Verändern wollte ich eine Menge

»Auf der Suche nach revolutionären Lebensformen«

Eine Buchempfehlung von Sara Angeli


»Verändern wollte ich eine Menge – Aus dem Leben der Internationalistin Ellen/Stêrk«In Zeiten, in welchen sich globale Krisen zuspitzen, dürften sich in diesem Satz für Viele ihr Dasein, ihre Kämpfe, ihre Wünsche ausdrücken. Für die 2016 verstorbene Internationalistin Ellen/Stêrk beschreibt er ihr Leben. Von diesem Leben zu lernen, – dieses Lebens zu gedenken –, dies ermöglicht das frisch erschienene Buch »Verändern wollte ich eine Menge – Aus dem Leben der Internationalistin Ellen/Stêrk«.

In einem mehrjährigen Prozess stellt das Herausgeber:innenkollektiv nicht nur den individuellen Lebensweg Ellens zusammen, sondern kontextualisiert auch ihre Schritte und Entscheidungen. Somit entsteht nicht nur ein eindrückliches Portrait einer außergewöhnlichen Frau, sondern auch ein wichtiges zeitgenössisches Dokument der feministischen und linken Bewegungen in der Bundesrepublik in den letzten 20 bis 30 Jahren. Dabei wird eine Vielzahl an Materialien verwendet: persönliche Erinnerungen ihrer Freund:innen, Familie und Weggefährt:innen, Briefe, Reflexionen und Mails, die Ellen selbst schrieb, Bilder und hilfreiche Informationsboxen, die Begriffe, Ereignisse, Orte erläutern. An dieser Stelle gilt es, den Herausgeber:innen herzlich zu danken für ihre Zeit und Kraft, die in diesem Buch stecken.

In zwölf Kapiteln wird die 1976 geborene Ellen in ihren jeweiligen Lebensabschnitten dargestellt. Angefangen in ­ihrer Kindheit, über ihr Studium in Berlin und die ersten politischen Aktivitäten – in feministischem Wohnprojekt bis hin zum ­ersten Kontakt mit der kurdischen Bewegung, ihren Aufenthalten in der Türkei und Kurdistan, ihrer Rückkehr in die BRD, die erneuten Wege nach Kurdistan und die ­politischen Arbeiten in Deutschland bis hin zu ­ihrem Tod im Jahr 2016. Deutlich kommt die Suchbewegung heraus, die Ellens Leben prägte. Sie suchte nicht nur für sich immer wieder die Verbindung zwischen dem individuellem Leben und revolutionärer Politik, sondern auch die Verknüpfung verschiedener Kämpfe, Menschen und Generationen.

Eine Organisierung, die eine Utopie hat

Anschaulich wird wiedergegeben, wie sich Ellen über Jahre hinweg der kurdischen Bewegung immer mehr annäherte und dieser schließlich den Großteil ihrer politischen Arbeit widmete. Dabei kristallisierte sich dies schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Istanbul und Amed 2007–2008 heraus, wie sie es selbst in einem Interview 2016 beschrieb:

»… Ich habe mich tatsächlich nochmal auf den Weg gemacht und hab’ – ganz woanders geguckt. Ich habe eine Weile in der Türkei gelebt und dort die kurdische Bewegung kennengelernt. Das hat für mich, das klingt vielleicht total groß – aber ich kann sagen – das hat mein Leben verändert, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben tatsächlich eine kämpfende Bewegung kennengelernt habe, eine Basisbewegung beziehungsweise Bevölkerungsbewegung – eine Bewegung, die in der Bevölkerung verankert ist – was ja die autonome Bewegung so überhaupt nicht ist. Ich habe eine so ganz andere Art der politischen Organisierung kennengelernt. Und ich habe vor allem eine Organisierung kennengelernt, die eine Utopie hat.«

Ihre Verbindung mit der kurdischen Bewegung sollte sich jedoch nicht auf die Aktivitäten in Kurdistan selbst beschränken. Vielmehr suchte Ellen jahrelang nach Wegen, Kämpfe zu verbinden. Das »Amed-Camp« 2009 stellte für sie einen wichtigen Schritt dar, einen Raum zu schaffen, in welchem sich ­radikale Linke aus der BRD und die Bewegung in Kurdistan annähern können. Diesem Camp und dessen Anbindung an das »Mesopotamische Sozialforum« wird ein ganzes Kapitel gewidmet; so drückt sich zum einen die Bedeutung der Begegnung hierin aus, zum anderen werden in den Erinnerungen auch relevante Kritiken angesprochen, etwa zum Euro­zentrismus in der deutschen Linken.

Auch den darauffolgenden Aktivitäten wird viel Raum gegeben. So gründete Ellen etwa die Kampagne »TATORT Kurdistan« mit, welche sich ab 2010 dem Ziel verschrieb, einen Internationalismus aufzubauen, der die deutsche Beteiligung am schmutzigen Krieg in Kurdistan in Form von Waffenlieferungen, aber auch die mit dem PKK-Verbot verbundenen Repressionen thematisiert und interveniert. Die Schwerpunkte waren Rüstungsexporte und »Infrastrukturprojekte«, womit Investitionen aus der BRD und dem Westen wie auch die ökologische Frage und Repression in Deutschland thematisiert wurden. Die Diskussionen, die entlang dieser Aktivitäten aufgespannt werden, sind weiterhin relevant. Ihre Darstellung dient der Einordnung der Projekte, die teils heute noch aktiv sind, als auch der Möglichkeit, aus ihnen zu lernen. Das Buch zeigt, dass es einen enormen Schatz an Wissen und Diskussionen gibt, an die es anzuknüpfen gilt, zumal die Themen aktueller denn je sind. An Ellen denken bedeutet somit auch, in diese Auseinandersetzung einzusteigen.

Frauenbiografien als Teil feministischer Kämpfe

»Wir wollen mit diesem Buch Lebensgeschichte von Frauen* schreiben. Weil wir es wichtig finden und es als Teil feministischer Kämpfe begreifen, Frauenbiografien und ihre Perspektiven sichtbar zu machen. Und wir wollen sie auch als ein Stück Zeitgeschichte linker Bewegungen und Kämpfe erzählen.«

So formulieren es die Herausgeber:innen zu Beginn des Buches. Nach der Lektüre wird sichtbar, wie sehr die Biografie von Ellen hierfür gemacht ist. Ellen hatte den Anspruch, kollektiv und feministisch zu leben. Anhand ihrer Geschichte werden verschiedenste Ausformungen dieses Anspruches deutlich, inklusive aller Schwierigkeiten. Schön ist hierbei, wie in dem Buch nicht nur die Projekte, etwa das FrauenLesben-Hinterhaus der Grüni in Berlin anschaulich werden, sondern auch immer Ellens Begeisterung, ihre Persönlichkeit und ihre Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen und sie zusammenzubringen. Zudem wird die Bedeutung dieser Projekte sichtbar.

Von der kurdischen Frauenbewegung zu lernen, ist ein weiterer wichtiger Bestandteil ihrer Biografie. 2010 organisierte sie gemeinsam mit weiteren Frauen eine Delegation nach Südkurdistan und in die Medya-Verteidigungsgebiete, um zu erfahren, wie kurdische Frauen leben, kämpfen und sich organisieren. Das Buch »Widerstand und gelebte Utopien«, welches aus dieser Reise hervorging und 2012 erschienen ist – im mittlerweile verbotenen Mezopotamien Verlag –, bleibt weiterhin ein wichtiges Dokument dieser Auseinandersetzung. Im selben Jahr begann Ellens eineinhalbjähriger Aufenthalt bei der Guerilla in den Bergen Kurdistans. Diesem Kapitel wird sehr viel Raum gegeben. So wird deutlich, mit welchen Wünschen, Zielen und Absichten Ellen in die Berge ging. Aber auch, mit welchen Schwierigkeiten sie und die Guerilla dort zu kämpfen hatten und haben. Die Erinnerungen, welche die Frauen aus den Bergen im Buch teilen, beschreiben dabei nicht nur Ellens Temperament, sondern auch die Realitäten in der Guerilla. Eindrücklich wird auch gezeigt, wie unterschiedlich die Situationen sind, mit denen Frauen konfrontiert sind. Dies sollte als Chance der Auseinandersetzung begriffen werden, in der es nicht zu mehr Spaltung, sondern zur Feier der Vielfältigkeit kommen sollte, ohne dass die spezifischen Kontexte aus den Augen verloren noch eurozentristisch-hegemoniale Positionen eingenommen werden.

Die Verfasserin dieser Zeilen hatte leider nicht das Glück, Ellen persönlich kennenlernen zu dürfen. Aber Ellens (Nach)Wirken, ihre Persönlichkeit und ihre Aktivitäten sind sehr aktuell und nah. Dieses Buch hilft dabei, die Präsenz dieser außergewöhnlichen Frau besser zu verstehen und ihr so auch im Nachhinein auf nochmals neue Weise zu begegnen. In Zeiten der miteinander zusammenhängenden und existenziellen Krisen und leider auch der Gleichgültigkeit vieler gegenüber diesen dienen die Geschichten von Frauen, von Minderheiten und Unterdrückten auch der Inspiration, sind es doch diese, die nicht aufgeben, die für eine bessere Welt kämpfen. Ellens Bemühen, verschiedene Kämpfe um Selbstbestimmung, um Freiheit, für Menschlichkeit, zusammenzubringen, sollte uns mehr denn je als Inspiration dienen, schließlich können wir es uns nicht leisten, die Dinge getrennt voneinander zu betrachten. Der Feminismus, wie Ellen ihn dachte, lebte, kommunizierte, versucht genau dies. Ellens »Mut, neue Schritte zu gehen« (Kapitel 12) soll uns in unseren aktuellen und kommenden Kämpfen begleiten.

Herausgeber:innenkollektiv
»Verändern wollte ich eine Menge – Aus dem Leben der Internationalistin Ellen/Stêrk«
Mai 2022
Preis: 12,00 Euro

Das Buch erscheint in der edition assemblage (https://www.edition-assemblage.de/buecher/veraendern-wollte-ich-eine-menge/) und kann über die Informationsstelle Kurdistan (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) ab dem 24. Mai bestellt werden.

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 Kurdistan Report 221 | Mai/Jubi 2022