Die Geschichte von Garibe ist die Geschichte von Frauen, die an den Kampf glauben
»Wir fordern Rechenschaft für Garibes Tod«
Pero Dundar, HDP-Abgeordnete im türkischen Parlament
Die Geschichte von Garibe Gezer ist die Geschichte von Frauen, die daran glauben, dass es keinen anderen Weg als den Kampf gibt. Woher wir das wissen? Wir wissen es, weil Garibe Kurdin ist, weil sie eine Frau ist. Und wer noch dazu einen Kampf für die Freiheit führt, gerät ins Visier und wird zum zentralen Widerpart der frauen- und kurdenfeindlichen Männerherrschaft.
Garibe, auf Kurdisch Xeribe, bedeutet »die Fremde«. Aber ihr war weder die Unterdrückung ihres Volkes noch diejenige der Frauen fremd. Der Kampf für die Freiheit der Frauen in der Türkei und in Kurdistan hat einen hohen Preis. Wir kennen das alle aus unserem eigenen Leben. Wahrscheinlich können wir alle vieles zu den Gründen für unseren Kampf sagen. Der Grund jeder kämpfenden Frau lässt sich jedoch häufig in einem einzigen Wort zusammenfassen.
Da, wo unser Leben den tiefsten Einschnitt erfährt, geben wir unser Versprechen ab. Es vereinigt sich mit den Versprechen der anderen Frauen, sie werden zu einem reißenden Strom. Werden zu Widerstand, zum Kampf und können durch nichts aufgehalten werden.
Die Geschichte von Garibe Gezer ist die Geschichte von Frauen, die daran glauben, dass es keinen anderen Weg als den Kampf gibt. Wir wissen das, weil Garibe Kurdin ist, weil sie eine Frau ist. Und wer noch dazu einen Kampf für die Freiheit führt, der gerät ins Visier und wird zum zentralen Widerpart der frauen- und kurdenfeindlichen Männerherrschaft. Was ich meine: Wir können dies so eindeutig sagen, weil ihr Leben keines war, das uns fremd wäre. Garibes Lebensgeschichte hat der Gesellschaft wieder einmal die Tatsache vor Augen geführt, dass es eine tief sitzende Frauenfeindlichkeit, eine tief sitzende Feindseligkeit gegenüber Kurd:innen gibt. Es ist der 9. Dezember 2021, als die Nachricht von Garibes Tod öffentlich wird. Die Gefängnisverwaltung von Kandıra ruft Garibes Schwester an und teilt ihr mit, dass Garibe Selbstmord begangen habe. Garibe wird zur Autopsie gebracht, ohne auf die Ankunft der Anwält:innen zu warten. Denjenigen, die kamen, um den Leichnam abzuholen, sagen die staatlichen Ordnungskräfte wie beiläufig: »Nimm deine Leiche und verschwinde von hier.« Das erinnert uns an die Worte »Wie heißt du, Bruder?«, die dem Mörder galten, der unsere Genossin Deniz Poyraz im HDP-Gebäude der Provinz İzmir ermordete.
Alle, die diesen Artikel lesen, wissen mehr oder weniger, was Garibe durchgemacht hat. Aber ich möchte es hier noch einmal erwähnen, für den Fall, dass es doch welche gibt, die es »nicht wissen«.
Garibe wurde 1994 in Kerboran (tr. Dargeçit) geboren, bei Mêrdîn, einer der Städte des Widerstands. Hier geboren zu sein bedeutet, im Land des Widerstands und des Kampfes geboren zu sein. Und das hat einen sehr hohen Preis. Jede in dieser Gegend geborene Frau hat diesen Preis auf die eine oder andere Weise bezahlt. Auch Garibe.
Als ihr älterer Bruder Bilal Gezer während der Kobanê-Proteste vom 6. bis 8. Oktober 2014 von Unbekannten ermordet wurde, war Garibe erst 21 Jahre alt. Als ihr anderer Bruder, Mehmet Emin Gezer, sich zur Polizeibehörde des Bezirks Kerboran begab, um etwas über die Mörder seines Bruders Bilal zu erfahren, eröffneten Sondereinsatzpolizisten das Feuer, noch bevor er das Gebäude betreten konnte. Er wurde schwer verletzt und war fortan von der Hüfte abwärts gelähmt.
Garibe war 23 Jahre alt, als sie in den Vorstand der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) gewählt wurde. Am 3. März 2016 wurde sie festgenommen, als sie ihren Bruder besuchen wollte, der in Kütahya studierte. Ihr »Verbrechen« war es, DBP-Funktionärin zu sein, als 2015 in Kerboran Ausgangssperren verhängt wurden! Außerdem wurde ihr älterer Bruder Haşim Gezer zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Es gäbe darüber hinaus so viel zu erzählen. Das mindeste ist, ihre Taten und Worte weiterzugeben und die Identitäten derjenigen, die ihren Tod verschuldeten, aufzudecken.
»Andere sollen von meinen Erlebnissen erfahren«
Garibe wurde in das Kandıra-Gefängnis Nr. 1 Typ F verbannt, nachdem sie schon in mehreren anderen Gefängnissen gewesen war. Hier war sie gänzlich unverhohlener Folter ausgesetzt, der alle Gefangenen ausgesetzt sind, die den Kampf für die Freiheit führen (bei Frauen wird die Folter besonders intensiv eingesetzt). Sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Die Folterungen wurden nicht beendet. Garibe, die alle Arten von Folter erfahren hat, von Schlägen durch Gefängniswärter:innen bis hin zu sexueller Gewalt, erhob auch weiterhin ihre Stimme, um gehört zu werden. Dass sie über ihre Erfahrungen berichtete, war natürlich Grund für weitere Folter. Das Maß der Folter nahm noch zu, als Garibes Stimme den Weg in die Öffentlichkeit fand. Sogar die Ärzt:innen, die doch den Hippokratischen Eid geschworen hatten, waren an den Verbrechen beteiligt.
Vor dem Hintergrund dieser Grausamkeiten hat Garibe versucht, ihre Einzelzelle in Brand zu setzen, und wurde dafür verurteilt. Sie wurde bestraft, weil sie jede Gelegenheit wahrnahm, ihre Stimme nach draußen zu tragen. Deshalb wurden ihr alle Wege abgeschnitten, über die sie hätte kommunizieren können. Garibe gab jedoch nicht auf. Trotz der strafrechtlichen Sanktionen versuchte sie es mit allen Mitteln. Sie gab nicht auf, wich keinen Schritt zurück. »Andere sollen von meinen Erlebnissen erfahren«, sagte sie.
Ja, dass sie nicht geschwiegen hat, das kostete Garibe das Leben. Selbst nach ihrem Tod machte die frauen- und kurdenfeindliche Regierung weiter. Als Garibes Leichnam am Flughafen Mêrdîn eintraf, wurde gleich das Feindstrafrecht angewendet. Der Leichenwagen der unter Zwangsverwaltung stehenden Gemeinde fuhr zurück, ohne Garibes Leichnam mitzunehmen. Schließlich wurde sie trotz aller Hindernisse auf den Schultern von Frauen in die Ewigkeit geschickt.
Während sie in ihrer Heimatstadt in der Provinz Mêrdîn zu Grabe getragen wurde, gingen Frauen im ganzen Land auf die Straße: »Wir fordern Rechenschaft für Garibes Tod.« Auch wenn die Frauen Garibe vielleicht nicht persönlich kannten, so kennen sie die Tradition des Kampfes, aus dem sie kam, sehr gut. Und lassen Sie mich mit den Worten enden, die allseits im festen Glauben an diesen Kampf zu hören sind:
Wir werden diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die Schuld am Tod von Garibe Gezer haben. Es ist an uns Frauen, Garibes Stimme zu erheben, ihre Rebellion und ihren Kampf fortzuführen!
Kurdistan Report 220| März/April 2022