Gefängnisse in der Türkei

Hinterlassenschaft der Pandemie

Verein der Jurist:innen für die Freiheit, Ortsverband Istanbul, Gefängniskommission

»Aber gibt es einen Weg, Menschen vom Leben abzuhalten?

Das Gefängnis mit seinen klagenden Steinen, Zement und Stahltüren zeigt, dass dies möglich ist.«1

Einige der Orte, an denen man die Eingriffe in die Grundrechte und Freiheiten in der Türkei am stärksten spürt, sind die Gefängnisse. Wie das Verfassungsgericht auf den Antrag von Ahmet Temiz feststellte2, stehen Gefangenen im Allgemeinen alle in der türkischen Verfassung und der Konvention garantierten Grundrechte und -freiheiten zu, mit Ausnahme des Rechts auf persönliche Freiheit und Sicherheit (Artikel 19). Gemäß Artikel 19 darf die Freiheit einer Person entzogen werden, um eine durch Gerichtsentscheidung verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken. Dieser Grundsatz findet sich in der Praxis jedoch nicht wieder. Während der Pandemie wurden die Befugnisse der Gefängnisleitungen weiter ausgebaut, während die Grundrechte und Freiheiten der Gefangenen ernsthaft eingeschränkt wurden; dadurch kam es zu noch mehr systematischer Gewalt und zu schwerwiegenden Rechtsverletzungen. Die gegen die Gefangenen angewandte Politik der Vereinzelung und Isolation, die Ausübung psychischer Gewalt und die Unterdrückung haben einige Gefangene in den Selbstmord getrieben. Schwer Erkrankte wurden durch die Verweigerung der medizinischen Behandlung dem Tod überlassen. Sieben Gefangene sind allein im Dezember in den Gefängnissen verstorben, das macht die unmenschlichen Bedingungen der Haft nur allzu deutlich.

Recht auf Gesundheit

Eine der häufigsten Rechtsverletzungen in den Gefängnissen während der Pandemie war die Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Behandlung und damit die Verletzung des Rechts auf Gesundheit (Artikel 60 der türkischen Verfassung). Auch vor der Pandemie gab es schon viele Probleme mit dem Zugang zu ärztlicher Versorgung, Therapien und dem Anspruch auf gesundheitliche Versorgung. Mit den während der Pandemie ergriffenen Maßnahmen wurde der Zugang zur Gesundheitsfürsorge jedoch fast vollständig blockiert. Es gibt Tausende von kranken Gefangenen in den Gefängnissen, Hunderte von ihnen sind schwer erkrankt. Schon vor der Pandemie erfolgte die Verlegung von Gefangenen mit gesundheitlichen Problemen auf die Krankenstation oder ins Krankenhaus erst sehr spät. Mit Beginn der Pandemie wurde jedoch die Verlegung auf Krankenstationen oder in Krankenhäuser für lange Zeit fast vollständig ausgesetzt. Nur in schweren Notfällen erfolgte noch eine Verlegung. Vielen Gefangenen wurde seitdem der Zugang zu medizinisch erforderlichen Behandlungen verwehrt. Während dieser Zeit konnten regelmäßig notwendige Untersuchungen und Behandlungen von Häftlingen nicht durchgeführt werden. Dadurch verschlimmerten sich die Krankheiten der Gefangenen. Obwohl später die Überweisungen an Krankenstationen und Krankenhäuser wieder aufgenommen wurden, verzögern sich die Verlegungen immer noch. Dazu kommt, dass selbst bei einer Einweisung ins Krankenhaus gegen die Gefangenen immer noch menschenunwürdige Praktiken wie vollständiges Entkleiden bei Leibesvisitationen, doppelte Handschellen3, Einzeltransporte, Untersuchungen mit gefesselten Händen und gynäkologische Untersuchungen in Anwesenheit männlicher Soldaten angewendet werden. Diese Praktiken führen dazu, dass Gefangene gar nicht erst ins Krankenhaus gehen können, oder dass notwendige Untersuchungen und Behandlungen möglichst vermieden werden.

Ein weiteres Hindernis, mit dem Gefangene in Bezug auf den Zugang zu ärztlicher Behandlung und das Recht auf Gesundheit konfrontiert sind, ist die seit fast zwei Jahren im Rahmen von Pandemiemaßnahmen angewendete, 14-tägige Quarantänepraxis gegen Gefangene nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus. Aufgrund der herrschenden Quarantänebedingungen wollen Gefangene gar nicht erst ins Krankenhaus gehen. Denn diejenigen, die sowieso bereits krank sind oder nicht allein bleiben können, müssen nach einem Aufenthalt im Krankenhaus unter sehr schlechten Bedingungen in abgesonderten Quarantänezellen leben. Während in einigen Gefängnissen 20–30 Personen in derselben Quarantänestation untergebracht werden, wodurch sich die 14-tägige Quarantänezeit auf 70–75 Tage verlängern kann, werden in anderen Gefängnissen Gefangene, die nicht einmal ihre Grundbedürfnisse allein befriedigen können, vollkommen isoliert untergebracht. Während der Quarantäne haben die Gefangenen nur sehr wenig oder gar keinen Hofgang. Sie werden schlecht und nur spärlich mit Essen versorgt. Fernsehen, Radio, Bücher, andere Beschäftigung oder Zugang zu Informationen werden ihnen verwehrt. Diese Situation führt dazu, dass Gefangene von vornherein nicht ins Krankenhaus gehen wollen und dass diejenigen, die einer regelmäßigen Behandlung bedürfen, nicht entsprechend behandelt werden können.

Der Staat ist jedoch dafür verantwortlich, die Grundbedürfnisse der Gefangenen wie Ernährung, Pflege und den Zugang zu medizinischer Versorgung zu decken: Ein Sozialstaat hat die Verpflichtung, für seine Gefangenen im Strafvollzug die »Gesundheitsversorgung in gleicher, qualifizierter und für alle zugänglicher Weise« zu organisieren. Die Gesundheitsversorgung im Strafvollzug ist integriert in das allgemeine, öffentliche Gesundheitssystem. Gefangene sollten die Möglichkeit haben, die medizinische Versorgung des Landes in Anspruch zu nehmen, ohne aufgrund ihres rechtlichen Status diskriminiert zu werden, und sie sollten gleichberechtigten Zugang zu allen medizinischen, chirurgischen und psychiatrischen Einrichtungen erhalten, die im allgemeinen Gesundheitssystem zur Verfügung stehen. Die Staaten sind verpflichtet, den Inhaftierten jederzeit und unverzüglich medizinische Versorgung sowie neben therapeutischen Behandlungen auch präventive Gesundheitsdienste zur Verfügung zu stellen, um das Wohlergehen der Gefangenen zu gewährleisten. Eine Pandemie setzt weder diese Verpflichtung des Staates außer Kraft, noch hebt sie die Grundrechte der Gefangenen auf. Denn es gibt eine Kontinuität der Rechte von Menschen, die sich in Haft- und Strafanstalten befinden, und diese Menschen ihrer Grundrechte zu berauben, würde eine sekundäre Bestrafung bedeuten.

Kranke Gefangene

Ein weiteres großes Problem in Bezug auf den Zugang zu medizinischer Behandlung und das Recht auf Gesundheit ist die Ablehnung von Anträgen kranker Gefangener auf Aussetzung des Vollzugs. Schwerkranke Häftlinge, denen von den medizinischen Einrichtungen attestiert wird, dass »ein Haftaufenthalt nicht möglich ist«, werden vom Institut für Rechtsmedizin (ATK) als »haftfähig« deklariert. Dieser Umstand wirft die Frage auf, ob das ATK politische anstatt wissenschaftlich-medizinische Entscheidungen trifft. Beispielsweise bestätigt das ATK insbesondere bei politischen Gefangenen immer wieder die Haftfähigkeit. Und selbst wenn das ATK in einigen seltenen Fällen die »Haftunfähigkeit« attestiert, stellt dann die Anti-Terror-Abteilung der Polizei fest, dass dieser Mensch »eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt«, weshalb die Person dennoch in Haft bleibt und damit dem Tod überlassen wird.

Abgesehen von dem Recht auf Zugang zu medizinischer Behandlung und Gesundheit in Gefängnissen finden die meisten Rechtsverletzungen im Rahmen des Folterverbots statt. Folter und Misshandlung sind sowohl im nationalen als auch im internationalen Recht ausdrücklich verboten. Mit anderen Worten, niemand darf unter keinen Umständen gefoltert werden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bewertet die Anträge bezüglich nackter Leibesvisitationen in Gefängnissen im Kontext von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention: »Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden«. Trotzdem wurde festgestellt, dass nackte Leibesvisitationen und Durchsuchungen von Körperöffnungen in Gefängnissen zwar rechtswidrige, aber immer noch sehr verbreitete Praktiken sind.

Auch haben der psychische Druck und die körperliche Gewalt in den Gefängnissen erheblich zugenommen. Es herrscht eine Politik der Straffreiheit, rechtliche Schritte gegen Gefängnisverwaltungen und Wärter werden nur in den seltensten Fällen eingeleitet und sollte doch einmal ein Verfahren eingeleitet werden, so findet dennoch keine Strafverfolgung statt. Diese Versäumnisse führen dazu, dass solche Praktiken noch mehr zunehmen.

Folter und andere Menschenrechtsverletzungen verhindern

Auch im Hinblick auf die von den Staaten ratifizierten Abkommen müssen die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um Folter in Gefängnissen zu bekämpfen. Für die Staaten besteht die aktive Verpflichtung, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Wenn es zu einer Rechtsverletzung kommt, gehört es auch zur aktiven Verpflichtung der Staaten, diesen Sachverhalt effektiv und umfassend aufzuklären, die Verantwortlichen anzuklagen und mit Sanktionen zu belegen. Nackte Leibesvisitationen und die Durchsuchung von Körperöffnungen sind erniedrigend, Folter und damit eine Menschenrechtsverletzung und ein Verbrechen. Auch nach Artikel 94 des 5237. türkischen Strafgesetzes (TCK) handelt es sich um eine Straftat.

Einschränkung der Besuchszeiten

Ein weiteres Problem in den Gefängnissen ist die Aussetzung offener und geschlossener Besuchszeiten während der Pandemie. Zu Beginn der Pandemie wurden alle Besuchstermine gestrichen. Die Gefangenen konnten lange Zeit weder offen noch geschlossen Besuch empfangen. Während dieser Zeit wurden den Telefonzeiten der Häftlinge, die bis dahin 10 Minuten pro Woche betrugen, weitere 10 Minuten hinzugefügt. Anstatt 40 Minuten Besuchszeit nur ein zusätzliches 10-minütiges Telefonrecht zu gewähren und dieses Telefonrecht nur auf die Personen zu beschränken, deren Telefonnummer angegeben ist, und nicht auf diejenigen, die auch als Besucher hätten kommen können, verletzt das Recht der Gefangenen auf Achtung ihres Familien- und Privatlebens. Im Laufe der Zeit wurden geschlossene Besuche einmal im Monat gestattet, dann zweimal, waren aber auf jeweils nur zwei Personen beschränkt.

Obwohl die offenen Besuche ab dem 01.12.2021 wieder begonnen haben, sind diese nun auf 30 Minuten und zwei Erwachsene, ein Kind begrenzt. Für Besucher ist eine Impfung oder alternativ ein PCR-Test vorgeschrieben. Mit dem Einsetzen der eingeschränkten Besuchszeit wurde die zu Beginn der Pandemie gewährte zusätzliche Telefonzeit wieder aufgehoben. Angehörige von Gefangenen, die in weit vom Wohnort ihrer Familie entfernt gelegenen Gefängnissen einsitzen, müssen für eine geschlossene oder 30-minütige offene Besuchszeit lange Reisen unter Pandemiebedingungen unternehmen, was wiederum die Gesundheit der Angehörigen gefährdet.

Isolation der Gefangenen

Aktivitäten in Gemeinschaftsbereichen sind von großer Bedeutung für die körperliche und geistige Gesundheit von Inhaftierten. Die Gefangenen brauchen diese Aktivitäten, um sich unter Haftbedingungen sozialisieren zu können und um während ihres Vollzuges nicht ohne soziale Kontakte zu bleiben. Insbesondere Gefangene in Hochsicherheitsgefängnissen sollten für ihre körperliche und seelische Gesundheit nicht über längere Zeit oder für unbestimmte Dauer sozialer Isolation ausgesetzt werden. Für Aktivitäten wie Sport und Gespräche können die Gefangenen normalerweise ihre Zellen, in denen sie sich sonst ständig aufhalten müssen, verlassen und die Möglichkeit finden, mit Menschen außerhalb ihrer Zellengenossen, mit denen sie rund um die Uhr zusammen sind, Kontakte zu knüpfen. Weil unter dem Vorwand der Pandemie in den Gefängnissen etwa zwei Jahre lang keine Gemeinschaftsaktivitäten zugelassen wurden, verstärkte sich die Isolation der Gefangenen enorm.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass eine vollständige soziale Isolation in Verbindung mit einer sensorischen Deprivation (der Entzug von sensorischen Reizen) die Persönlichkeit zerstört und eine Form unmenschlicher Behandlung darstellt, die weder aus Sicherheitsgründen noch aus anderen Gründen gerechtfertigt sein kann.4

Periodische und nicht periodische Veröffentlichungen sind eines der wichtigsten Kommunikationsmittel für Gefangene, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben und die aktuellen Entwicklungen verfolgen zu können, um nicht vollständig von der Gesellschaft abgekoppelt zu sein. Während sich die Inhaftierten dank der Bücher in vielen Bereichen verbessern und weiterbilden können, können sie dank der Zeitungen und Zeitschriften die Entwicklungen in Politik und Gesellschaft verfolgen. Das mildert die Auswirkungen der Isolation auf die Gefangenen etwas ab.

Verbot von Büchern und Zeitschriften

Aufgrund von Buchbeschränkungen und Verboten von Zeitschriften und Zeitungen in Gefängnissen können viele Gefangene jedoch nicht an der Informations- und Meinungsfreiheit und dem Recht auf Informationsgewinnung im Rahmen der Meinungsfreiheit teilhaben. In vielen Gefängnissen sind die Gefangenen gezwungen, die Medien, die sie lesen möchten, direkt zu bezahlen und sie bei Stellen zu kaufen, mit denen die Gefängnisverwaltungen entsprechende Verträge abgeschlossen haben. Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass den Gefangenen, die kein anderes Einkommen als das von ihren Familien investierte Geld haben und die in finanziellen Schwierigkeiten sind, der Zugang zu Veröffentlichungen erheblich erschwert wird. Während die Gefangenen bereits Schwierigkeiten haben, ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln und Hygieneartikeln sowie an Kommunikation über Briefe und Faxe zu decken, müssen sie zusätzlich ein Budget für die Bücher bereitstellen, die sie lesen möchten. Ein weiteres großes Problem besteht darin, dass die von den Gefangenen angeforderten Presseerzeugnisse gar nicht an den Stellen erhältlich sind, mit denen die Vollzugsverwaltung ihre Verträge abgeschlossen hat. Der Zugang der Gefangenen zu vielen Veröffentlichungen wird dadurch faktisch verhindert.

Bücher, Zeitungen und Zeitschriften werden von den Gefängnisverwaltungen oft willkürlich verboten. In den meisten Fällen liegt diesen Verboten keine behördliche Entscheidung zu Grunde. Die Verbote, insbesondere von oppositionellen Zeitungen und Zeitschriften, verletzen nicht nur die Informations- und Meinungsfreiheit der Gefangenen, sondern sind auch ein eindeutiger Hinweis auf die Zensur der oppositionellen Presse.

Briefe und Faxe sind für die Gefangenen unverzichtbare Mittel zur Wahrnehmung ihres Kommunikationsrechts, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben und um familiäre, freundschaftliche und soziale Beziehungen zu pflegen. Das in letzter Zeit zunehmende Zurückhalten und der Verlust von Briefen verletzen nicht nur das Recht der Gefangenen auf Achtung ihres Familien- und Privatlebens und ihr Recht auf Kommunikation, sondern verschärfen auch die Isolation. Briefe der Gefangenen an ihre Angehörigen werden ebenso wie eingehende Briefe ohne Angabe von Gründen einbehalten. In kurdischer Sprache verfasste Briefe werden weder versendet noch in den Gefängnissen an die Empfänger übermittelt. Dieser Umstand zeigt deutlich, dass die Diskriminierung der kurdischen Sprache in den Gefängnissen weiterhin anhält. Eine Diskriminierung aufgrund von Sprache ist jedoch sowohl im nationalen als auch im internationalen Recht ausdrücklich verboten, Artikel 122 des TCK Nr. 5237 sanktioniert »Diskriminierung aufgrund von Sprache, Herkunft, Nationalität ...« als Straftat.

Verzögerung der Entlassung nach Beendigung der Haftstrafe

Eine der wichtigsten Entwicklungen in den Gefängnissen während der Pandemie war die am 01.01.2021 in Kraft getretene »Verordnung über Beobachtungs- und Einstufungsstellen und die Begutachtung von Strafgefangenen«, mit der eine Reihe neuer Kriterien zur Feststellung guter Führung eingeführt wurden. Auf Grundlage einer solchen Beurteilung werden die Bedingungen für Bewährung und vorzeitige Entlassung von Häftlingen geprüft. Das wichtigste dieser Kriterien stellt die »Reue des Gefangenen für das Verbrechen, das er begangen hat« dar. Reue ist jedoch ein emotionaler Zustand, ein Gefühl, eine persönliche Empfindung, die sich auf das eigene Gewissen bezieht. Es ist nicht möglich, die Aufrichtigkeit der Äußerung von Reue einer Person zu messen. Ursprünglich galt bei Strafprozessen das Kriterium der Reue als ein möglicher Grund zur Strafmilderung. Es ist juristisch nicht nachvollziehbar, von einem verurteilten Menschen, der seine Freiheitsstrafe abgesessen hat, Reue zu verlangen. Mit der Beurteilung, ob der Gefangene während seiner Haft die Ordnungs- und Sicherheitsvorschriften der Justizvollzugsanstalten befolgt, seine Rechte verantwortungsvoll genutzt und seine Pflichten vollständig erfüllt hat, ob er bereit ist, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, ob das Risiko einer erneuten Straftat gering ist, ob er an Verbesserungs-, Bildungs- und Trainingsprogrammen, sportlichen und sozialen Aktivitäten, Kultur- und Kunstprogrammen teilgenommen hat, ob er Zertifikate erworben hat, ob während des Vollzugs Disziplinarstrafen gegen ihn verhängt wurden, mit der Einschätzung seiner Lesegewohnheiten, seiner Beziehungen zu anderen Gefangenen, den Vollzugsbeamten und der Außenwelt, stehen auch ohne das Kriterium der Reue genügend Anhaltspunkte für eine Entscheidung zur Verfügung.

Kurz gesagt, Gefangene werden einem willkürlichen Beurteilungssystem unterworfen. Im Sinne der Verordnung soll das Gremium Fragen stellen und die »gute Führung« eines Gefangenen anhand der Antworten auf diese Fragen bewerten. Es gibt jedoch keinen Mechanismus zur Festlegung und Kontrolle der Fragen, die den Gefangenen gestellt werden sollen. Daran sieht man, dass die Gefängnisverwaltungen durch eine rechtswidrige, weil völlig unbestimmte Regelung in eine Position versetzt wurden, die sogar die Entscheidungshoheit der Justizbehörden übersteigt. Sie können anhand willkürlicher Fragestellungen Entscheidungen treffen, die eigentlich von Justizbehörden getroffen werden sollten. Dadurch werden sie mit nahezu unbegrenzter Macht gegen Gefangene ausgestattet.

In den letzten Monaten erhielten mehrere Gefangene, die bereits einen Termin zur Entlassung auf Bewährung hatten, einen Bescheid über »schlechte Führung« und werden in der Folge weiterhin festgehalten aufgrund willkürlicher Entscheidungen der Gefängnisverwaltungen, die sich dabei auf diese Verordnung stützen.

In den Interviews werden den Gefangenen Fragen gestellt wie »Bereust du deine Taten?«, »Wer ist euer Anführer?«, »Siehst du Abdullah Öcalan als deinen Anführer?«, »Was bedeutet Sonne für dich?«. In den Entscheidungen des Verwaltungs- und Beobachtungsausschusses bezüglich »schlechter Führung« der Gefangenen werden Begründungen angeführt wie:

  • Die Gefangenen blieben bei den Durchsuchungen durch die Vollzugsbeamten nicht ruhig.

  • Sie widersprachen der nackten Leibesvisitation.

  • Sie skandierten Parolen gegen Rechtsverletzungen im Gefängnis.

  • Sie sparten weder Strom noch Wasser.

  • Sie lasen nur acht Bücher aus der Gefängnisbibliothek.

  • Sie machten in ihren Briefen Propaganda für ihre Organisation, weil sie im Gefängnis in einen Hungerstreik getreten seien.

All diese »Begründungen« zeigen, dass über die Gefängnisleitungen der Staat Gefangene, die ihm nicht gehorchen, noch einmal bestraft.

Ziel dieser Entwicklung ist es, die Menschen zu bedingungslosem Gehorsam, zur Unterwerfung zu zwingen und zu verhindern, dass sie gegen Ungerechtigkeiten ihre Stimme erheben und für ihre Rechte eintreten. In den Gefängnissen beginnend wird versucht, ein Role Model zu erschaffen, das sich in der gesamten Gesellschaft ausbreiten soll.

Isik Ergüden hebt in seinem Buch »Das Zeitalter der Gefängnisse«5 hervor, dass die »weggeschlossene Person« im Strafvollzug und in dessen Funktionsweise kein passives Ding ist. Die Gefangenen können und müssen ihre Zugehörigkeit zur Menschheit behaupten. Sie können sich selbst wieder neu etablieren, indem sie sich in einem Bereich, in dem die Regierung sie zu einem willenlosen Objekt zu machen versucht, vehement gegen Ungerechtigkeiten, Demütigung und Unterdrückung aller Art auflehnen.

In türkischen Gefängnissen sind die Gefangenen seit langer Zeit systematischen Grundrechtsverletzungen ausgesetzt. Man versucht, vergessen zu lassen, dass es sich auch bei Inhaftierten um Menschen handelt, um Subjekte, die eine Vielzahl von Rechten haben. Die Gefangenen verteidigen trotz alledem weiterhin ihre Identität, indem sie alle möglichen juristischen Auseinandersetzungen führen und jeden Tag an die Existenz ihrer Grundrechte erinnern.

Die Verletzungen der Grundrechte der Gefangenen müssen schnellstmöglich aufhören, die während der Pandemie erlassenen rechtswidrigen Vollzugsregelungen müssen unverzüglich abgeschafft werden. Diese Forderungen ergeben sich sowohl aus nationalen und internationalen Rechtsnormen als auch aus dem Menschsein an sich.

Fußnoten:

1 - SERGE, Victor, »Men in Prison«, auf Türkisch im Ayriniti Yayinlar Verlag, 2015, Übersetzt von Gülen Aktas, S. 86

2 - Urteil Nr. 2013/1822 des Verfassungsgerichts vom 20.05.2015

3 - Bei dieser Praxis wird der Gefangene zusätzlich zu den Handschellen mit einer weiteren Handschelle an die Hand eines Soldaten oder Polizisten gebunden.

4 - Urteil des EGMR vom 07.09.2011, Application No: 30042/08 in der Sache Csüllög ./. Ungarn

5 - ERGÜDEN, Işık, ›Hapishane çağı‹, Sel Yayıncılık, 2017 S. 123


 Kurdistan Report 220| März/April 2022