Der dritte Weg der Demokratischen Partei der Völker HDP

Die Roadmap der HDP und ihre strategische Bedeutung

Tayip Temel, Vize-Ko-Vorsitzender der HDP und Leiter der Kommission für Öffentlichkeitsarbeit


Die Demokratische Partei der Völker HDP wurde gegründet, um einen dritten Weg zwischen den beiden etatistischen Blöcken in der Türkei zu vertreten, indem wir ein dezentral strukturiertes demokratisches Land erschaffen, die bestehenden Probleme lösen und zwischen dem kurdischen Volk, allen unterdrückten und ausgegrenzten Gruppen, Religionen und Geschlechtsidentitäten einen Zusammenhalt entwickeln. Wir haben unsere Partei als Kongresspartei konstituiert, die seit 9 Jahren allen Angriffen, Repressionen, Festnahmen und Verhaftungen trotzt, an ihrem Weg festhält und weiterhin stetig wächst.

Das Fundament der HDP besteht aus den Aspekten Verhandlung und Aufbau. Beide Bereiche entwickeln sich mit dem Ziel, dauerhaft eine gerechte Gesellschaft, Gleichwertigkeit und die Bedingungen für Frieden zu schaffen. Sie existieren aber nicht losgelöst voneinander und stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Die Roadmap der HDP zu gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden umfasst also sowohl die Verhandlungen mit den herrschenden Mächten als auch das gemeinsame Engagement mit anderen demokratischen Kräften auf der Grundlage gemeinsamer Werte. »Dialog« bedeutet für uns also nicht nur, mit den Herrschenden zu verhandeln.

Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, um dem Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Frieden einen programmatischen Rahmen zu geben. In der Vergangenheit sind bereits Methoden entwickelt worden, die zeitgemäß sind und zu unseren geografischen Besonderheiten passen. Bis jetzt hat unsere Partei aus ihrer Tradition heraus viele Roadmaps veröffentlicht. Manche von ihnen wurden zunächst teilweise umgesetzt, andere wurden leider durch eine verstärkte Politik der Repression von Anfang an im Keim erstickt.

Was sind die Voraussetzungen für Frieden?

Ein Friedensprozess findet nicht in einem begrenzten Zeitrahmen statt, sondern er ist ein Prozess, bei dem durch Dialog und Konsensfindung die Ursachen für Krieg und Auseinandersetzung beseitigt und die Voraussetzungen für Gleichstellung geschaffen werden. Wir müssen uns bewusst werden, dass die Grundlagen für den Krieg sich bei allen Beteiligten und Betroffenen über eine gewisse Zeit und über mehrere Eskalationsstufen entwickelt haben. Verhandlungen zu beginnen bedeutet also nicht – wie vielfach angenommen –, Forderungen wie Spielsteine in die Runde zu werfen, sondern setzt ehrliche Bereitschaft und Entschlossenheit voraus. Das ist auch die Grundlage für bleibende Ergebnisse eines solchen Dialogs.

Nachdem die nötigen Voraussetzungen für Verhandlungen geschaffen wurden, muss darüber gesprochen werden, wie die Ursachen für die Auseinandersetzungen und deren Folgeschäden beseitigt werden können. Die Probleme sind bekannt und oft benannt. Jedes einzelne dieser Themen könnte Bände füllen, wir können sie jedoch unter folgenden Kategorien zusammenfassen: rechtliche Voraussetzungen (Aufhebung der Antiterrorgesetze, Wahlrecht/Aufhebung der Prozent-Hürde, Recht auf Gebrauch der Muttersprache in der Öffentlichkeit, Strafgesetzgebung, Presserecht, Beendigung des Gebrauchs nationalistischer und militaristischer Symbole, Gefängnisse, politische Gefangene, die Lage der erkrankten Inhaftierten, Beendigung des Isolationssystems, Entlassung der Dorfschützer, Beendigung der Zwangsverwaltungen); Gerechtigkeit (Fluchtursachen, Abschaffung der Straffreiheit für Entführungen und willkürliche Hinrichtungen – auch in Bezug auf die Vergangenheit –, Untersuchung von Massengräbern und Bestrafung der Verantwortlichen, Zuschreibung der Verantwortung von Massakern, wie z. B. in Roboskî usw.); institutionelle Reformen (Abschaffung des Dorfschützersystems, Räumung von Minenfeldern, Freigabe von militärischen Sperrgebieten für die Besiedlung oder Landwirtschaft usw.); Geschlechtergerechtigkeit (Beteiligung der Frauen an Friedensprozessen in der ganzen Welt, Lösungsvorschläge und Forderungen der Frauen usw.); Schaffung von Wahrheitskommissionen; Neubewertung der Zusammenhänge zwischen Krieg und Wirtschaft in allen Dimensionen (30 Jahre Krieg und die dadurch für die Bevölkerungen der Türkei entstandenen Kosten, Sicherheitshürden, ungleiche Entwicklung, wirtschaftliche Ausbeutung); und die Entwicklung einer all diese Themen beinhaltenden demokratischen Verfassung.

Über jedes einzelne dieser Themen kann lange diskutiert werden, manche Punkte können auch einfach umgesetzt werden, um den Friedensprozess voranzutreiben. Grundvoraussetzung ist die gegenseitige Anerkennung der Gesprächspartner:innen, gegenseitige Garantien, ein verbindlicher Zeitplan, Schaffung von sicheren Bedingungen und die Beteiligung der Bevölkerung.

Für einen nachhaltigen Erfolg müssen möglichst breite Teile der Gesellschaft in diesen Prozess einbezogen werden, auch wenn einige Aspekte direkt auf staatlicher Ebene gelöst werden können.

Die aktuelle Lage

Global, im Nahen Osten und auch im eigenen Land können wir erkennen, wie wichtig die Einheit der demokratischen Kräfte und die gemeinsame Organisierung sind. Was wir zur Zeit erleben, zeigt uns die Bedeutung und die Wichtigkeit der von uns vertretenen Philosophie.

Bei unseren Demonstrationen für Demokratie, unseren Kampagnen »Gerechtigkeit für alle« und gegen Armut von Frauen, bei den Versammlungen für Arbeit und Brot und unseren Arbeiten gegen die prekäre Lage der Jugend haben wir in den vergangenen 18 Monaten Menschen aus allen Schichten getroffen, in den entlegensten Dörfern Kurdistans bis in die Armenviertel der türkischen Metropolen. Wir hören nicht auf, über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu sprechen und Lösungen zu finden, und wir kämpfen weiterhin ununterbrochen für ein demokratisches Land.

Nachdem wir uns neben den Arbeiten in der Gesellschaft ebenfalls mit politischen Parteien, Arbeits- und Berufsorganisationen, regionalen Vereinen, Frauenorganisationen, Umweltschutzorganisationen, Handels- und Handwerkskammern getroffen hatten, stellten wir am 27. September 2021 unser Positionspapier für Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie vor: unsere Roadmap. Das ist ein wichtiger Schritt in einer Zeit, in der viel über unsere Partei diskutiert wird, in der versucht wird, die HDP mit Verbotsverfahren und den Kobanê-Prozessen auf juristischem Wege mundtot zu machen, und uns die faschistische AKP-MHP-Regierung mit allen Mitteln angreift.

Was bezwecken wir mit dem Bündnis für Demokratie?

»Demokratisches Bündnis« bedeutet die Erweiterung des Fundaments für einen gemeinsamen Kampf der gesellschaftlichen und politischen Opposition, der Arbeits-, Umwelt-, Frauen- und Jugendbewegungen sowie den Aufbau der Einheit aller geschlechtlichen Orientierungen, aller Völker und Religionen. Gleichzeitig ist es die Gemeinschaft, die allen Bürger:innen die Möglichkeit gibt, die eigene Zukunft und die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen mitzubestimmen.

Unsere Partei, die ebenfalls aus einem demokratischen Bündnis hervorgegangen war, ist entschlossen, ihre Erfahrungen und Werte – das von ihr erarbeitete Erbe – zu kollektivieren. Wir halten an dem demokratischen Bündnis fest, um die Werte unseres Kampfes zu vergesellschaften und voneinander getrennte Bereiche des Kampfes zusammenzubringen. Wir haben eine dritte Option zwischen der Regierung, die keinen demokratischen Wandel will, und einer Opposition, die durch falsche Politik das Leben dieser Regierung verlängert. Diese Option kann aber nur gelingen, wenn sich wirklich eine möglichst große gesellschaftliche Breite in diesem Bündnis zusammenschließt. Der alleinige Schlüssel zu einer Lösung der ursächlichen Probleme der Türkei liegt in dem Bündnis, das wir als den dritten Weg bezeichnen.
Der dritte Weg bedeutet, für keinen der beiden vorhandenen politischen Blöcke, die die Gesellschaft stark polarisieren, Partei zu ergreifen. Keine der beiden Seiten vertritt die Demokratie, die die Bevölkerung sich wünscht. Eine demokratische Türkei ist unser grundlegendes Ziel und die Maxime des Bündnisses. Dieses Prinzip sieht ein gleichberechtigtes Leben aller Volksgruppen vor. Alle auf Kolonialisierung und Herrschaft basierenden Beziehungen müssen überwunden werden. Wir arbeiten daran, die gesamte Türkei darauf auszurichten, allen Völkern eine freie und gleichberechtigte Existenz in einem demokratischen System zu ermöglichen.

Das Prinzip des dritten Weges der HDP ist das Fundament für den Aufbau des demokratischen Bündnisses und verschafft ihm mehr Bewegungsfreiheit.

Unser Verständnis und Bestreben eines demokratischen Bündnisses sind grundlegend

Das demokratische Bündnis ist für uns kein taktisches Wahlbündnis. Bei Wahlbündnissen schließen sich politische Parteien für eine Wahl und zur Vorbereitung der Machtverteilung zusammen, ohne dabei von ihren eigenen Vorstellungen abzulassen. Solche Bündnisse stellen für uns das Potential für mehr Raum für politische Manöver und die Chance, Anteil an der Führungsmacht zu erhalten, dar. Das wollen wir nicht. Das Demokratiebündnis ist zu strategisch, um sich auf Wahlperioden eingrenzen zu lassen. Wir wollen alle Teile der Gesellschaft an gemeinsamen Punkten zusammenbringen, um die gesellschaftlichen Probleme anzugehen.

Das demokratische Bündnis kann nicht nur auf die parlamentarisch-demokratischen Kräfte und die gesellschaftliche Opposition beschränkt werden. Eine politische Bewegung, die Gleichheit sowohl prinzipiell als auch praktisch zum Prinzip erkoren hat, hat ihre Quelle in den verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft, den Gewerkschaften, den Kammern, den diversen gesellschaftlichen Vertretungen usw. Deshalb gehören alle Strukturen, die die Menschenrechte, die Meinungsfreiheit, das Völkerrecht, die Natur, die Arbeit und die Gleichstellung der Geschlechter verteidigen, zum demokratischen Bündnis, das die Zukunft aufbaut. Diese Einheit umfasst sowohl die zentralen Strukturen auf Landesebene wie auch deren regionale Vertretungen. Aber nicht nur Organisationen, auch einzelne Personen aus den unterschiedlichen Traditionen des Kampfes sind Teil des Bündnisses. Alle Organisationen und Personen, die sich den Kampf für die Rechte der Kurd:innen als Volk zu eigen machen, die Gleichberechtigung aller religiösen Überzeugungen verteidigen und im Kampf um die Rechte alle Mittel und Wege ausschöpfen, die sich für Einheit statt Trennung einsetzen, sind Teil des von der HDP angeführten demokratischen Bündnisses.

Entsprechend unserem Grundsatz, Politik zu vergesellschaften und die Gesellschaft zu politisieren, arbeiten wir ständig an nachhaltiger Vernetzung. Wenn die Treffen der Personen und Organisationen, mit denen wir bis heute Gespräche geführt haben, selbstständig fortbestehen, ist das Bündnis nachhaltig. Wenn die einzelnen Stimmen aus den verschiedenen Kämpfen an Kraft gewinnen und die Forderungen rechtlich garantiert und angewendet werden, wird das die Nachhaltigkeit des Bündnisses sicherstellen.

Wir müssen das demokratische Leben und die demokratische Führung gegen die Herrschenden und die systemimmanente Opposition aufbauen

Wenn Bündnisse nicht nur auf zentraler Ebene bleiben, sondern auch lokal umgesetzt werden und zu einer Bewegung anwachsen, stabilisiert sich ein Gleichgewicht zwischen zentraler und lokaler Politik. Die Partei, die mit diesem Verständnis den Aufbau eines demokratischen Lebens vorantreibt, das den Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht, und dies zusammen mit den Arbeiter:innen, den Frauen, den Jugendlichen und allen Identitäten führend entwickelt, ist die HDP. Die HDP hat die Ideologie, die die Kraft der gemeinsamen Bewegung aller Kreise, mit denen sie im Dialog steht, zur Geltung bringen kann, um gegen das herrschende System und die ihm immanente Opposition ein demokratisches Leben und eine demokratische Führung aufzubauen. Die HDP hat den Mut und das Potential, diesen Kampf anzuführen.

In diesen Tagen, in denen den Menschen kaum die Luft zum Atmen bleibt und die faschistische AKP-MHP-Regierung in vielen Bereichen – von der Wirtschaft bis zur Politik – alles in Trümmer legt, sehen wir, dass unsere Völker dringend einen demokratischen Wandel brauchen und erwarten. Die HDP hat mit ihrer Dialogbereitschaft eine Schlüsselrolle bei diesem demokratischen Neubeginn inne; dass immer größere Teile des Volkes uns als konstituierende politische Kraft für die Lösung der Probleme begreifen, vergrößert unsere Verantwortung.

Solange die Geschichte allein aus der Sicht der Herrschenden, Führenden, der Ausbeuter und Bosse betrachtet wird, wird sich an der Ungleichheit nichts ändern. Aber tief im Verborgenen lässt sich die Gleichwertigkeit spüren. Die Aufrechterhaltung eigener Privilegien ist zweifellos der Grund für das Festhalten der Herrschenden und Ausbeuter an der Ungleichheit. Gleichwertigkeit ist der Schlüssel zu einer wirklichen Lösung der Probleme: Ohne sie können die Probleme vielleicht für einen begrenzten Zeitraum gedeckelt werden, jedoch wird die Gesellschaft unausweichlich in neue Krisen stürzen.


 Kurdistan Report 219 | Januar/Februar 2022