IS-Gefängnisausbruch in Hesekê

Der jüngste IS-Aufstand in Hesekê als Teil der veränderten Taktik der Türkei

Women Defend Rojava Komitee Berlin


Der jüngste IS-Aufstand in Hesekê als Teil der veränderten Taktik der TürkeiDer feminizidale Krieg gegen die Frauenrevolution in Kurdistan hat in den vergangenen Monaten eine erneute Intensivierung erfahren. Die derzeitige Kriegsführung unterscheidet sich von der Operation »Adlerklaue« im Oktober 2019, durch welche der faschistische türkische Staat Rojava besetzen wollte, um eine sogenannte Schutzzone einzurichten, auch wenn die Akteur:innen und die Motivationen dahinter dieselben sind. Statt F-16-Bombern des türkischen Militärs bedecken nun meist die im Westen und in der Türkei hergestellten Drohnen den Himmel Kurdistans, entwickelt und gesponsert durch Mitgliedsstaaten der NATO. Analysen lassen klar werden, dass diese angepasste Strategie der Kriegsführung eine neue Taktik Erdoğans ist.

Bombardements erzeugen eher internationales Unverständnis und Proteste und tragen somit dazu bei, dass dieser Krieg sichtbarer wird. Viele Proteste und der allzu sichtbare Verstoß gegen Menschenrechte führen auch zu Aktionen und Boykotten gegen die faschistisch-imperialistischen Pläne des türkischen Regimes. Dieser Krieg, wie er jetzt gegen die Guerilla, aber vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung und die Frauen und Kinder geführt wird, ist in den westlichen Ländern kaum mehr sichtbar. Er erscheint von außen schwerer greifbar, obschon die Resultate die gleichen bleiben. Krieg bleibt Krieg. Angreifende, bewaffnete Drohnen sind dann neben einer Todesmaschinerie aus der Luft noch mehr: nämlich psychologischer Terror gegen die Menschen vor Ort. Giftgas einzusetzen ist ein Kriegsverbrechen. Es muss klar sein, dass der Krieg, so wie er jetzt geführt und international unterstützt wird, die Situation in der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyrien massiv destabilisiert und zum Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS) beiträgt. Der Sieg über den IS war nur ein militärischer Sieg, er ist weiterhin aktiv und seine Schläferzellen sind auf dem Vormarsch. Auch wenn die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) den Aufstand des IS niederschlagen konnten, ist das Sina-Gefängnis nach wie vor als tickende Zeitbombe zu bewerten.

Der Westen verweigert die Rücknahme

Die umfassende Belagerungspolitik durch die globalen und regionalen Hegemonialmächte und die damit einhergehende Destabilisierung der Region und der Selbstverwaltung schaffte überhaupt erst die Optionen für die in letzter Zeit wiedererstarkende Terrormiliz IS, einen Angriff solchen Ausmaßes wie am Donnerstag, den 20. Januar 2022, durchzuführen. Dschihadisten griffen das Sina-Gefängnis in Hesekê von außen an, während innen ein Aufstand angezettelt wurde. Etwa 5.000 Terroristen aus 54 verschiedenen Ländern sind im Sina-Gefängnis inhaftiert. 2.000 von ihnen kommen aus westlichen Ländern, darunter auch Deutschland. Seit dem vorläufigen militärischen Sieg über den Islamischen Staat sind rund 10.000 IS-Mitglieder in provisorischen Gefängnissen der Selbstverwaltung inhaftiert. Seit ihrer Inhaftierung fordern die Sicherheitskräfte vor Ort, die QSD, welche sich aus Araber:innen, Kurd:innen, Syrer:innen, Armenier:innen und weiteren ethnischen Gruppen zusammensetzen, die Überführung der ausländischen Terroristen zurück in ihre Heimatländer – mit wenig Erfolg. Der Westen übernimmt keine Verantwortung für die Rückfuhr, nicht einmal für Kinder und Jugendliche, die sich ebenfalls unter den im Sina-Gefängnis Inhaftierten befinden. Bis zu 700 Minderjährige, welche zuvor der IS-Jugendorganisation »Junglöwen des Kalifats« angehörten, wurden nach dem Angriff in Rehabilitationszentren verlegt. Das alles erfordert Kapazitäten, welche während eines Krieges kaum vorhanden sind. Unter einem Krieg leiden Frauen und Kinder stets zuerst. Das Patriarchat zeigt dort mit gezielten Feminiziden als Kriegsmethode sein hässlichstes Gesicht. Trotzdem werden die gefangenen Dschihadisten während fortlaufender Besatzung als Gefangene im Rahmen der durch Krieg, Embargo und Isolation erschwerten Bedingungen weiter versorgt. Die bewusste Passivität des Westens in dieser Frage ist problematisch. Die Staaten erlauben sich Entscheidungsfreiheiten in einer Frage, bei der es den Spielraum möglicher Antworten gar nicht geben dürfte. Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien wird mit dem Islamischen Staat und fortwährenden Gefahren für die Gesellschaft alleingelassen. Das weckt Erinnerungen an zurückliegende Zeiten und ist eine Bedrohung für alle Gesellschaften, sowohl in Europa als auch im Nahen und Mittleren Osten. Auch wenn die neue Bundesregierung im Januar 2022 die Verlängerung des deutschen militärischen Beitrags zur nachhaltigen Stabilisierung Iraks und zur Bekämpfung des IS bis Oktober 2022 beschlossen hat, ist uns bewusst, dass diese Politik niemals zu einer Stabilisierung beitragen wird. Ein erster Schritt wäre es, der nun schon drei Jahre alten Forderung der QSD nachzukommen und alle deutschen IS-Mitglieder zurückzuführen und hier vor Ort vor Gericht zu stellen.

IS-Prozesse in Deutschland

Doch die Rückholaktionen Deutschlands laufen mehr als schleppend. Die Politik stellt sich der Rückfuhr der eigenen Staatsbürger:innen, der sie eigentlich verpflichtet wäre, mit einer konstanten Ignoranz in den Weg. Im Oktober 2021 wurden sieben Frauen und 23 Kinder aus dem Camp Roj der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyrien zurückgeholt. Bei dieser geringen Anzahl maßte sich die Bundesregierung auch noch an, dies als Rettungsaktion zu bezeichnen. »Unseren Ansprechpartnern vor Ort, vor allem der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien, gebührt großer Dank dafür, dass sie uns dennoch in den vergangenen Monaten nach Kräften bei der intensiven Vorbereitung unterstützt haben. Nicht nur für uns, sondern für alle Beteiligten war die Aktion ein Kraftakt. Ich danke unseren dänischen Partnern, mit denen wir gemeinsam die Rückholung durchgeführt haben und unseren amerikanischen Partnern, die logistische Unterstützung geleistet haben«, so Außenminister Maas.

Aktuell laufen in Deutschland auf dem Rechtsweg mehrere Prozesse gegen IS-Rückkehrer:innen; so startete einer Mitte Januar diesen Jahres in Hamburg und ein weiterer in Naumburg. Was von den Urteilen der deutschen Justiz bis hin zur vierten Instanz – den Medien – immer wieder deutlich wird, ist, dass Dschihadistinnen mit ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit nahezu davonkommen. Es wird darauf gepocht, für die Liebe oder aus bloßer Naivität zum Islamischen Staat gegangen zu sein – und nicht um zu versklaven und zu foltern. Diese Verteidigungsstrategien sind überraschenderweise teilweise erfolgreich. Dies ist auch bezeichnend für die fortwährende politische Abwärtsentwicklung und deshalb zutiefst problematisch, weil sie zum einen zeigen, wie perspektivlos und wenig präventiv staatliche Friedenspolitik tatsächlich ist. Sie bewegt sich im Spannungsfeld der eigenen nationalen politischen und wirtschaftlichen Interessen und Zwängen im kapitalistischen Globalsystem. Zum anderen zeigen sie, dass im westlichen Narrativ und in der westlichen patriarchal-kapitalistischen Ideologie Frauen, die im vollen Bewusstsein ihres Handelns eine solche Entscheidung eigenständig treffen, auch im 21. Jahrhundert noch nicht in ein gesamtgesellschaftliches Bild passen. Der Mann muss im Zentrum ihrer Interessen stehen und an ihm messen sich somit auch die Taten der Frau. Was auch sonst? Die Gefahr dieser Perspektive muss klargemacht werden.

Die êzîdische Gemeinde kämpft weiterhin für die Anerkennung der Genozide an ihrem Volk, wie dem von 2014. Es war die Peschmerga der PDK, welche eigentlich zur Aufgabe hatte, die Êzîd:innen zu schützen. Sie ließ die Zivilbevölkerung im Stich und ist somit auch mitverantwortlich für den 74. Genozid, diesmal durchgeführt durch den IS. Gleichzeitig sehen wir hier, wie deutsche Dschihadistinnen, die Êzîd:innen als Sklav:innen gehalten haben, zwar Prozesse mit gewichtigen Anschuldigungen, aber verhältnismäßig milden Urteilen bekommen. Von tatsächlicher Aufarbeitung der Geschehnisse bzw. des immer noch Geschehenden ganz zu schweigen. Mehr als ein Viertel der ausgereisten Deutschen sind Frauen, Perspektiven und Antworten diesbezüglich fehlen. Viele befinden sich noch immer vor Ort, entweder in Gefangenschaft der QSD, YPG/YPJ oder nach wie vor im sogenannten Islamischen Staat. Diese Umstände passen natürlich nicht in das Bild, welches die Medien hierzulande gerne malen: das der Frau als Opfer im IS und des von der NATO besiegten IS. Der IS ist keineswegs besiegt und wenn er es wäre, dann mit Sicherheit nicht durch den Mörderverein NATO.

Doch was steht symbolischer für die BRD als der Fakt, dass der Paragraph, der genutzt wird, um IS-Rückkehrer:innen zu verurteilen, derselbe ist, mit dem die kurdische Bewegung kriminalisiert wird?

Der Verantwortung nachkommen

Die Kampagne »Women Defend Rojava« wurde vom Frauendachverband Kongreya Star in Rojava ins Leben gerufen, um den Widerstand gegen die türkische Kriegsstrategie, die auf die Besatzung Nord- und Ostsyriens abzielt, international zu koordinieren. Zudem soll die weltweite Solidarität mit der Revolution in Rojava und den Frauen in Nord- und Ostsyrien sichtbar gemacht werden und die Stimmen vor Ort nach außen getragen werden. Des Weiteren gilt es, die Werte und Prinzipien der Frauenbefreiungsideologie der kurdischen Freiheitsbewegung zu verbreiten, um auch hier vor Ort zu verdeutlichen, dass ein anderes und selbstverwaltetes Leben möglich ist.

Der Kampf gegen den türkischen Staatsterror und seinen engsten Verbündeten, den Islamischen Staat, geht einher mit dem Kampf gegen das Patriarchat und Faschismus weltweit. Als NATO-Mitgliedstaat muss auch die deutsche Bundesregierung von den geplanten Angriffen der Türkei gewusst haben und macht sich somit klar zu ihrer Handlangerin. Mit Annalena Baerbock sitzt nun eine Frau an der Front des Außenministeriums, die ihre kriegerische Außenpolitik als »feministisch« bezeichnet. Es gilt zu betonen, dass die Außenpolitik imperialistischer Mächte niemals feministisch sein kann und jede Intervention des Westens weiter zur Destabilisierung vor Ort beiträgt. Als in Deutschland lebende Personen müssen wir konstant auf die Verantwortung des Westens in diesem Krieg aufmerksam machen und aus feministischer Perspektive gegen das Kriegsgeschäft und die Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung in der BRD vorgehen.


 Kurdistan Report 220| März/April 2022