlich war, den Nachschub an Munition an die Teams an der Front zu verteilen. Einmal waren wir gerade in einer von den Freund:innen neu eingenommenen Stellung angekommen, um ihnen Patronen zu bringen, als uns plötzlich der Feind attackierte. Der kämpfte mittlerweile mehr oder weniger ohne System und griff einfach nur noch wild an, aus Wut darüber, was der Krieg ihn bisher gekostet hatte. Wir konnten im Zuge der Schusswechsel mehrere Straßen einnehmen, als der IS begann, wie wild eben jene Straßen mit Granaten einzudecken. Ich sah, wie mehrere Freund:innen zu Boden gingen, einige von ihnen starben sofort, andere überlebten knapp.

In unserer Nähe befand sich der Stützpunkt von Şehîd Destîna, die die Koordination der YPJ4 vor Ort innehatte. Dieser Stützpunkt wurde nun von mehreren Seiten unter schweren Beschuss genommen, um es einem Selbstmordattentäter in einem mit Sprengstoff vollgepackten Auto zu ermöglichen, in das Haus zu fahren und sich in die Luft zu jagen. Das Haus sackte in sich zusammen, als sei es ein Kartenhaus. Lediglich eine Freundin überlebte den Angriff. Auf die gleiche Weise wollte der Feind nun auch uns angreifen. Das konnten wir jedoch abwehren, indem wir den Selbstmordattentäter eliminierten und den gegnerischen Beschuss auf eine Seite beschränken konnten. Auf der anderen Seite schafften wir die Gefallenen und Verwundeten weg.

Der Feind nahm seine letzte Kraft zusammen, um uns anzugreifen. Ich war in einem Team mit zwei weiteren Freund:innen und deckte eine Flanke, als genau vor den Füßen von Şehîd Apê Osman, dem Freund vor mir, eine Mörsergranate einschlug. Er war nicht sofort tot, ich konnte sein Stöhnen noch hören. Heval Sorxwîn und ich lagen beide verletzt am Boden. Ich schaute nach unten und sah, dass mein eines Bein verwundet war, mein abgetrenntes Bein lag neben mir. Ich wollte zu Şehîd Apê Osman kriechen, doch mir fehlte die Kraft, und aufgrund der Schmerzen drohte ich das Bewusstsein zu verlieren. Er war bereits nicht mehr ansprechbar, und wenig später war klar, dass er nicht mehr lebte. Ich rief nach Heval Sorxwîn, die ebenfalls schwer verletzt war. »Heval, halte durch. Heval, mach bloß nicht die Augen zu. Heval, du darfst auf keinen Fall schlafen«, rief ich ihr zu.

Ich hatte ja bereits erwähnt, dass in solchen Momenten der Schlaf dem Tod gleichkommt. Heval Sorxwîn war es ebenso bewusst wie mir. Wir versuchten miteinander zu sprechen, um bei Bewusstsein zu bleiben, doch es wurde immer schwieriger, denn wir verloren immer mehr Blut. Dann kamen die Freund:innen, um uns einzusammeln. Wir riefen ihnen noch zu, dass sie zuerst die anderen Freund:innen mitnehmen sollten, doch ein Freund machte uns klar, dass gerade wir die akutesten Fälle seien. Sie waren gerade von der Stelle gekommen, an der Şehîd Destîna und die anderen Freund:innen ihr Leben gelassen hatten. Wir wurden sehr emotional und wollten eigentlich nicht weg; wir sahen, wie die Freund:innen weiter kämpften, und uns war klar, dass wir viele von ihnen nie wiedersehen würden. Die Freund:innen brachten uns weg, und wir begaben uns auf den Weg ins Krankenhaus von Pirsûs (Suruç) auf der türkischen Seite.

Auf dem Weg dorthin fuhren wir jedoch zuerst ins Krankenhaus von Kobanê. Dort wurde ich von Şehîd Hemze versorgt. Als er mich anblickte, sah er aus, als müsse er sich übergeben. Ein verletztes Bein, ein abgetrenntes Bein, eine gebrochene Hand und Granatsplitter, die überall in meinem Körper steckten. Bevor er etwas sagen konnte, sagte ich zu ihm: »Heval Hemze, mach dir keine Gedanken. Ich halte einiges aus und werde gesund nach Kobanê zurückkehren.« Er untersuchte mich, entfernte einen Großteil der Splitter und verband meine Wunden. Er sagte zu mir, dass ich, wenn ich die kommende Nacht überleben würde, glimpflich davonkäme. Bis auf das Bein, das nicht nachwachsen werde, könne sich mein Körper ansonsten vermutlich vollständig regenerieren. Ich versprach ihm, dass ich die Nacht überleben und bald wieder in Kobanê sein würde, und wir machten uns nun wirklich auf den Weg.

Unterwegs hörten meine Wunden nicht auf zu bluten, ich muss zu dem Zeitpunkt schon mehrere Liter verloren haben. Deswegen wollten die Freund:innen mich schnell über die Grenze bringen, doch die türkischen Grenzsoldaten versperrten unserem Auto den Weg. Letztlich ließen sie uns sechs Stunden lang dort stehen. Die Kugeln und die Granaten des IS hatten mich nicht töten können, jetzt versuchte der türkische Staat das zu Ende zu bringen. Erst als der Druck durch die immer zahlreicher werdenden Zivilist:innen vor Ort immer größer wurde, sahen sie sich doch gezwungen uns weiterfahren zu lassen.

Die Ideologien des Islamischen Staates und des türkischen Staates sind sich sehr ähnlich. Im gesamten Krieg rund um Kobanê haben wir immer wieder gesehen, wie die beiden kooperierten. Jetzt waren sie aber mit der Kraft des Widerstandes der kurdischen Gesellschaft in Nordkurdistan und in Rojava konfrontiert, dagegen konnte weder der IS noch die türkische Regierung etwas ausrichten.

So gelangte ich also, gerade noch so bei Bewusstsein, ins Krankenhaus von Pirsûs. Ich wurde sofort notoperiert, und bis ich die Augen öffnete, war ein Tag vergangen. Ich befand mich in einem Krankenzimmer, und im Prinzip war mein ganzer Körper in Verbänden eingewickelt. Als der Arzt das Zimmer betrat und die Decke von mir zog, musste ich feststellen, dass mein Bein, das nicht ganz so schwer verwundet gewesen war, ebenfalls amputiert worden war. Ich sagte nichts, aber dachte mir: »Der türkische Staat hat so viel Angst vor uns Kurd:innen, dass er mir sogar mein zweites Bein noch nimmt, um mich aus dem Spiel zu nehmen.«

Ich musste darüber nachdenken, was ich alles erlebt hatte. Ich war stolz, Teil dieses Widerstandes gewesen zu sein; es war und ist ein Widerstand, der seinesgleichen sucht. Auf der anderen Seite dachte ich an mein Bein, das nun irgendwo unter den Trümmern der Stadt Kobanê begraben lag. Aber am Ende habe ich mein Versprechen in die Tat umgesetzt und bin in das befreite Kobanê zurückgekehrt. Ich wollte unbedingt Heval Hemze treffen, um ihm zu zeigen, dass ich wieder da bin. Da musste ich erfahren, dass er kurz vor Ende des Widerstandes gefallen war. Also habe ich allein den ersten Blick auf das freie Kobanê geworfen.

Deştî Amanos geriet am 6. Dezember 2017 während einer Arbeit im Dorf Mehmûdliyê in Tabqa, südlich von Kobanê, in einen Hinterhalt des IS. Sein Fahrer, der verdeckt für den IS gearbeitet hatte, fuhr ihn bewusst dort hinein. Mehrere Personen gaben Schüsse auf ihn ab, von denen ihn insgesamt 13 trafen. Zunächst schwer verwundet, erlag er bald seinen Verletzungen.

Fußnoten:

1 - auf türkischem Staatsgebiet gelegen

2 - Kurdisch für »Freund:in«

3 - Şehîd ist kurdisch für »Gefallene:r« und bedeutet hier, später das Leben gelassen zu haben.

4 - Yekîneyên Parastina Jin – Frauenverteidigungseinheiten


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022