Aktuelle Bewertung mit Blick auf das vergangene Jahr

Gegen die Erdoğan-Diktatur, für unseren Traum von Freiheit

Nilüfer Koç


Das Jahr 2021 mit seinen Höhen und Tiefen ist zu Ende gegangen. Viel ist in dem vergangenen Jahr passiert. Eine Aufzählung der Ereignisse würde den Rahmen sprengen.

Summa summarum kann festgehalten werden, dass sich die Systemkrise des Kapitalismus noch weiter vertieft hat, was weltweit zu mehr Konflikten, Kriegen und Spannungen führte.

Doch auch die Pandemie hat das Leben, die Mobilität der Menschen äußerst negativ beeinträchtigt. Die Existenz des Virus ist real. Allerdings entsteht immer mehr der Verdacht, dass viele Staaten diesen Virus benutzen, um die digitale Kontrolle über unser Leben zu gewinnen, was unter »normalen Umständen« nicht so einfach wäre. Unser Leben, unsere Sozialisation, unsere Mobilität werden nunmehr immer stärker über Apps kontrolliert.

Inzwischen sind persönliche Daten derart digitalisiert, dass eine verstärkte Kontrolle zu befürchten ist. Von der Gunst der Stunde profitierten vor allem bestimmte Wirtschaftszweige, die vorwiegend virtuell arbeiten wollen. Die Pandemie als globales Problem hat erneut vor Augen geführt, wie abhängig wir doch von Regierungen sind. Aber auch, dass unsere Meinung gar nicht zählt. Denn schrittweise wird der Impfzwang so gestaltet, dass Verweigernde quasi nichts mehr machen können. Allein diese Tatsache zeigt, inwieweit Regierungen uns entmündigen können. Linke Gruppierungen haben sich zumeist den Regierungen angeschlossen, da sie leider keine Alternative zu bieten hatten. Man mag kritisch zu George Orwells »1984« gestanden haben, aber ein Teil seiner Voraussagen sind leider Realität geworden. Da die Linken vereinzelt agieren, waren sie nicht in der Lage, gerade normalen Menschen bei der Suche nach Antworten auf deren Fragen zu helfen. Die Impfung und die kritische Auseinandersetzung mit ihr ist immer noch ein Thema.

Hervorragende Analysen über Ursachen, Hintergründe und Folgen, aber auch Alternativen zur Bekämpfung des Virus sind in den Elfenbeintürmen geblieben, weshalb gerade die Rechten von der Wut und dem Protest normaler Bürger:innen profitieren. Die Mainstream-Medien, die sich mehrheitlich der staatlichen Politik fügen, zeichnen nichts als graue Wolken. Die Lockdowns, die immer wieder wie ein Damoklesschwert über den Köpfen schweben, erschweren das Alltagsleben wie die Zukunftshoffnungen. Die Zukunft birgt viele Fragen.

Das Ausmaß der globalen Ausbeutungspolitik des kapitalistischen Systems, ist deutlich am Zustand der Natur zu erkennen. Die steigende Zahl der Flutwellen und die sich ausdehnende Dürre in verschiedenen Teilen der Welt machen die Klimakrise sichtbarer, spürbarer. Die flächendeckenden Waldbrände in diesem Jahr signalisierten eine weitere Dimension des Systems. Der zunehmende Konkurrenzkrieg zwischen den Staaten, vor allem den USA und China, bringt die Welt aus den Fugen. Progressive Kräfte sind gefordert, heute mehr denn je, eine radikal kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus als Ursache der Probleme anzugehen. Stattdessen wird auf die Folgen des Systems reagiert, was die Energieressourcen und damit auch die Hoffnungsperspektive belastet. Gerade die Klimabewegung ist zwar eine führende Bewegung, dennoch eine Reaktion. In Europa handeln die meisten solcher Bewegungen wie eine Feuerwehr. Dabei können durch einen Bruch mit dem Kapitalismus die Ursachen bekämpft werden. Auch ist es Selbstbetrug, von den Regierungen oder den UN eine Verbesserung in der Klimakrise zu erwarten. Regierungen als exekutive Staatsorgane stehen unter dem Druck der Wirtschaft und der Unternehmen, die grenzenlos expandieren wollen. Sie erwarten von den Regierungen, ihnen durch Gesetzesänderungen die Freiheit der grenzenlosen Expansion zu ermöglichen. Eine Abkehr vom Kapitalismus ist erforderlich, um die Zukunft der Natur, der Menschheit, des gesamten Universums zu retten. Was auf der Erde geschieht, ist heute für alle durch die schnellen Veränderungen spürbar. Uns, der Mehrheit, ist gar nicht bekannt, was im Weltall geschieht. Dem Kapitalismus reicht es nicht, unseren Planeten, die Erde, zu zerstören, jetzt greift er auch auf andere Planeten zu. Was die Herrschenden dort wollen und warum sie überhaupt dort sind, das sind Fragen, auf die wir Antworten finden müssen, denn es geht auch uns an. Die Investitionen und der Wettbewerb von immer mehr Staaten in Bezug auf Planeten sind kein gutes Omen. Daher die Frage, was machen die eigentlich da oben?

Die Systemkrise des Kapitalismus vertieft sich

In Kurdistan, der MENA-Region (Nahost und Nordafrika), Lateinamerika und Afrika sind wir neben den Folgen der Klimakrise auch mit Kriegen und Konflikten konfrontiert.

Insgesamt war die Lage der Menschheit 2021 geprägt von der sich vertiefenden Systemkrise des Kapitalismus, die gleichzeitig die Grundlage für die Unzufriedenheit der Menschen ist. Gegen die verschiedenen Ausformungen dieser Krise wurden auch großartige Widerstandskämpfe geführt. So derjenige der Bauern in Indien, die sich erfolgreich gegen die Privatisierung ihrer Ländereien und den vorgesehenen Anbau von Monokulturen gewehrt haben. Genauso bedeutet die Globalisierung der Bewegung gegen die Klimakrise eine positive Entwicklung. Der Massenprotest der Frauen in Polen und Mexiko für das Recht auf Abtreibung ist eines der wichtigen Ereignisse dieses Jahres.

Eine andere interessante Entwicklung in diesem Jahr war die wachsende Zahl links gesonnener Regierungen in Lateinamerika. Korrupte Regime, die sich als Marionetten größeren Mächten unterordnen, werden infrage gestellt. So haben sich in Kolumbien die verschiedenen Guerillagruppen zu einer Einheit zusammengeschlossen, was sie politisch zu einem bedeutenden Machtfaktor werden ließ. Eine sehr wichtige Entwicklung war Ende des Jahres die Streichung der kolumbianischen Guerilla-Organisation FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo) von der schwarzen Liste ausländischer Terrororganisationen durch die USA. Nach dem Friedensabkommen zwischen den FARC-EP und der kolumbianischen Regierung von 2016, an dem auch die USA als Vermittler beteiligt waren, wurden viele Kämpfer:innen und Kommandantinnen der FARC-EP ermordet. Frieden sollte erst zustande kommen, wenn die FARC-EP ausreichend geschwächt wären. Dazu kam es allerdings nicht. Seit 2016 haben die USA die korrupte kolumbianische Regierung unterstützt, obwohl sie eine Vermittlerrolle spielten. Gegenüber den Morden durch die Regierung ließen sie keinen Ton verlauten. Die Streichung der FARC-EP von der US-Liste terroristischer Organisationen ist daher eine Anerkennung der Tatsache, dass sie nicht ausreichend geschwächt werden konnte.

In Südafrika, das als Vorbild für den afrikanischen Kontinent angesehen wird, hat neben der Pandemie die politische Unfähig­keit des ANC (African National Congress) aufgrund der Korruption zur Unzufriedenheit geführt. Es reicht ein Funke, so kann es jederzeit brennen. Im Sommer des Jahres kam es zu Massenaufständen junger Menschen gegen den ANC, auch wenn es offiziell hieß, der Haftbefehl gegen den ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma sei Grund für die Ausschreitungen. Es wurde ebenfalls Widerstand geleistet gegen den Ölkonzern Shell, der ab dem 1. Dezember vor der Küste Südafrikas nach Öl und Gas zu suchen plante – mit katastrophalen Folgen für den Umwelt- und Tierschutz.

Trotz der Pandemie als globale Herausforderung endeten weder Kriege und Konflikte noch die Expansion des Kapitalismus.

In Kurdistan hatte und hat die Pandemie keine Priorität. Aber auch in vielen anderen Teilen der Welt, in denen Kriege und Konflikte bestimmend sind, waren die Menschen mit ihrem Überleben beschäftigt.

Viele glaubten, dass sich mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden, der am 20. Januar sein Amt antrat, einiges zum Positiven wenden würde, indem er die aggressive Politik Trumps korrigieren würde. Vor allem die kriegsgebeutelten Regionen des Mittleren Ostens und Nordafrikas wünschten sich eine Verbesserung. Ähnliche Erwartungen gab es zeitweise auch unter kurdischen Nationalisten, die es sich ohnehin zur Tradition gemacht haben, auf einen Retter zu hoffen. Der Mehrheit der politisierten Kurd:innen hingegen war klar, dass die USA immer noch hinter dem Projekt des erweiterten Mittleren Ostens (Greater Middle East Project) stehen. Mit Biden würden Methoden, Form und Stil zwar etwas abgemildert werden, der US-Strategie einer Weltmacht würde allerdings weiterhin gefolgt werden.

Für die USA mit Biden, als treibende globale Macht der kapitalistischen Moderne, war vorgesehen gewesen, einige Probleme vor allem im Mittleren Osten zu lösen. Biden war damit befasst, zunächst die Politik Trumps, der das Land politisch sehr stark isoliert hatte, zu korrigieren. In milden Tönen untermalte Biden seinen Beginn damit, dass er sich nicht nach der Art und Weise Trumps richten werde, sondern dass »America First« nur mit Bündnissen um sich herum möglich sei. Er suche den »Dialog« und die »Zusammenarbeit« – ein entsprechendes Motto für den NATO-Gipfel im Juni 2021: »2030 – Gemeinsam in eine neue Ära«. Dabei heißt die Organisation »Nordatlantikpakt«, wird auch »Atlantisches Bündnis« genannt. Die Worte Bündnis oder Pakt unterstreichen doch die Gemeinsamkeit. Wozu also noch eine zusätzliche Betonung dessen? Ähnlich wie Trump sieht auch Biden die USA als die Weltmacht. Trump hatte die anderen Mächte der Welt vertrieben, Biden muss sie wieder um die USA herum sammeln. Gemeinsam ins Jahr 2030 bedeutet gemeinsam mit den USA. Sofort wurden auf diesem Gipfel auch die neuen Feinde ausgemacht, welche die anderen 29 Staaten gemeinsam mit den USA bekämpfen müssen, nämlich China und Russland.

Mögen die USA sich nach wie vor als Supermacht oder Weltmacht sehen, die Realität spricht allerdings eine andere Sprache. So einfach ist es für sie seit dem Ende des Kalten Krieg nicht mehr. Die Herausforderungen sind enorm, was die USA zu mehr Kompromissbereitschaft nötigt. Die größte unter diesen Herausforderungen ist die wachsende Wirtschaftsmacht China. In Südamerika, Asien, Afrika, Australien und auch in Europa findet ein Wettbewerb zwischen diesen Mächten statt, welche die politischen Balancen der nahen Zukunft entscheiden werden. Das bietet vielen Dritten die Chance, von diesem Wettbewerb zu profitieren. So wie die USA Indien gegen China aufputschen, investiert China wirtschaftlich in Indien und öffnet sich somit Türen zur Politik.

Ohnehin sind die USA derart durch die von ihnen verursachten Konflikte und Kriege beeinträchtigt, dass sie dieses Jahr eine kritische Entscheidung wie die zum Rückzug aus Afghanistan trafen. Dieser Vorgang allein hat einen großen Schatten auf ihre Macht geworfen.

Die Türkei unter Erdoğan – eine nationale und internationale Last

Eine ganz besondere Herausforderung für die USA im Mittleren Osten war und ist die Türkei. Als Mitgliedsstaat der NATO mit deren zweitstärkster Armee wurde sie seit ihrem Beitritt 1952 gedopt. Egal welches Regime gerade an der Macht war, die Türkei wurde stets als NATO-Mitglied unterstützt. Selbst während der Militärputsche, die tausende Menschenleben kosteten, blieb sie es problemlos. Auch die barbarische genozidale Politik gegenüber den Kurd:innen änderte nichts an dieser Mitgliedschaft. Diese Tatsachen allein zeigen, dass es der NATO egal ist, welche brutale Regierung an der Macht ist, die Türkei bleibt strategischer NATO-Partner. Noch heute, wenn es um den Einsatz von C-Waffen oder die gezielte Tötung von Politiker:innen mithilfe türkischer Drohnen geht, wird für die Türkei ein Auge zugedrückt. Auch die Europäische Union oder die Organisation für das Verbot chemischer waffen (OPCW) verhalten sich nicht anders.

Mag sein, dass die Türkei auch heute ein strategisch wichtiger Partner der NATO, der EU im Mittleren Osten ist, für die Kurd:innen und alle anderen unterdrückten ethnischen, religiösen und politischen Gruppen stellt das faschistisch-rassistisch-sexistische türkische AKP-MHP-Regime eine Lebensgefahr dar.

Der Kampf der Kurd:innen hat gegen diese Gefahr auch 2021 einen großen Erfolg zu verzeichnen. Denn Anfang Februar verlor die Türkei die Schlacht gegen die Guerilla der Volksverteidigungseinheiten (HPG) und die Frauenguerilla (YJA Star) in der Region Gare in Südkurdistan (Nordirak). Dabei hatte die türkische Armee auf die beste Militärtechnologie gesetzt. Um die Niederlage gegenüber der türkischen Öffentlichkeit zu vertuschen, wurden 13 seit mehreren Jahren unversehrt unter dem Schutz der HPG befindliche Kriegsgefangene, alle ehemalige türkische Militärangehörige, ermordet. Das führte zu einer kritischen Hinterfragung des AKP-MHP-Regimes, das sich mit einem Sieg die Verlängerung seiner Macht erhoffte. Geschockt durch diese Niederlage, war Erdoğan, der täglich in türkischen Medien den Sieg versprochen hatte, lange Zeit medial nicht mehr zu vernehmen. Sämtliche regimegesteuerten Medien hatten 24 Stunden täglich den Sieg vorausgesehen. Was herauskam, war eine türkische Niederlage, aber ein kurdischer Sieg der HPG-YJA-Star-Guerilla. Auch die südkurdische Demokratische Partei Kurdistans PDK hatte mit Geheimdienstinformationen kräftig mitgeholfen. Sie hatte durch ihre Peschmergas der Guerilla im Voraus mehrere Wege versperrt, um deren Mobilität zu behindern. Das Ziel war, gemeinsam die Guerilla im Gebiet Gare zu umzingeln und sie dann mit allen Mitteln zu vernichten. Doch dieser Plan lief ins Leere. Gestärkt durch den Sieg der Guerilla in Başûr (dem »Süden« Kurdistans) feierten Millionen Menschen am 21. März in verschiedenen Gebieten Nordkurdistans (Bakur) Newroz, Millionen forderten bei den Newrozfesten die Freilassung des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Das AKP-MHP-Regime war unter immensen Druck geraten und musste daher ein Telefonat zwischen Abdullah Öcalan und seinem Bruder am 25. März ermöglichen. Doch auch bei diesem Telefonat, das nur vier bis fünf Minuten dauern sollte, waren bei der Staatsanwaltschaft die Rachegelüste und die Wut des Staates wegen der Niederlage spürbar. Öcalan kritisierte seinen Bruder, in Zukunft solche Angebote des Staates nicht zu akzeptieren. Denn ihm stünde ohnehin das Recht zu, mit der Familie und den Anwälten telefonieren zu können. Die Kritik bezog sich auf die dauernde Verletzung seines legitimen Rechts. Durch das auf politischen Druck hin erfolgte Telefonat wurde noch einmal klar, dass auf der Gefängnisinsel İmralı kein Recht, sondern ein Willkürregime regiert. Anstelle des Rechts sind politische Interessenlagen entscheidend.

Der Papst in Südkurdistan

Ein wichtiges Ereignis im März war der Besuch des Papstes im Irak und in Südkurdistan. Es liegt auf der Hand, dass es ihm nicht nur um religiöse Angelegenheiten ging, schließlich ist er auch noch Staatsoberhaupt des Vatikan. Die Reise war mehr politischer als religiöser Natur. Zum einen besuchte er Ali as-Sistani, das Oberhaupt der dortigen Schiiten, der eine kritische Haltung zum Iran als Zentrum des Schiismus hat. Seit Jahren sind auch die USA bemüht, eine Spaltung im Schiismus zu erzeugen. Konkret soll nicht mehr Qom im Iran religiöses Zentrum der Schiiten sein, sondern Nadschaf und Kerbala im Irak, historisch gesehen Ursprungsstätten dieser Religion. Das Mullah-Regime jedoch hatte nach 1979 die Stadt Qom im Iran zum Zentrum erklärt, as-Sistani sieht es in Kerbala und Nadschaf. Der Papst hat durch seinen Besuch bei as-Sistani und anderen irankritischen Schiiten eine deutliche Botschaft vermittelt.

Auch hat er mit seinem Besuch bei Nêçîrvan Barzanî, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, die PDK legitimiert, die wegen Korruption und Vetternwirtschaft Südkurdistan ruiniert. Die PDK ist führungsunfähig, da sie das Land regelrecht ausraubt und die Menschen in den Hunger treiben. Allein in diesem Jahr haben Zigtausende Kurd:innen Südkurdistan verlassen und den gefährlichen Weg in Richtung Europa angetreten. Mehrheitlich sind es junge Menschen und Familien, die keine Zukunft mehr im »Freien Kurdistan« sehen. Dieser Umstand wurde jüngst durch die 8.000 kurdischen Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus international bekannt. Zuletzt ertranken 27 Menschen im Ärmelkanal, die meisten von ihnen kamen auch hier aus Südkurdistan.

Die Menschen verarmen zu lassen, dann den Weg zur Flucht zu öffnen und davon wirtschaftlich zu profitieren, das entbehrt jeder humanen Haltung. Recherchen ergaben, dass die Schlepper unter der Kontrolle des türkischen Geheimdienstes MIT und dem Geheimdienst der PDK Parastin stehen. Der Türkei geht es um ein Kurdistan ohne Kurd:innen, der PDK darum, das strategische Bündnis mit der Türkei aufrechtzuerhalten. Die PDK hat Erdoğan ihre Tore geöffnet. Nicht nur in politischer und militärischer, sondern vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Die De-facto-Staatlichkeit ermöglicht es ihnen, sich zu bereichern, und sie profitieren vom PKK-feindlichen Kurs der USA, der EU und vor allem der Türkei. Würde morgen ein Friedensprozess zwischen der PKK und der Türkei beginnen, wäre das zum Nachteil der PDK. Deshalb hilft sie Erdoğan beim Krieg gegen die PKK.

Regierungsbildung im Irak

Durch Manipulationen gelang es der PDK auch, bei den irakischen Parlamentswahlen im Oktober ihren Stimmenanteil zu steigern. Zuverlässige Quellen jedoch stellen klar, dass die Wahlbeteiligung in Kurdistan bei 25 % lag. Angesichts dessen hat keine der Parteien diese Wahlen gewonnen. Die als die »wahre Oppositionspartei« in die Geschichte Südkurdistans eingegangene Gorran (Bewegung für Wandel) hat eine totale Niederlage hinnehmen müssen, da sie an der Regierung mit der PDK beteiligt war und sich ihr mit der Zeit annäherte. Sie hat keinen einzigen Parlamentssitz bekommen.

Die Zahl der Angriffe des »Islamischen Staates« (IS) vor allem in den »kritischen Gebieten« Südkurdistans, besonders um die Ölregion Kerkûk herum, hat wieder zugenommen. Plötzlich schießt der IS wie ein Pilz aus dem Boden. In diesem Prozess einer neuen politischen Orientierung des Irak kämpfen die Staaten USA, Iran, Türkei um eine Machtposition. Die Türkei benutzt die ankaratreuen Turkmenen in den Gebieten um Kerkûk, Tel Afar; zum Teil hat Ankara auch Pakte mit sunnitischen Arabern in der Region Mûsil (Mosul) geschlossen, um dort eine sunnitische Vormacht zu konstituieren.

Der Genozid an den Êzîden dauert an

Zur Region Mûsil gehört das strategische Gebiet Şengal (Sindschar), das von den Êzîd:innen Êzîdxan (Land der Êzîden) genannt wird. Hier schloss die PDK am 9. Oktober 2020 unter Vermittlung der UN im Irak (UNAMI) ein Abkommen mit der irakischen Regierung; Erdoğans Regime hat hinter den Kulissen über die PDK kräftig mitgemischt. Bei diesem Abkommen geht es darum, Şengal wieder Bagdad und der PDK zu unterstellen, bei geteilter Macht. In diesem Falle wird die PDK ihren Anteil der Macht mit der Türkei teilen, weil diese maßgeblich an der Ausarbeitung dieser Vereinbarung beteiligt war. Die Êzîd:innen wehren sich dagegen, da gegen beide immer noch großes Misstrauen herrscht. Zur Erinnerung: Sie hatten am 3. August 2014, als der IS die Êzîd:innen angriff, ihre militärischen Kräfte zurückgezogen und sie ihren Mördern überlassen. Die Türkei und die PDK bestehen immer noch auf der Umsetzung des o.g. Abkommens. Als Druckmittel setzt die Türkei Drohnenangriffe ein. Gezielt wurden bekannte politische Führer wie Seîd Hesen am 16. August und zuletzt Merwan Bedel am 7. Dezember ermordet, letzterer mitten im Stadtzentrum von Xanesor, als er seine Kinder zur Schule fuhr. Sein Wagen wurde von einer türkischen Drohne (SIHA) angegriffen, er starb, während zwei seiner Töchter von Zivilist:innen aus dem brennenden Auto gerettet wurden. Ähnlich hatte eine türkische Drohne die bekannte Familie Gulo in Qamişlo am 9. November 2021 mitten im Stadtviertel angegriffen, wobei der 85-jährige Yusif Gulo und seine Enkel Mazlûm Mustafa und Mihemed Mehmud umkamen. Die türkischen Medien feierten dies als »Deaktivierung« der engsten Freunde Öcalans.

Dies ist eine neue Taktik des türkischen Regimes. Ähnlich wie die Familie Gulo hatte auch Merwan Bedel sein Land nicht verlassen, sondern gegen den IS gekämpft. Mit den HGP und YJA Star und den Volks- und den Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) kämpfte er Schulter an Schulter, um sein Volk vor dem Genozid zu retten. Später übernahm er als Ko-Vorsitzender des Exekutivrates einen politischen Posten im Rat der Êzîden in Şengal. Merwan Bedel wie Yûsif Gulo sind in der kurdischen Öffentlichkeit bekannte Persönlichkeiten, die in hohem Maße Sympathie und Respekt genossen.

Zuvor hatten türkische Drohnen am 17. August in Şengal ein Krankenhaus angegriffen, wobei acht Personen ermordet wurden. Die Drohnen schweben seit dem Abkommen vom 9. Oktober wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Êzîd:innen. Erdoğan will Şengal als strategisches Gebiet besetzen, das ist Teil seiner Expansionsstrategie. Schon oft hat er betont, dass er Mûsil und Kerkûk als ehemalige osmanische Provinzen wiederhaben will. Was er 2014 mit dem IS nicht geschafft hat, versucht er nun, mithilfe der Drohnen zu erreichen.
Angesichts der Ereignisse in Şengal 2021 ist die Gefahr der Fortsetzung des Genozids an den Êzîd:innen leider nicht auszuschließen. Von einem Genozid kann gesprochen werden, wenn eine bestimmte Gruppe aufgrund ihrer Gruppenmitgliedschaft angegriffen wird, wie im Falle der Êzîd:innen. Allerdings geht dieser Genozid alle Kurd:innen an, da es die Êzîd:innen sind, die immer noch Urelemente der kurdischen Kultur und Sozialstruktur lebendig gehalten haben.

Das internationale Schweigen ist ein weiterer Grund, warum die Türkei freies Feld hat für diese Art von Angriffen. Es ist daher Heuchelei, wenn Staaten und staatliche Institutionen auf die Mitleidsschiene setzen. Die Êzîd:innen brauchen kein Mitleid, sondern die Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 durch die UN. Darin geht es um die Rechte, die jedem einzelnen Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion oder politischer Überzeugung zustehen, und es werden beispielsweise das Recht auf Leben, auf die Abwesenheit von Sklaverei und Folter und auf Religionsfreiheit festgeschrieben. Ebenso werden für alle Menschen Gleichheit vor dem Gesetz und Versammlungsfreiheit gefordert.

Die Patriotische Union Kurdistans (YNK), die in diesem Jahr vor der Spaltung stand, konnte durch Interventionen von Stammesführern und bekannten Persönlichkeiten und den Beistand mancher PKK-Politiker:innen einer Krise gewissermaßen ausweichen. Seit Beginn des Jahres haben die PDK und die Türkei alles darangesetzt, die beiden Talabanî-Cousins gegeneinander aufzuhetzen. Beide führten die YNK als Ko-Vorsitzende. Eine Schwächung der Partei würde sowohl der Türkei den Weg bis an die Grenzen des Irans ebnen, als auch der PDK helfen, ihre Macht zu erweitern. Ein paar Tage vor den Wahlen hatte der Ko-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayık, die Kurd:innen aufgerufen, für die YNK zu stimmen. Dies war ein ungewöhnlicher Schritt, da sich die KCK selten in südkurdische Angelegenheiten einmischt. Dieser Aufruf hat der YNK eine Menge Stimmen gebracht. Es ist leider eine Tatsache, dass Spaltungen in den politischen Parteien in Südkurdistan nicht ohne die Einmischung externer Kräfte zustande kommen. Bei der YNK sind vor allem die Türkei und die PDK am Werk. Der Türkei war es gelungen, die PDK zu einem strategischen Partner aufzubauen und in einen Konflikt mit der PKK zu treiben; mit der YNK hatte sie in der Hinsicht bislang keinen Erfolg. Zum Bespiel über gezielte Angriffe auf Kurd:innen aus dem Norden (dem türkisch besetzten Teil), wie zuletzt die Ermordung von Şükrü Serhat (Yasin Bulut) im YNK-Zentrum Silêmanî am 17. September 2021 durch türkische Todesschwadronen, versucht sie das zu erreichen. Şükrü Serhat hatte wegen seiner Aktivitäten für die PKK lange Jahre in der Türkei im Gefängnis gesessen und ging nach seiner Freilassung nach Südkurdistan. In Silêmanî hielt er sich zur medizinischen Behandlung auf.

USA eilen Erdoğan zu Hilfe

Am 14. April hatte die US-Botschaft in Ankara über Twitter an die 2018 ausgelobten Kopfgeldprämien für die führenden PKKler wie Cemil Bayık, Murat Karayılan und Duran Kalkan erinnert. Für die PKK war diese Botschaft klar und deutlich: Auch Biden wird im Zusammenhang mit der PKK keine politische Lösung anstreben. Die Alarmglocken schrillten laut in Kurdistan. Dieser Schritt signalisierte einen Deal zwischen den USA und dem Erdoğan-Regime. Erneut war ein antikurdischer Kompromiss mit Gewalt zu erwarten. Tatsächlich folgte dieser dann zehn Tage später.

In der Türkei wurde dies mit Jubel aufgegriffen. Politisch war es ein bekanntes Spiel: Die neue Biden-Regierung wollte zeigen, dass sie auf der Seite der Türkei stehen. Es ging aber auch darum, die Türkei vor einem Schritt, der Biden in die Geschichtsbücher schreiben würde, etwas weichzukochen. Am 24. April, zehn Tage, nachdem die US-Botschaft an die Kopfgeldprämien erinnert hatte, erklärte der neue US-Präsident, dass er den Genozid an den Armenier:innen anerkenne. Der 24. April 1915 gilt als Beginn des Genozids, dem etwa 1,5 Millionen Armenier:innen zum Opfer fielen. Erstaunlich war die Reaktion Erdoğans: Statt wie üblich mit seinem Finger auf den US-Präsidenten zu zeigen und ihn zu beschimpfen, blieb er trotz der Tatsache, dass es deshalb jedes Jahr am 24. April zu einer Krise zwischen der Türkei und den USA kam, seltsam ruhig. Die plausible Erklärung war, dass im Telefonat zwischen Biden und Erdoğan einen Tag zuvor ein Tauschgeschäft vereinbart worden war. Erdoğan bekam grünes Licht für seine geplante Großoffensive gegen die PKK, Biden würde nach der Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen keine schärferen Töne in dieser Sache anschlagen. Für die Armenier:innen war dieser Schritt sehr wichtig. Für die Kurd:innen hingegen war es ein erschreckendes Signal, denn zu genau wissen sie über den Genozid am Nachbarvolk Bescheid. Die Militäroffensive am Jahrestag dieses Genozids zu beginnen, brauchte keine weitere Erklärung. Erdoğan brauchte unbedingt einen Sieg, um politisch zu überleben – sein Sieg sollte seine größten Herausforderer treffen, die Kurd:innen und ihre führende Kraft, die PKK. Denn es ist die PKK, die für ganz Kurdistan Schutzmacht ist, wie zuletzt gegen den IS 2014. Es ist auch die PKK, die Erdoğan bei der Expansion für seinen Traum einer Großtürkei auf dem Territorium des ehemaligen Osmanischen Reiches in Nordsyrien und im Nord­irak im Wege steht. Beides sind kurdische Gebiete. Ohne eine Schwächung der PKK sieht es ganz düster aus für die Zukunft von Erdoğan und seinem Partner, dem Vorsitzenden der MHP, Devlet Bahçeli.

Es mag für Außenstehende übertrieben klingen, aber eine Niederlage der Guerilla hätte den Weg für Erdoğans Ziel bereitet, zum einen die Kurd:innen mundtot zu machen und andererseits Südkurdistan zu besetzen. Dass die Politik jeglicher ethischen Grundlage entbehrt, zeigt das genannte Beispiel. Der Genozid an den Armenier:innen ist eine offene Wunde des vergangenen Jahrhunderts und nicht nur ein Trauma für sie, sondern für alle Völker der Region.

Am Krieg gegen die PKK sind seit ihrer Gründung am 27. November 1978 mehrere türkische Regierungen gescheitert. Seit dem Beginn des bewaffneten Widerstands erhält die Türkei große Rückendeckung durch die NATO und von Anbeginn an durch den deutschen Staat. Seit der Verfolgung der PKK mit dem Düsseldorfer Prozess 1989 ist jede Regierung in Deutschland systematisch Teil des Versuchs, die PKK zu schwächen. Daher ist in kurdischen Zirkeln gar nicht von deutschen Regierungen die Rede, sondern vom deutschen Staat. Denn tatsächlich, ob konservative, liberale oder sozialdemokratische Regierung, die Verschärfung des PKK-Verbots von 1993 ist immer weiter ausgedehnt und vertieft worden. Ob es der neuen Ampelregierung gelingen wird, den PKK-feindlichen Kern im deutschen Staat zu einer Aufhebung des PKK-Verbots zu bewegen, bleibt abzuwarten. Sicher wird es diese Regierung nicht leicht haben, die politisch zum Himmel stinkenden Folgen des AKP-MHP-Regimes zu verteidigen, geschweige denn zu decken.

Auch diese Schlacht hat Erdoğan verloren

Seit dem 24. April greift die Türkei mit Drohnen, Kampfflugzeugen, C-Waffen permanent und flächendeckend die Guerillagebiete Zap, Avaşîn und Metîna im Grenzdreieck Türkei/Irak/Iran in den kurdischen Regionen auf irakischem Territorium an. Was sie nicht wusste: Die HPG-YJA-Star-Guerilla hat in den letzten Jahren ihre Verteidigungstaktiken und -strategien radikal modernisiert. Die türkische Armee ist nunmehr mit einer Verteidigungskraft konfrontiert, die der Türkei unbekannte Methoden des Widerstandskampfes anwendet. Auch die Mobilitätstaktik wurde grundsätzlich geändert. Zudem kämpft sie in weit verzweigt angelegten Tunnelanlagen. Weder die SIHA-/IHA-Drohnen, mit denen Erdoğan vor der Weltöffentlichkeit protzt, noch die C-Waffen konnten den Kampfeswillen der Guerilla brechen. Wie immer seit 1984, dem Beginn des bewaffneten Widerstands gegen die türkische Armee, schweigt die NATO zum C-Waffen-Einsatz ihres Partners. Denn es sind ja die »bösen Kurden« der PKK, die sich der Türkei und damit der NATO nicht beugen.

Krieg gegen Kurd:innen an allen Fronten führt zum Ende der Ära Erdoğan

Das AKP-MHP-Regime unter Erdoğan und Bahçeli neigt sich seinem Ende zu. Hätten sie die Offensive in Gare im Februar und die vom 24. April, die immer noch andauert, gewonnen, hätten sie ihre politische Zukunft gerettet.

Gegen Rojava wurde nicht nur militärisch Krieg geführt, sondern auch wirtschaftlich. Die stärkste Waffe, die die Türkei gegen Nord- und Ostsyrien einsetzte, war das Wasser. Zu Jahresbeginn wurde über die auf türkischer (nordkurdischer) Seite liegenden Staudämme die Durchflussmenge des Euphrat reduziert, was in Rojava zu erheblichem Wassermangel führte. Die Agrarwirtschaft wurde stark beeinträchtigt; die aus Wasser­energie gespeiste Stromproduktion musste gedrosselt werden. Nicht nur die Kurd:innen, sondern alle Volksgruppen, die sich in der Autonomie zusammengeschlossen haben, sollten gegen die Autonomieverwaltung aufgehetzt werden, die den Strom- und Wassermangel nicht sofort beheben konnte.

Zuletzt hatte Erdoğan Anfang Oktober mit einer neuen breit angelegten Militäroffensive gegen Nord- und Ostsyrien gedroht. Im Krieg gegen die HPG und YJA Star in Südkurdistan hatte er den erhofften Sieg nicht erreicht. Mit einer neuen Front gegen die Kurd:innen wollte er die nationalistischen Stimmen in der Türkei für sich gewinnen, die ihm inzwischen sehr kritisch gegenüberstehen. Solch ein Krieg sollte die Menschen in der Türkei von der Wirtschafts- und politischen Krise ablenken. Zudem sollte dadurch die wachsende Kritik an seiner Führung zum Schweigen gebracht werden. Seine Drohungen wurden aggressiver, vor allem vor dem G20-Gipfel in Rom am 30./31. Oktober. Zuvor hatte er mehrmals bei Biden regelrecht um ein Gespräch gebettelt. Unterstützt von seinen Medien hatte er bereits einen virtuellen Krieg begonnen. Dies alles sollte dazu dienen, von Biden grünes Licht dafür zu bekommen. Die Erwartung erfüllte sich bislang nicht, da er die US-amerikanischen Rechnungen nicht einkalkuliert hatte. Das Einverständnis für einen Krieg Erdoğans gegen die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien würde die eigene Position der USA im Mittleren Osten schwächen. Nach der Niederlage in Afghanistan und dem andauernden Konflikt mit dem Iran im Irak können sie sich einen solchen Krieg nicht leisten. Biden hatte im Gespräch mit Erdoğan in Rom seinen Segen nicht gegeben. Zudem sind die USA bemüht, auf dem Umweg über arabische Staaten mit dem syrischen Präsidenten al-Assad in den Dialog zu treten. Nicht zufällig fand daher ein hochrangiger Besuch aus den arabischen Staaten in Damaskus statt. Zuletzt hatte Jordanien, ein enger Partner der USA, eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime vereinbart. Es sieht so aus, dass die USA im kommenden Jahr schrittweise den syrischen Konflikt mit der Akzeptanz al-Assads auf den diplomatischen Tisch bringen will. Hier wird die politische Haltung der Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien entscheidend sein. Denn de facto ist seit der stillen Revolution vom 19. Juli 2012 in Rojava ein neues demokratisches Gebiet im Norden und Osten Syriens bis nach Deir ez-Zor gebildet worden.

Parallel zu den USA hatte es die Türkei mit Russland versucht. Allerdings auch ohne Erfolg. Für die Unterstützung Russlands für einen Krieg hatte Erdoğan mit dem Verkauf türkischer SIHA-Drohnen an putinkritische Kräfte in der Ukraine gedroht. In diesem Doppelspiel hat Russland wiederum, das für seine Präsenz in Syrien von dessen Regime abhängig ist, mit dem geplanten türkischen Krieg als Drohung gegen die Kurd:innen argumentiert, um das Regime an seiner Seite zu halten. Die Kurd:innen sollten die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft zu 75 % an das Regime abführen und lediglich die restlichen 25 % behalten können. Das Problem ist nicht nur diese ungerechte Forderung, sondern vor allem diejenige, dass die Kurd:innen wie auch die anderen an der Autonomieverwaltung beteiligten Volksgruppen bis auf das Recht auf Muttersprache keine demokratischen Rechte beanspruchen sollen. Es war ihnen bewusst, dass Russland sie nicht unter Druck setzen kann, da in den Gebieten, die Erdoğan als Kriegsziele ankündigte, auch der Iran präsent ist. Es waren Regionen, die wie Tel Rifat nach Aleppo führen. Hier agiert zumeist das syrische Regime zusammen mit dem Iran.

Erdoğans Kriegsplanung ist bislang nicht realisiert worden, was nicht heißt, dass es nicht passieren wird. Er wartet auf eine Gelegenheit. Denn er ist auf einen Krieg gegen die Kurd:innen angewiesen.

Kurdische Erfolge ermutigen die türkische Opposition

In innenpolitischer Hinsicht haben Erdoğans Niederlagen auch sein Ende vorbereitet und die Erfolge der Kurd:innen die Opposition gestärkt. Daraufhin versagte die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) am 26. Oktober im Parlament dem Gesetzentwurf für die Verlängerung des Militäreinsatzes in Syrien und im Irak ihre Unterstützung. Dennoch erneuerte das Parlament die Genehmigung für den Militäreinsatz. Dieses Gesetz erteilt dem türkischen Staat die Befugnis zur Verlegung türkischer Truppen auf fremdes Territorium.
Die Haltung der CHP beruhte durchaus nicht auf Demokratie- oder Menschenrechtserwägungen. Bislang hatte sie allen solchen Anträgen zugestimmt. Allerdings sah sie jetzt ein, dass trotz der parlamentarischen Befugnis das Erdoğan-Regime keine Resultate erzielt, sondern im Gegenteil das Land politisch, militärisch und wirtschaftlich in eine Sackgasse manövriert hat. Für den großtürkischen Traum hat Erdoğan auch die türkische Wirtschaft geopfert. Anstelle der Exportzahlen sind die des Imports gestiegen. Die agrarwirtschaftliche Produktion stagniert. Die Privatisierung staatlicher Betriebe hat die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben. Die steigende Inflationsrate ist außer Kontrolle geraten. Auch wenn in diesem Jahr die Minister für Wirtschaft und Handel ausgetauscht wurden, konnte das Erdoğan-Regime den Wert der türkischen Lira nicht halten; er ist im Jahre 2021 immer weiter gefallen, wogegen der des US-Dollars und des Euros ständig gestiegen ist. Infolgedessen haben sich Produkte wie Benzin, Öl, und vor allem Lebensmittel etc. extrem verteuert, und die Menschen in der Türkei protestieren auf der Straße.

Die CHP sieht die Gunst der Stunde, die der kurdische Widerstandskampf ermöglicht hat, und bereitet sich auf eine Ära nach Erdoğan vor. Hierbei braucht sie auch die Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die wie bei den Parlamentswahlen 2018 und den Kommunalwahlen 2019 die Königsmacherin war. Erdoğan ist es nicht gelungen, durch den Verbotsantrag gegen diese Partei und zahlreiche Anträge auf Immunitätsaufhebung gegen HDP-Abgeordnete den kurdischen Kampf für Demokratie zu schwächen. Obwohl kurdische Politiker:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen, Frauenrechtlerinnen zu Tausenden in den Gefängnissen sitzen, war es nicht möglich, die Kurd:innen von ihrem Kampf abzubringen. Gegen kurdische Frauen führt Erdoğan einen gesonderten Krieg. Sämtliche Einrichtungen kurdischer Frauen wurden geschlossen. Jüngst hat dieser Krieg mit der Festnahme der bekannten langjährigen Aktivistin Ayşe Gökhan seinen Höhepunkt erreicht.

Aber Erdoğan geht nicht nur gegen kurdische Frauen vor, sondern betreibt allgemein eine frauenfeindliche Politik. Dies hat er der Welt mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention gezeigt, die die Frauen vor Gewalt schützen soll. Im Juli wurde dieses Abkommen aufgekündigt. Denn Erdoğans Ideologie beruht auf der Männerherrschaft. Auch hier konnte der Europarat, der sich für dieses Abkommen verantwortlich zeichnet, seiner Verpflichtung nicht nachkommen. Er hätte die Türkei ausschließen können. Erdoğan hat die Gewaltspirale gegen Frauen seitdem erheblich angezogen.

Die Isolationshaft gegen Öcalan – eine dauerhafte Wunde der Kurd:innen

Erdoğan hat seine Gewaltpraktiken auch auf İmralı gegen Abdullah Öcalan verstärkt fortgesetzt. Als ob die rechtswidrige Isolationspolitik nicht ausreichen würde, wurden gegen ihn mehrere Disziplinarstrafen verhängt. Einmal wegen »schneller Schritte« bei der sportlichen Betätigung während des Hofgangs. Deshalb bekam er ein Familienbesuchsverbot für drei Monate, für andere nicht bekannte irrsinnige Dinge jeweils sechsmonatige Besuchsverbote für die Anwält:innen.

Obwohl das Antifolterkomitee CPT und auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Isolationshaftbedingungen von Abdullah Öcalan, Ömer Hayri Konar, Veysi Aktaş und Hamili Yıldırım auf der Gefängnisinsel İmralı für inakzeptabel erklärt hatten, mimte das Erdoğan-Regime die drei Affen (»nichts sehen, nichts hören, nichts sagen«) und ignorierte wie üblich die Aufrufe.

Allerdings haben auch die genannten Organisationen keine weiteren Maßnahmen im Rahmen ihrer Verantwortung ergriffen, um das türkische Regime als Mitglied des Europarates zur Rechenschaft zu ziehen. Daher blieb İmralı ein Ort, an dem systematisch das Recht verletzt wird. Die Kurd:innen reden seit langem von İmrali als der Stätte eines Willkürsystems.

Um den Europarat zu seiner Pflicht zu rufen, erinnerten mehrere Menschenrechts- und juristische Organisationen in der Türkei im Juli den Ministerrat an den Beschluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) von 2014. Dieser Beschluss liegt seitdem in den Schubladen des Ministerrates. Am 18. März 2014 hatte der EGMR geurteilt, dass die Türkei mit der Verhängung einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe gegen Abdullah Öcalan gegen das Verbot einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und damit gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen habe. Mitgliedsstaaten wie die Türkei sind verpflichtet, EGMR-Entscheidungen umzusetzen, andernfalls kann das Land ausgeschlossen werden. Auf der Sitzung des als Entscheidungsorgan des Europarats geltenden Ministerkomitees vom 2. Dezember wurde die Türkei aufgefordert, »unverzüglich die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um den derzeitigen Rechtsrahmen in Einklang mit den vom EGMR festgelegten Standards zu bringen«, und des Weiteren »Besorgnis« darüber geäußert, dass die türkischen Behörden bislang »keine sachdienlichen Informationen über die Maßnahmen vorgelegt haben, die zur Behebung der in diesen Urteilen festgestellten Verstöße vorgesehen sind«.

Ferner verlangt das Ministerkomitee von der Türkei Auskunft über die Zahl der derzeit inhaftierten Gefangenen, die mit einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung belegt worden sind.

Bis spätestens Ende September 2022 sollen Auskünfte und Informationen über erzielte Fortschritte im Rahmen der geforderten Maßnahmen vorgelegt sein. Auf der letzten Quartalssitzung im kommenden Jahr will das Komitee dann prüfen, ob sich die Führung in Ankara an die Vorgaben gehalten hat.

Diese Entwicklung zum Jahresende hat natürlich eine positive Resonanz, da nach 22 Jahren Isolationsfolter auf İmralı weder der Wille der Kurd:innen noch der Öcalans zu brechen sind. Die Einsicht des politischen Entscheidungsorgans, endlich zu akzeptieren, dass keine Folter der Welt den Willen Öcalans brechen kann, ist ein Fortschritt. Auch im Jahre 2021 haben die Kurd:innen und Freund:innen des kurdischen Volkes ununterbrochen in Straßburg vor dem Sitz des Europarates, des CPT und des EGMR sowie in ganz Europa, Asien, dem Mittleren Osten, Lateinamerika, Afrika für die Freiheit Öcalans demonstriert.

In das Jahr 2022 gehen wir Kurd:innen mit etlichen Erfolgen. Es ist uns gelungen, überall da, wo wir uns befinden, gegen den Strom unsere Alternative des Demokratischen Konföderalismus als eine Lösung gegen Systeme zu entwickeln, die auf Herrschaft, Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus und Ökozid beruhen. Der Krieg des türkischen Staates 2021 gegen die Kurd:innen, der von vielen externen Mächten geduldet, toleriert, gefördert, unterstützt und provoziert wurde, hat uns nicht von unserem Freiheitswillen abbringen können. UN, NATO, EU, ER, OPCW ..., sie alle haben in unterschiedlicher Form auch 2021 bei den Verbrechen des türkischen Staates die drei Affen gespielt. Daher sind sie mitverantwortlich dafür, dass unter Erdoğan eine Türkei entstanden ist, die selbst für sie zu einem Problem geworden ist, weil ihre ausbleibende Reaktion auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen in Kurdistan ihre Existenz und Glaubwürdigkeit infrage stellt. Zumindest hat der Europarat, um sein Gesicht zu wahren, endlich eingesehen, dass Öcalan 22 Jahre lang durch Folter nicht zu brechen war. Es bleibt, dass die OPCW den Einsatz von C-Waffen unter die Lupe nehmen muss, um wenigstens ihr Gesicht zu wahren.

Mit Erdoğan wird die Türkei 2022 keine Chance haben. Das Jahr 2021 hat erneut bewiesen, dass die kurdische Freiheitsbewegung weder mit militärischer noch mit struktureller Gewalt unterzukriegen ist. Daher werden 2022 die Kampagnen zur Entlistung der PKK als führende Kraft des kurdischen Freiheitskampfes »von den Terrorlisten« und für die Freiheit Abdullah Öcalans entscheidende Schritte zur Lösung des türkischen Problems, nämlich Erdoğans Diktatur, werden. Dafür haben die Kurd:innen eine historische Grundlage gelegt, auf der inzwischen auch türkische progressive Kräfte eine Rolle spielen können. Aber auch international spielt die Schwächung der Erdoğan-Diktatur eine große Rolle für alle Völker im Mittleren Osten und in Nordafrika, wo er nicht nur politische und militärische, sondern über die Muslimbrüder-Ideologie gesellschaftliche Balancen stört und vor allem einen Krieg zwischen Männern und Frauen anzettelt. Denn diese Ideologie basiert auf Frauenfeindlichkeit und Verherrlichung des Mannes.

Für all die erwähnten Erfolge haben wir Kurd:innen auch 2021 großartige Revolutionär:innen, führende Herzen und Köpfe unseres Volkes im Krieg des türkischen Faschismus verloren. Das Jahr 2022 wird daher ein Jahr, in dem wir die Freiheitsträume dieser großartigen Menschen realisieren werden.


 Kurdistan Report 219 | Januar/Februar 2022