Werkzeuge schaffen für eine friedliche Zusammenarbeit zwischen den Menschen und Gesellschaften

Gesellschaftliche Diplomatie

Nûdem Qamişlo

Alle reden von gesellschaftlicher Diplomatie und sie wird genannt in Abgrenzung zur staatlichen Diplomatie. Sie ist die diplomatische Arbeit, die nicht einen Staat als Ansprechpartner sucht. Es ist eine Diplomatie von Gesellschaft zu Gesellschaft, aber was heißt das genau? Welche Ziele und Arbeitsweisen zeichnen diese Form der Diplomatie aus? Was ist ihr geschichtlicher und ideologischer Hintergrund?

Diplomatie kann als Aufbau von Beziehungen zwischen Völkern betrachtet werden. Mit der Entwicklung von Staaten hat sich die Definition von Diplomatie und auch deren Form verändert. Diplomatie wurde das Knüpfen von Beziehungen zwischen Staaten für staatliche Interessen oder besser für die Eliten des Staates und häufig spielt sie eine wichtige Rolle in Kriegen.

Aber der Ursprung von Diplomatie war ein anderer. Schauen wir in die Geschichte, sehen wir, dass gute Beziehungen mit den Nachbarn oder mit benachbarten Stämmen überlebenswichtig waren. Deshalb wurde der Pflege guter Beziehungen untereinander große Bedeutung beigemessen. Da Frauen eine wichtige Rolle in diesen frühen Gesellschaften spielten, lag die Diplomatie vor allem in ihren Händen, sie vermittelten bei Konflikten. Die Aufgaben der Diplomatie waren sehr vielfältig. Beziehungen zwischen Stämmen wurden gepflegt, eine gute Zusammenarbeit untereinander und die gegenseitige Unterstützung der Stämme waren wichtig. Beispiele dafür waren die Jagd (Absprache über Jagdgebiete) und später der Anbau von Nahrungsmitteln. Hier arbeiteten Stämme oder Gemeinschaften zusammen. Auch wurde zwischen Stämmen und Gemeinschaften geheiratet. Bei Konflikten und Problemen waren es Frauen, die vermittelten. Auf dieser Grundlage war ein friedliches Zusammenleben zwischen Stämmen bzw. Gemeinschaften möglich und sicherte das Überleben.

Diplomatie wird zum Herrschaftsinstrument

Mit der Entwicklung von Staaten hat Diplomatie eine grundlegend andere Bedeutung bekommen. Sie verlor ihren gesellschaftlichen Charakter. Es ging nur noch um die Interessen von Staaten und darum, mittels Diplomatie die eigene Machtposition zu stärken. Diplomatie wurde ein Herrschaftsinstrument und sie konnte verschiedene Formen annehmen. Sie konnte mithilfe von Verhandlungen, Versammlungen und Konferenzen sowie gut ausgebildeten Diplomat:innen Beziehungen zwischen Staaten schaffen und gestalten. Das Ziel dieser Form von Diplomatie war die Verteidigung der eigenen Interessen und hat häufig zu Kriegen geführt. Damit werden Land und Bodenschätze verteilt und politische Interessen verteidigt. Hier entsteht statt Frieden Krieg, statt Miteinander Gegeneinander, statt Ehrlichkeit Lüge und Betrug.

Zu Zeiten des Kalten Krieges haben Staaten erkannt, dass diese Form der staatlichen Diplomatie nicht genügend Spielraum bietet, um Menschen zu beeinflussen und für die eigenen Interessen gewinnen zu können. Im Kalten Krieg wurde von den meisten Staaten, z. B. USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, China, eine Art von gesellschaftlicher Diplomatie entwickelt, die mit anderen Methoden die eigene Ideologie unter den Menschen in anderen Staaten überzeugender verbreiten konnte. Propaganda, Kultur, Musik, Sprache, Studierendenaustausch, Zusammenarbeit mit zivilen Organisationen ... all dies wurde für die eigenen staatlichen Interessen eingesetzt. Sowohl die kapitalistischen als auch die sogenannten kommunistischen Staaten benutzten diese Art von gesellschaftlicher Diplomatie.

Auch heute, nach dem Kalten Krieg, im Zuge der sogenannten Globalisierung, praktizieren die meisten Staaten eine breit aufgestellte Diplomatie, sowohl als klassische staatliche Variante durch offizielle Vertreter:innen auf Besprechungen, Versammlungen, Konferenzen usw. als auch die sogenannte gesellschaftliche Diplomatie, umgesetzt durch viele gut ausgebildete Fachkräfte.

Gesellschaftliche Demokratie schafft die Basis für die Vielfalt und für die Verbindungen der Menschen untereinander

Aber wenn wir von gesellschaftlicher Diplomatie sprechen, meinen wir etwas anderes. Nicht im Interesse einiger Eliten oder Staaten, sondern im Interesse ausgegrenzter Völker, ausgebeuteter Menschen, von Aktivist:innen, d. h. von 99 % der Menschen. Das ist Diplomatie im klassischen Sinne des Wortes: Menschen aus verschiedenen Religionen, Ethnien, Kulturen, Ländern, mit unterschiedlichen Auffassungen miteinander zu verbinden, um miteinander eine Stärke entwickeln zu können. Wo Staaten versuchen zu teilen und zu herrschen oder nur eine dominante Kultur, eine Art von Denken und Leben zuzulassen, da schafft die gesellschaftliche Demokratie im Gegensatz dazu die Basis für die Vielfalt und für die Verbindungen der Menschen untereinander. Möglichkeiten zu schaffen, um sich kennen und verstehen zu lernen, gemeinsam Lösungen und gesellschaftliche Alternativen zu finden, das ist die Praxis der gesellschaftlichen Demokratie.

In Nord- und Ostsyrien hat eine Revolution stattgefunden und sie findet noch immer statt. Ein neues System, eine neue Art und Weise zu denken und zu leben wird aufgebaut. Auf allen Gebieten, in allen Bereichen brodelt es. Eine Unmenge von Energie und Erfahrungen kann geteilt werden. Sie zu teilen und nicht von oben nach unten durchzusetzen, sondern auf gesellschaftlicher Ebene zu diskutieren, ist ein Teil der gesellschaftlichen Diplomatie. So können Bündnisse aufgebaut werden mit anderen revolutionären, sozialen, ökologischen Bewegungen. In Sozialforen oder auf anderen Treffen können Ideen und Erfahrungen mit praktischer Arbeit ausgetauscht werden, um so Lösungen für soziale und ökologische Probleme zu diskutieren und zu finden.

Andererseits befindet sich Nord- und Ostsyrien noch immer im Krieg. Ein Großteil des Landes ist besetzt und jeden Tag finden in den besetzten Gebieten Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen statt und aus den besetzten Gebieten heraus Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Nord- und Ostsyrien. Ein Großteil der ursprünglichen Bevölkerung wurde vertrieben, es fand eine demografische Veränderung statt.

Außer Katalonien hat kein einziger Staat, keine Regierung die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien anerkannt. Noch immer leiden die Menschen unter einem politischen und ökonomischen Embargo und auch Kriegsdrohungen sind an der Tagesordnung. Deswegen ist Solidarität auf gesellschaftlicher Ebene lebenswichtig.

Kampf in Nord- und Ostsyrien gibt Hoffnung

In vielen Ländern der Welt wurde vor allem nach Ausbruch der Pandemie der staatliche Druck auf die Bevölkerung stärker, die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. In den kapitalistischen Staaten herrschen Leere und Hoffnungslosigkeit und es gibt viele soziale und ökologische Probleme. Rechtsextremismus und der Hass auf alles andere werden jeden Tag stärker. In solchen harten Zeiten kann der Kampf in Nord- und Ostsyrien eine Hoffnung, ein Lichtpunkt sein. Trotz aller Schwierigkeiten wird eine Alternative aufgebaut und der gesellschaftliche Zusammenhalt gegen den IS und andere extremistische Gruppierungen ist spürbar. Der Kapitalismus will uns glauben lassen, dass es zu ihm keine Alternative gibt, aber die Praxis in Nord- und Ostsyrien zeigt, dass entgegen allen Angriffen von allen Staaten eine Alternative gelebt werden kann.

Es gibt zahlreiche gesellschaftliche Bereiche für die Praxis gesellschaftlicher Diplomatie. Die internationale Religionskonferenz im Januar 2022 ist dafür ein aktuelles Beispiel. Allzu oft wurde und wird Religion für Kriege und Herrschaftsinteressen benutzt. Aber wie kann eine Zusammenarbeit zwischen Religionen aussehen? Wie können Religionen Friedensprozesse einleiten und unterstützen? Wie kann eine Interpretation von Religion aussehen, die Demokratie, Frieden, Pluralität und Liebe füreinander verbreitet? Es gibt viele negative Beispiele wie IS, al-Qaida, um einige der extremsten zu nennen. Aber auch etliche positive Beispiele wie die Zusammenarbeit der Religionen in Nord- und Ostsyrien oder die Weltkirche. Das Zusammenkommen verschiedener Religionen und Religionsgemeinschaften ist gelebte gesellschaftliche Diplomatie.

Auch Sport und Kultur sind Bereiche möglicher gemeinsamer Aktivitäten. Auf Festivals können sich die verschiedenen Kulturen präsentieren, um den Reichtum an Kulturen und Sprachen zu zeigen. Im Kapitalismus wird der kulturelle und sprachliche Reichtum einer Gesellschaft durch eine oft oberflächliche, aber dominante Kultur verdrängt. Festivals, auf denen Folklore, Musik und Theater dargestellt werden können, sind eine wichtige Waffe gegen diese Form kultureller Globalisierung. Auch gemeinsame Sportevents, zum Beispiel Fußballwettbewerbe für Frauenteams, bieten Möglichkeiten, um Raum für Begegnung zu schaffen. Für Nord- und Ostsyrien, das unter einem politischen und ökonomischen Embargo lebt, ist Sport sehr wichtig. Sport, bei dem es um Sport geht und nicht um Geld, Macht oder Konkurrenz.

Noch zwei Beispiele für Bereiche, in denen gesellschaftliche Demokratie eine wichtige Rolle spielt:

  • Der Bereich Gesundheit. Einerseits geht es um die grundlegenden praktischen Schwierigkeiten beim Aufbau eines Gesundheitssystems in Nord- und Ostsyrien und gleichzeitig um ein Gesundheitssystem, das für alle zugänglich sein soll und in dem der Mensch und nicht der Profit im Mittelpunkt steht.

  • Der Bereich Bildung. In Nord- und Ostsyrien wird ein Bildungssystem aufgebaut, in dem die Schüler:innen demokratische Werte und Fähigkeiten vermittelt bekommen und in der eigenen und in fremden Sprachen unterrichtet werden.

Die gesellschaftliche Diplomatie ist ein sehr reichhaltiges Feld mit vielen Möglichkeiten und unentbehrlich, wenn wir den demokratischen Konföderalismus verbreiten wollen und wenn es Demokratie im wahren Sinne des Wortes nicht nur in Nord- und Ostsyrien geben soll, sondern überall.

Die strategischen Kräfte für die diplomatische Arbeit sind soziale, ökologische, feministische und revolutionäre Bewegungen, Minderheiten, Religionen und andere gesellschaftliche Organisationen. Auf diese Art und Weise kann der demokratische Konföderalismus weltweit gestärkt werden.

Die Autorin ist Mitarbeiterin von »Navenda Diplomasî Civakî Bakûr û Rojhilat Syria« (Zentrum für gesellschaftliche Diplomatie in Nord- und Ostsyrien) in Qamişlo.


 Kurdistan Report 220| März/April 2022