Über die Anerkennung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien durch das katalanische Parlament

Ein Netzwerk der Solidarität zwischen Katalonien und Kurdistan

Ruben Wagensberg und Eulàlia Reguant, Abgeordnete des katalanischen Parlaments


Im Jahre 2014 meldete sich im katalanischen Parlament ein Abgeordneter der sogenannten Unabhängigkeitsbefür­worter:innen in einer Debatte über Auslandseinsätze zu Wort: »Heute müssen wir mehr als je zuvor unsere Aufmerksamkeit auf das kurdische Volk richten. Auf all die Situationen, denen es in der Türkei, im Irak, in Syrien [und Iran] ausgesetzt ist.« Diese Sätze haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren, ja sie sind in Anbetracht der aktuellen Lage sogar zu einer Notwendigkeit geworden.

Vor nicht allzu langer Zeit hatten nur wenige Menschen den Ausbruch einer Revolution im Nordosten Syriens vorhersehen oder gar daran glauben können. Als die kurdische Befreiungsbewegung im Frühjahr 2011 ihre Absicht erklärte, eine Gesellschaft auf der Grundlage des Konzepts des demokratischen Konföderalismus zu errichten, waren sich nur wenige Menschen im Westen der Thematik bewusst. Sie verfolgten auch nicht, als die Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD; dt. Partei der Demokratischen Einheit), die als Teil der kurdischen Befreiungsbewegung zu sehen ist, den Volksrat von Westkurdistan als partizipatorisches und demokratisches Dach für die Bevölkerung und ihre verschiedenen politischen Akteure gründete.

Nahezu niemand berichtete oder sprach darüber, als im Juli 2012 in Rojava (Westkurdistan) Aufstände des Volkes die Einführung eines demokratischen Systems einleiteten, nachdem Städte und Dörfer von der Diktatur in Syrien befreit worden waren. Diese Aufstände markierten den Beginn einer zutiefst wichtigen zeitgenössischen Revolution, die allzu oft ignoriert, verdrängt und vergessen wird. In einem zweiten Schritt, im Januar 2014, gaben die drei wichtigsten Regionen (Kantone) Rojavas eine Erklärung zur demokratischen Autonomie ab. Auf diese Weise schufen sie autonome und demokratische Verwaltungen, um sicherzustellen, dass ihr neues System inklusiv und pluralistisch sein wird, und bauten so einen dritten Weg in dem Konflikt in der Region auf. Doch erst als zwischen September 2014 und Januar 2015 die Verteidigungskräfte der Revolution in Kobanê einen beeindruckenden Widerstand gegen den sogenannten Islamischen Staat leisteten, wurden der Welt endlich die Augen geöffnet. Aber dies kam zu spät und bis heute noch zu oft auf stigmatisierende Art und Weise.

Wir entdeckten damals die revolutionären Kräfte, auch wenn es sie schon seit Jahren gegeben hatte, auch wenn der Feminismus in dieser Region und in dieser Bewegung schon seit Jahren Realität gewesen war, wo ein System der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen schon seit Jahren etabliert war. Wie schon erwähnt, war dies dennoch der Zeitpunkt, zu dem die Welt endlich auf diese Region blickte. Und seitdem wissen viele revolutionäre, demokratische, sozialistische, libertäre und Menschenrechtsgruppen von der Existenz einer freien Region in Nord- und Ostsyrien. Eine freie Region namens Rojava bzw. eine Region, die jetzt Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien heißt, weil das Projekt dort über die Grenzen Kurdistans hinausgeht.

Klare Benennung des Konfliktes und der Akteure als notwendiger Teil der Lösung

Die sogenannte kurdische Frage stellt sich als einer der komplexesten und gewaltsamsten Konflikte im Nahen Osten dar; und sie bleibt ein Konflikt, der auf eine Lösung wartet. Solange dessen Dimensionen nicht breit diskutiert werden, wird der Konflikt fortbestehen, sich sogar noch verschärfen und neue, schwerwiegendere Probleme schaffen. Es ist ein Konflikt, der auch die Anerkennung und Verurteilung der türkischen Diktatur und der vom türkischen Staat gegen das kurdische Volk ausgeübten Gewalt erfordert.

So sehen wir, wie die Lösung oder die Revolution in Nord- und Ostsyrien eine gewalttätige, virulente Reaktion des Erdoğan-Regimes hervorruft, welches völkerrechtswidrig das Territorium Rojavas besetzt und auch syrisches Territorium okkupiert, während die internationale Gemeinschaft wegschaut. Wir sehen, wie Erdoğan die Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei, aber auch im Irak verschärft. Trotz alldem schaut die internationale Gemeinschaft einfach weg. Tatsächlich betrachtet die internationale Gemeinschaft die Türkei weiterhin als eine verbündete Macht in der Region. Und ja, die Türkei stellt die zweitgrößte Armee der NATO und ist eine wachsende internationale Macht, aber die Diktatur und das tägliche Massaker des Erdoğan-Regimes müssen gestoppt werden.

Rojava leistet Widerstand, denn Rojava ist viel mehr als nur das Opfer der türkischen Tyrannei. Die kurdische Bevölkerung ist das größte staatenlose Volk der Welt – durch ihre andauernde Selbstbehauptung und ihre Fähigkeit, sich zu organisieren und zu kämpfen, wurde sie zu einem der Hauptziele eines türkischen Staates gemacht, der diese Menschen unterdrücken und ausrotten, gar einen Völkermord verüben will. Dieser Staat ist dabei, wie wir gesehen haben, nicht gerade für seine Achtung der Menschenrechte und der Freiheiten bekannt. Es ist ein Staat, dessen Unterstützung die Europäische Union aufkündigen sollte – doch nutzt sie die Türkei als Komplizin, um das Mittelmeer abzusichern und zu verhindern, dass Tausende von Menschen, die vor dem Krieg in Syrien und anderen Konflikten fliehen, europäischen Boden erreichen.

Deshalb muss der erste Schritt in einem Lösungsprozess die korrekte Anerkennung und Definition des Konflikts sein. Es handelt sich um eine Region, welche seit vielen Jahren erlebt, wie die Interessen der internationalen Mächte die dort lebende Bevölkerung beeinträchtigen, ohne sie zu berücksichtigen. Eine geostrategisch interessante Region, die über einige der für die westliche Gesellschaft überlebenswichtigen natürlichen Ressourcen verfügt. Und so haben wir immer wieder die Realität und die Situation des kurdischen Volkes ignoriert.

Die Kraft der Organisierung

Wenn wir über die Revolution in Rojava, über die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien sprechen, ist es notwendig anzuerkennen, dass diese Realität ohne die Existenz der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder ohne die Rolle von Abdullah Öcalan, der 1999 entführt wurde und seitdem in einem Gefängnis isoliert ist, nicht zu verstehen ist.

In den katalanischen Ländern gibt es seit vielen Jahren diejenigen, die die Flamme der Solidarität mit dem kurdischen Volk am Leben erhalten. Wir hätten die Anerkennung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien nicht erreichen können ohne das vierzigjährige Bestehen des CIEMEN [Internationales Zentrum Escarré für ethnische Minderheiten und Nationen], das allein über viele Jahre hinweg Beziehungen zur kurdischen Bewegung aufgebaut hat. Wir wären auch nicht hier ohne Plattformen oder Gruppen wie die »Azadî-Plattform«, die in den letzten Jahren auf die türkischen Interessen hier in Katalonien hingewiesen hat, auf die Widersprüche mit dem spanischen Außenministerium, mit denen wir hier auch leben müssen. Einerseits zeigen wir unsere Solidarität, andererseits tragen wir zu Erdoğans Bombardierungen in Kurdistan bei, indem wir Verteidigungspolitik betreiben, wie sie sich in Form von Waffenexporten oder der Zusammenarbeit mit türkischen Unternehmen zeigt, die direkt oder indirekt zur Finanzierung von Erdoğans Militäroffensiven beitragen. Und natürlich wären wir nicht da, wo wir jetzt sind, ohne die Dutzenden von katalanischen Internationalist:innen, die eine lange Zeit in Rojava verbracht haben und die Bewegung kennen, unterstützen und von ihr lernen.

Die multiple Bedeutung der Anerkennung: gemeinsam von unten

Die Anerkennung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien durch das Parlament von Katalonien ist ein wichtiger Schritt für die kurdische Bewegung. Es ist ein wichtiger Schritt, weil es das erste Parlament ist, das diese Verwaltung und damit implizit den politischen Beitrag des demokratischen Konföderalismus anerkennt. Ein politischer Vorschlag, der auf Demokratie, Feminismus, einer anderen Art des Wirtschaftsverständnisses und der Anerkennung der religiösen und ethnischen Vielfalt basiert. Zugleich ist die Anerkennung ein Statement und eine Positionierung gegen Totalitarismus und Faschismus.

Aber die Anerkennung ist auch für die katalanische Bevölkerung wichtig, weil sie den Wunsch ausdrückt, einer der Hauptakteure bei der Zusammenarbeit und Kooperation mit dem kurdischen Volk sowie dessen Unterstützung zu werden. In den 1990er Jahren, nach dem Krieg in Sarajevo, war Katalonien nicht nur an der Aufnahme von Geflüchteten dieses Konfliktes beteiligt, sondern auch aktiv am Wiederaufbau der Region, insbesondere in Sarajevo, aber auch in ganz Bosnien. All dies wäre ohne ein organisiertes Netz von Bürger:innen unmöglich gewesen. Ausgehend von dem, was die katalanische Gesellschaft bereits getan hat, wollen wir daher, dass die Anerkennung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens die Form eines kommunalen und organisierten zivilgesellschaftlichen Netzwerks annimmt, welches diese Bewegung konsolidiert. Dieses Solidaritätsnetzwerk zwischen Katalonien und Kurdistan ist eine Gelegenheit, andere Formen des Wiederaufbaus fernab des grausamen Kapitalismus zu erkunden und voranzutreiben – von unten, von der Basis aus.

Wenn die kurdische Gesellschaft sagt, dass ihre einzigen Freunde die Berge sind, dann haben sie jetzt einen weiteren Freund: das katalanische Volk.


 Kurdistan Report 220| März/April 2022