Die irakische Gesellschaft auf der Suche nach einem Ende des Chaos

Die »Demokratische Nation« im »Kurdisch-Arabischen Dialog«

Firaz Amargî, Journalist


In den vergangenen Monaten richteten selbst große deutsche Medienhäuser ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf die explosiven Entwicklungen im Irak. So konnte man z. B. in der Tagesschau Bilder von Protestcamps, Parlamentsbesetzungen und dutzenden Toten nach schweren Gefechten in Bagdad sehen. Problematisch an der fragmentarischen und sehr kurzgefassten Berichterstattung deutscher Medien über die Lage im Irak war und ist jedoch, dass deren Leser:innen bzw. Zuschauer:innen weder die historischen Hintergründe der heutigen Konflikte verstehen noch einen Einblick in die Dynamik der Gesellschaft und ihrer demokratischen Kräfte abseits der zahlreichen staatlichen Akteure erhalten. Dementsprechend ratlos werden viele Menschen in Deutschland angesichts der nicht enden wollenden politischen und gesellschaftlichen Krise im Irak sein und die dortigen Entwicklungen folglich als schwer verständliche Randnotiz abtun.

Versuchen wir daher einmal – wenigstens in groben Zügen – zu verstehen, wie die irakische Gesellschaft und deren demokratische Kräfte mit dem seit Jahrzehnten andauernden Chaos in dem Land umgehen. Dafür wird auch ein Blick zumindest in die jüngere Geschichte des Landes nötig sein, denn ohne ein Verständnis des Vergangenen bleibt das Gegenwärtige nur ein unübersichtlicher Schnelldurchgang mit Informationen zu einzelnen Ereignissen und Personen.

Die irakische Gesellschaft: unterschiedliche ethnische und religiöse Gemeinschaften

Beginnen müssen wir mit einer Feststellung, die genauso offensichtlich wie zentral ist: Der Irak ist ein Land, dessen Gesellschaft sich durch enorme Vielfalt auszeichnet. Ethnische Gemeinschaften wie Kurd:innen, Araber:innen, Assyrer:innen, Turkmen:innen, Syriaker:innen und Armenier:innen teilen sich seit Jahrtausenden diesen geographischen Raum im Herzen des Mittleren Ostens. Während die assyrischen und syriakischen Gemeinschaften in dem Gebiet zwischen Mûsil (Mosul) und Kerkûk leben, stößt man in Bagdad und Mûsil auf Armenier:innen. Die kurdische Bevölkerung lebt zum Großteil im Norden des Landes – auch Südkurdistan genannt –, wobei auch Bagdad über eine kurdische Bevölkerung beträchtlichen Ausmaßes verfügt. Entlang religiöser Identitäten lassen sich im Irak so unterschiedliche Gemeinschaften wie Sabäer:innen, Mandäer:innen, Êzîd:innen, Zarathustrier:innen, Katholik:innen, Kaka´i, Schiit:innen, Sunnit:innen, schiitische Feili-Kurd:innen, Jüd:innen oder Schabak finden. Die Größe dieser Gemeinschaften unterscheidet sich stark. So zählen die Mandäer:innen ca. 50 000 Mitglieder, während die schiitischen Feili-Kurd:innen bis zu drei Millionen Menschen umfassen und in der irakischen Hauptstadt Bagdad stark vertreten sind. Das jüdische Leben im Irak mag heute nur noch sehr marginal bzw. im Verborgenen existieren, doch soll es bis vor wenigen Jahrzehnten ca. 140 vorwiegend jüdisch besiedelte Dörfer allein im Nordirak/Südkurdistan gegeben haben. Auch die mehrere dutzend Haushalte umfassende jüdische Gemeinschaft in der südkurdischen Stadt Silêmanî (arab. Sulaimaniyya) hat erst in den späten 1990er Jahren ihre Häuser verlassen und sich für die Umsiedlung nach Israel entschieden.

Allein ethnisch und religiös betrachtet strotzt die irakische Gesellschaft also vor einer Vielfalt an Identitäten, Geschichten und soziologischen Realitäten. Vor diesem Hintergrund macht es wenig Sinn mit klassischen Begriffen wie dem der »Minderheiten« zu arbeiten, wenn wir die gesellschaftliche Realität im Land verstehen wollen. Dass es stattdessen deutlich hilfreicher ist, von »Teilen der irakischen Gesellschaft« oder »Nationen des Iraks« zu sprechen, wird sich im weiteren Verlauf dieses Textes deutlich zeigen.

»In Bezug auf die Politik von Unterdrückung, Staatsterror und Völkermord kein großer Unterschied zwischen der Zeit vor und nach 2003«

Wer mit Mitgliedern der verschiedenen Gesellschaftsteile des Iraks spricht, stößt immer wieder auf einen Vergleich: die Zeit vor und nach Saddam. Denn seit der US-geführten NATO-Invasion im Jahr 2003 befindet sich das Land in einer sich immer weiter verschärfenden Krise, die alle gesellschaftlichen Gruppen des Iraks stark in Mitleidenschaft gezogen hat. Grundlegend lässt sich feststellen, dass gerade in Bezug auf die Politik von Unterdrückung, Staatsterror und Völkermord kein großer Unterschied zwischen der Zeit vor und nach 2003 besteht. Religiöse Gemeinschaften wie schiitische Feili-Kurd:innen oder Êzîd:innen, aber auch Kurd:innen als ethnische Gemeinschaft sind heute noch immer starker Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt. Während das Saddam-Regime sowohl physisch als auch politisch eine Politik des Völkermordes und Terrors verfolgte, haben sich die irakischen Machthaber seit 2003 eher auf politische Druckmittel beschränkt. Viele der religiösen und ethnischen Gemeinschaften des Landes können daher bis heute ihre Kultur und Traditionen nicht frei ausleben. Und dies, obwohl die irakische Verfassung ihnen umfassende Rechte zuspricht. So ist in der Präambel der 2005 verabschiedeten irakischen Verfassung von einem »Irak der Zukunft, ohne Sektierertum, Rassismus, Regionalismus, Diskriminierung und Ausgrenzung« die Rede. Außerdem wird allen Iraker:innen garantiert: »Die Iraker:innen sind vor dem Gesetz gleich, ohne Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Sekte, Glauben oder Meinung oder wirtschaftlichem oder sozialem Status.« Doch gilt auch über 17 Jahre nach der Verabschiedung der irakischen Verfassung noch immer: Papier ist geduldig.

Weil das seit 2003 etablierte politische System nicht in der Lage ist, die drängenden Probleme und Widersprüche der verschiedenen Gesellschaftsgruppen zu lösen, leiden sie alle unter schweren Belastungen. Das Beispiel der Êzîd:innen, die im Zuge der IS-Expansion im Jahr 2014 einem Genozid ausgeliefert wurden, zeigt deutlich die Schwäche des heutigen Iraks. So hatten die ungelösten gesellschaftlichen Probleme zum einen zur Entstehung des IS beigetragen, während das irakische politische System zum anderen nicht in der Lage war, die êzîdische Bevölkerung gegen die brutalen Angriffe des IS zu beschützen. Aber auch andere Gemeinschaften, wie z.B. die schiitischen Feili-Kurd:innen, leiden weiter unter der stetig wachsenden Last der ungelösten Probleme. Während sie unter dem Saddam-Regime als Kurd:innen und Schiit:innen gleich einer doppelten Unterdrückung ausgesetzt waren, sorgt ihre ethnische Identität auch heute noch dafür, dass sie stark diskriminiert werden und daher ähnlich wie unter Saddam praktisch ohne Rechte dastehen. Die Unfähigkeit der irakischen Machthaber, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen und die vielen Gruppen der Gesellschaft zu beschützen, sorgt dafür, dass heute alle diese Gruppen für sich nach eigenen Lösungen suchen. Insbesondere seit dem zerstörerischen Kriegszug des IS im Jahr 2014 hat sich dieser Trend deutlich verstärkt.

Aufgrund der sich immer weiter vertiefenden Widersprüche und der ausbleibenden Fortschritte in Bezug auf die Demokratisierung des Landes droht der Irak heute akut in drei Teile zu zerfallen. Als Folge würden kurdische, schiitische und sunnitische Rumpfstaaten entstehen. Mit ihrem Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017 trug die von der Barzanî-Familie kontrollierte südkurdische PDK (Partiya Demokrata Kurdistanê) entscheidend zur Vertiefung der Widersprüche zwischen der kurdischen und der arabischen Bevölkerung des Iraks bei. Die sunnitische Bevölkerung des Landes hat im Zuge der IS-Grausamkeiten stark an Ansehen verloren und großes Misstrauen auf sich gezogen. Die irakischen Schiit:innen dominieren seit 2003 die Regierungen des Landes und genießen daher deutlich mehr Rechte als noch unter Saddam. Bis 2003 wurden tausende ihrer Führungspersonen systematisch inhaftiert und ermordet. Auch schiitische Feierlichkeiten waren verboten. Doch ihre Regierungsverantwortung haben die schiitischen Staatsvertreter nicht dazu genutzt, die Probleme der Gesellschaft als Ganzes zu lösen. Stattdessen stellten sie ihre eigene Religion ins Zentrum ihrer Politik, die Anliegen der anderen Bevölkerungsgruppen haben sie zum Großteil ignoriert. Allein diese kurze Darstellung verdeutlicht, dass die drei Hauptbevölkerungsgruppen des Iraks heute große Schwierigkeiten dabei haben, friedlich, demokratisch und gleichberechtigt miteinander zusammen zu leben. Das entscheidende Problem des Iraks besteht also nicht darin, ob Wahlen stattfinden oder nicht, sondern darin, dass eine gesellschaftliche und politische Kultur der Einigung und Akzeptanz aller Bevölkerungsgruppen fehlt.

Protestbewegung und neue Lösungsansätze

Doch seit geraumer Zeit, insbesondere seit Ende des vergangenen Jahres, beginnen immer breitere Kreise der irakischen Gesellschaft sich dafür einzusetzen, eben diese Kultur zu schaffen und erste organisatorische Schritte in diese Richtung zu gehen. Knapp zwei Jahre vor den Wahlen im Oktober 2021 begann die vorwiegend jugendlich geprägte »Tishreen-(Oktober-)Protestbewegung« im ganzen Land. Trotz massiver Repressionen seitens der irakischen Regierung und der zum Großteil vom Iran kontrollierten Hashd-al-Shabi-Milizen protestierten Jugendliche in allen Teilen des Iraks praktisch durchgängig, was u.a. Ausdruck in einem Protestcamp auf dem Tahrir-Platz in Bagdad fand. Allein in den erstens sechs Monaten dieser Protestwelle wurden ca. 600 Protestierende getötet und bis zu 20 000 verletzt. Insbesondere Führungspersonen wurden gezielt ermordet. Auf ihre Forderungen nach einer Demokratisierung des Landes und einer Lösung der drängenden gesellschaftlichen Probleme reagierte der damalige irakische Premierminister Adil Abdul-Mahdi mit seinem Rücktritt. Sein Nachfolger Mustafa al-Kadhimi traf sich mit Vertreter:innen der Tishreen-Protestierenden und machte ihnen weitgehende Versprechungen. So wurde den Protesten der Wind aus den Segeln genommen, während die systematischen Morde ihr Übriges taten. Auf die Umsetzung der Forderungen der »Tishreen-Protestbewegung« warten die Menschen des Landes noch heute.

Eine weniger spektakuläre, dafür aber umso wichtigere strategische Entwicklung sind der gemeinsame Austausch und die politische Koordinierung der verschiedenen Gesellschaftsgruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen des Iraks. Mit diesem Ziel fand im Dezember 2021 in Bagdad zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine große Konferenz aller Gesellschaftsgruppen statt. Êzîdische, arabische, kurdische, Feili-, Schabak- und viele weitere Vertreter:innen diskutierten zwei Tage lang über das Modell der »Demokratischen Nation« als Lösung für die gesellschaftlichen und politischen Probleme des Iraks und Mittleren Ostens. Dieses Modell wird seit weit über einem Jahrzehnt von der Freiheitsbewegung Kurdistans zur Diskussion gestellt und anhand des Beispiels der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, der Selbstverwaltung in Şengal (arab. Sindschar, Irak/Südkurdistan) und im Geflüchtetencamp Mexmûr (Irak/Südkurdistan) auch bereits in die Praxis umgesetzt. Entwickelt wurde der Vorschlag der »Demokratischen Nation« von dem kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan, der in seinen fünf Verteidigungsschriften ausführlich auf die damit verbundenen historischen, soziologischen, politischen, theoretischen und praktischen Grundlagen eingeht. Mit dem Ziel, diese Überlegungen in allen Teilen der irakischen Gesellschaft besser bekannt zu machen, veranstalteten mehrere Organisationen gemeinsam einen »Kurdisch-Arabischen Dialog«, der letztendlich alle Teile der Gesellschaft umfasste. Zu den Organisatoren gehörten die »Demokratische Akademie für Politik und Theorie«, die »Organisation der Freien Feili-Kurd:innen«, die Organisation »Standard« und die »Menschenrechtsorganisation der Kinder Şengals«. Auch die »Kurdische Freundschaftsgruppe im Europaparlament« unterstützte die Konferenz, konnte jedoch aufgrund der damaligen Corona-Beschränkungen nur in Form einer Videobotschaft der Ko-Vorsitzenden Andreas Schieder (S&D1, Österreich) und François Alfonsi (Grüne/EFA, Frankreich) an den Diskussionen teilnehmen. Im Laufe der zweitägigen Konferenz, an der über 180 Vertreter:innen 20 verschiedener Organisationen aus dem Irak teilnahmen, tauschten sich die Teilnehmer:innen in von arabischen und kurdischen Intellektuellen geleiteten Seminaren über die Lösungsperspektive der »Demokratischen Nation« aus. Die Konferenz erhielt im Irak große mediale Aufmerksamkeit und wurde von über 20 Medienhäusern des Landes begleitet.

Diese große Aufmerksamkeit, aber auch eine ähnliche Konferenz der êzîdischen und Feili-Kurd:innen in Bagdad nur wenige Monate später, geben Anlass zu der Erwartung, dass sich die Debatten und die organisatorischen Schritte in Richtung einer demokratischen Lösung der Probleme des Iraks in Zukunft weiter verstärken werden. Damit gehen alle beteiligten gesellschaftlichen Gruppen des Landes einen wichtigen Schritt in Richtung einer selbstbestimmten, gleichberechtigten und friedlichen Kultur, auf deren Grundlage das politische System im Irak demokratisiert werden kann. Gerade der Aspekt der Selbstbestimmung, also des Handelns aus eigener Kraft und im Bewusstsein der eigenen Stärke, wird bei diesen Anstrengungen wichtig sein. Denn der Irak leidet vor allem seit 2003 unter permanenten Interventionen von außen, insbesondere durch die USA und den Iran. Die staatstragenden politischen Akteure des Landes sind daher praktisch nicht mehr dazu in der Lage, eigene Entscheidungen zu fällen bzw. durchzusetzen. Konferenzen – wie die in Bagdad – können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, der Gesellschaft des Iraks und ihren demokratischen Kräften bei der Entwicklung des notwendigen Selbstvertrauens, der politischen Perspektive und der organisatorischen Stärke zu helfen, die sie für die Lösung ihrer enormen Probleme benötigen werden. 

Fußnote:

1 - Socialists and Democrats: Die S&D Group ist das führende Mitte-Links Bündnis im Europäischen Parlament.


 Kurdistan Report 224 | November/Dezember 2022