Interview zur Situation in der Ukraine

... aber jetzt verstehen wir, was Krieg bedeutet

Gisela Rhein (kr) im Gespräch mit Maria und Stepan, zwei linken Aktivist:innen aus der Ukraine


Was bedeutet Liebe zum Land? Welche Kultur, welche Identität?
Was ist eine ukrainische Identität? Prägend waren in den letzten Jahrzehnten eine sowjetnostalgische und eine ukrainische. Die patriotische Haltung nimmt zu nach den Annexionen der Krim und im Osten.
Heißt eine »kritische Haltung« einnehmen, das Land schlechtzureden?
Der Angriffskrieg hat die Ukraine ukrainischer gemacht. Zuerst ein Zusammenrücken.
Russisch ist die Muttersprache von Millionen Ukrainer:innen. Jetzt ist sie die Feindessprache.
Westukrainer:innen geben Ostukrainer:innen die Schuld an der Besetzung im Donbass.

Ihr habt 2017 in Deutschland Asyl beantragt. Warum musstet ihr die Ukraine verlassen?

Wir hatten eine Kampagne an der Universität mit der Forderung nach besseren Bildungschancen und einer Bildungsreform mitorganisiert. Verbunden damit waren auch Parolen, die sich gegen die Militarisierung der Gesellschaft und den Krieg richteten. Eine zentrale Forderung war: mehr Geld für Bildung und nicht für den Krieg, und Friedensverhandlungen zur Lösung des Konflikts im Donbass.

Einige von uns wurden von rechtsradikalen Gruppen identifiziert und landesweit zum Hassobjekt. Es wurde regelrecht Jagd, medial und physisch, auf uns gemacht. Die meisten Aktivist:innen der Kampagne wohnten in Kiew, aber es wurde landesweit gegen uns als Linke gehetzt. Nach einer Messerattacke lag ich schwerverletzt im Krankenhaus.

Die Polizei nahm unsere Anzeigen nicht ernst, auch nicht nach dem Mordanschlag – sie wurden boykottiert. In den Strukturen der Polizei in der Ukraine finden sich viele Personen mit rechtsradikaler Gesinnung, was dazu führt, dass rechtsradikale Gewalttaten selten vor Gericht kommen. Es gibt Ausnahmen, wenn diese Gewalttaten internationale Aufmerksamkeit bekommen wie z.B. die Pogrome an Roma in Lwiw.

Der ukrainische Staat hat uns nicht geschützt, wir mussten um unser Leben fürchten und das Land verlassen.

Wie hat der deutsche Staat euch empfangen?

In Deutschland waren wir nicht willkommen. Niemand nahm uns ernst. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat unseren Antrag auf Asyl mit den gleichen Formulierungen abgelehnt, die auch Geflüchtete vor dem Krieg im Donbass damals in ihren Ablehnungen zu lesen bekamen: Das Leben in einem anderen Teil der Ukraine sei sicher. Die Ukraine gilt in Deutschland als Rechtsstaat, der seine Bürger:innen schützt. Nach der Ablehnung durch das BAMF haben wir vor Gericht geklagt. Die von uns vorgelegten Beweise (Unterlagen des Krankenhauses, Brief einer Menschenrechtsorganisation, Nachweis der Drohungen) wurden als glaubhaft eingestuft. Das Gericht hat entschieden, dass wir einen Anspruch auf Flüchtlingsstatus haben. Im europäischen Raum ist das eine seltene Entscheidung in Bezug auf die Ukraine.

Es waren für uns zwei Jahre voller Angst und Unsicherheit bis zur Anerkennung als Flüchtlinge.

Wie seht ihr die politischen Entwicklungen in der Ukraine nach der Besetzung von Gebieten im Donbass und dann der Krim?

Die Kriegssituation nach der Besetzung von Teilen des Donbass war allgegenwärtig in der Gesellschaft und prägte die Stimmung im Land. Nationalistische Tendenzen bekamen große Unterstützung, die ukrainische Sprache z. B. gewann als abgrenzendes Moment gegen Russland große Bedeutung, und das in einem Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung Russisch spricht.

Kritiker:innen dieses Nationalismus oder der Regierungspolitik wurden schnell als russische Agent:innen diffamiert. Der Vorwurf, russische Narrative zu verbreiten, pro Putin oder ein:e Verräter:in zu sein, war immer schnell zur Hand.

Die Probleme, die in russischen Medien angesprochen wurden, gab es auch wirklich in der Ukraine: Probleme mit rechtsradikalen Strukturen, Probleme mit der Meinungsfreiheit. Aber die russischen Medien haben sie bis ins Absurde übertrieben. Wurden die Probleme in der ukrainischen Gesellschaft ernsthaft kritisch thematisiert, setzte der vorher beschriebene Abwehrmechanismus ein und die Kritik wurde als russische Propaganda diffamiert.

Im Osten ist die Bevölkerung russlandfreundlicher, das heißt aber nicht, dass die Menschen Anhänger:innen Putins sind. Russ:innen gelten als Geschwistervolk. Dieser Teil der Bevölkerung leidet jetzt absurderweise am meisten unter dem Krieg. Charkiw, Mariupol, Odessa sind Städte mit mehrheitlich russischsprachiger ukrainischer Bevölkerung und vielen Anhänger:innen russischfreundlicher Parteien. Warum dieser Krieg? Er stößt auf Unverständnis und ist ein Schock.

In der Ukraine insgesamt gab und gibt es keine starken antimilitaristischen Kräfte, aber in der Bevölkerung herrschte ein großes Bedürfnis nach Frieden, denn in Wirklichkeit war der Krieg im Donbass kein begrenzter Krieg. Junge Männer aus dem ganzen Land waren als Soldaten im Osten und die ökonomische Lage hat sich stetig verschlechtert. Die Ukraine wurde mit jedem Kriegsjahr ärmer.

Hat sich das politische Klima nach der Wahl Selenskys verändert?

Selensky stand für den Versuch zu verhandeln, um eine Friedenslösung zu finden. Er hat sich gegen das gegenseitige politische Ausspielen der russischsprachigen und ukrainischsprachigen Bevölkerungsgruppen gestellt. Nach seiner Wahl kam es auch tatsächlich zu einer Deeskalation im Osten, es gab längere Waffenstillstandsphasen. Aber gleichzeitig haben nationalistische Teile der Zivilgesellschaft die Stimmung beeinflusst und weiter Druck aufgebaut gegen die Regierung. Die Regierung hatte also Gründe, die im Minsker Abkommen getroffenen Vereinbarungen nicht einzuhalten. Es galt innenpolitisch als riskant, z. B. die Föderalisierung der Ukraine umzusetzen.

Die Regierung hatte Angst vor Machtverlust und neuen Massenprotesten. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Gespenst des Majdan: Machtverlust, wenn gegen die Stimmung in der Bevölkerung politische Entscheidungen durchgesetzt werden, in diesem Fall die Umsetzung der Verhandlungslösungen. Selensky hat sich deshalb immer mehr dem nationalistischen und militaristischen Lager angenähert und die entsprechende Rhetorik benutzt.

Um solche Entwicklungen zu verstehen, muss man wissen, dass in der Ukraine Parteien mehr auf dem Papier als in der Praxis existieren. Parteien sind Apparate, die für die Wahlen geschaffen werden und nicht auf kontinuierlich aktive Mitglieder bauen. Eine Ausnahme sind die rechtsradikalen Parteien, die es aber nicht ins Parlament geschafft haben. So entstand übrigens auch die Partei »Diener des Volkes« [die Partei Präsident Selenskys; der Name beruht auf der Fernsehserie, mit der Selensky bekannt wurde].

Die Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft ist politisch uninteressiert, nicht engagiert und verhält sich politisch passiv. Selensky gelang es im Wahlkampf, ein breites Spektrum der Bevölkerung anzusprechen, aber nach den Wahlen und nach den Verhandlungen der Regierung mit Russland begannen die Proteste aus der Zivilgesellschaft dagegen. Selensky sah sich mit dem Vorwurf der Kapitulation und der Kremlfreundlichkeit konfrontiert. Unter diesem Druck kam es zu seinem Rechtsruck.

Welche Position nimmt die Linke im Krieg ein? Gibt es in der Ukraine eine Friedensbewegung?

Die politische Teilung in der Ukraine zeigt sich weniger in links und rechts als in prorussisch und prowestlich. Nach Beginn des Krieges haben sich die gegnerischen Lager zusammengeschlossen. Es gibt einen kollektiven Widerstand. Die Mehrheit der linken Aktivist:innen hat sich aktiv der territorialen Verteidigung angeschlossen oder organisiert humanitäre Hilfe bzw. organisiert die mediale Präsenz. Die Mitglieder der territorialen Verteidigung verfügen über weniger militärische Erfahrung und ihre Hauptaufgabe ist der Schutz der lokalen Bevölkerung. Es sind mehrheitlich Männer.

Am Beispiel des ehemaligen Präsidenten Poroschenko lässt sich die Wendung zum kollektiven Widerstand gut erkennen. Vor dem Krieg hat er Selensky als Verräter, der mit dem Feind verhandelt, beschimpft. Jetzt steht für ihn der gemeinsame Kampf gegen den Feind über allem.

Inzwischen sind die russlandfreundlichen Parteien in der Ukraine verboten, obwohl viele ihrer Anführer eine aktive Rolle in der territorialen Verteidigung und in der Armee spielen, z. B. in Charkiw.

Kleine linken Gruppen hatten und haben kaum Einfluss auf die Politik. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes, eine vor kurzem getroffene Entscheidung Selenskys, trifft kaum auf gesellschaftlichen Widerstand. Die Wirtschaft soll mit allen Mitteln unterstützt werden. Kritik von Seiten der Gewerkschaften und linker Gruppen wird nicht gehört und ist ohne Einfluss. Heute wird natürlich alles mit dem Krieg gerechtfertigt. Eine Friedensbewegung in der Ukraine? Was bedeutet Frieden in der Ukraine? Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt an die Notwendigkeit der Landesverteidigung. Vor dem Krieg gab es einzelne Proteste nach der Besetzung des Donbass gegen eine militärische Lösung, vor allem organisiert von Frauen. Ja, es gab Stimmen, die sich für die Beendigung des Konflikts durch Verhandlungen ausgesprochen haben, aber diese Stimmung wurde nicht umgesetzt in Organisierung. Deshalb hatte sie wenig Einfluss auf die Politik.

Wie stark sind faschistische Gruppierungen und ihre militärische und politische Organisierung?

Putin produziert in der Ukraine Faschisten. Sie profitieren vom Krieg, denn es ist eingetreten, was sie immer vorausgesagt haben. Ihre Vorbereitungen waren auf einen kommenden Krieg ausgerichtet. In der Gesellschaft sind sie eine Minderheit ohne breite Unterstützung. Sie genossen eine gewisse Anerkennung, weil ihre Freiwilligenbataillone im Donbass gekämpft haben. Aber wie kann man heute zum Beispiel das Asow-Regiment, das von rechtsradikalen Kräften dominiert wird, kritisieren – es sind doch unsere »Helden«, die unsere Stadt Mariupol verteidigen. Sollte die Ukraine den Krieg verlieren, werden diese Gruppen zu den Gewinnern zählen. Sie werden die Niederlage nutzen, um sich als Massenbewegung zu organisieren.

Aber auch im Fall eines Sieges der Ukraine wird die Kriegsdrohung durch Russland weiterbestehen und das ist der beste Boden für Faschismus und Nationalismus. Vor dem Krieg gab es noch die Chance, sich gegen Nationalismus und Rechtsradikalismus öffentlich zu äußern, aber diese Chance wird mit dem Krieg verschwinden. Dafür ist Putin verantwortlich.

Vor dem Krieg haben sich die Angriffe rechtsradikaler Gruppen auf die marginalisierten Gruppen der Gesellschaft konzentriert, hier haben sie ihr Feindbild gesucht. Das waren Linke, LGBT-Aktivist:innen, Feministinnen, Friedensaktivist:innen, Roma (rassistische Attentate). Wir haben schon vorher erwähnt, wie gut sie in den Sicherheitsstrukturen des Staates vertreten sind oder mit ihnen zusammenarbeiten im Kampf gegen ihre Feindbilder und sogenannte prorussische Strukturen. Dafür finden sich viele Indizien.

Die Antwort der ukrainischen Bevölkerung auf rechtsradikale Politik und Gewalt ist nicht so aktiv wie die der deutschen Zivilgesellschaft. In Deutschland wird darüber in den Medien berichtet und die Gesellschaft organisiert Widerstand. In der Ukraine wird verharmlost und Rechtsradikalismus abgestritten, es ist kein großes Ding nach Meinung der Mehrheit. Es gibt zwar keine rechtsradikale Partei im Parlament, aber viele Parlamentsmitglieder vertreten ähnliche Positionen wie die AFD in Deutschland. Organisierte Rechtsradikale werden nicht gewählt, haben aber gemessen an ihrer gesellschaftlichen Anerkennung einen unangemessen großen politischen Einfluss im Staat.

Wie nehmt ihr die Berichterstattung der Medien in Deutschland wahr?

Wir verfolgen vor allem die linke Presse. Die Zuweisung von gleicher Verantwortung für den Krieg an die NATO und Russland hilft nicht weiter. Es ist Russland, das bombardiert. Russland trägt große Schuld. Was die russische Armee in Syrien gemacht hat, wird ignoriert.

Alles, was sich gegen den Westen richtet, gilt als gut. Ja sicher, der Einmarsch Russlands wird als unrechtmäßig bezeichnet und verurteilt. Aber sofort danach beginnt die Liste der Vorwürfe gegen die NATO. Und am Ende steht keine Forderung oder die Forderung, keine Waffen zu liefern, begründet mit der historischen Verantwortung Deutschlands. Aber hat Deutschland keine historische Verantwortung gegenüber der Ukraine? Die Ukraine ist das Land, das Deutschland besetzt hat, hunderttausende Menschen wurden ermordet und viele Dörfer zerstört. Viele Ukrainer:innen haben in der Roten ­Armee gegen Hitler gekämpft.

Es muss das Recht auf Verteidigung der Ukraine anerkannt werden, denn es ist ein Verteidigungskrieg. Es gibt das elementare Recht auf Selbstverteidigung. Die Aufmerksamkeit für den Krieg wird leider ausgenutzt, um eine feindliche Stimmung gegen Russland zu schüren und damit auch eine antikommunistische Stimmung und die Aufrüstung Deutschlands zu begründen. Ein absurder Versuch, den Krieg antikommunistisch zu instrumentalisieren, ist der Vorstoß der CDU in Prenzlauer Berg, das Thälmann-Denkmal zu demontieren.

In Syrien ist u.a. die Türkei der Aggressor. Die Ukraine hat enge wirtschaftliche Verbindungen mit der Türkei und ist eine gute Kundin beim Kauf von Waffen. Wie ist eure Einschätzung dieser Beziehung?

Die Ukraine hat seit Jahren gute Beziehungen zur Türkei. Niemand in der Ukraine ist informiert über die Innen- und Außenpolitik der Türkei oder auch nur interessiert an ihr. Der billige Urlaub am Meer – das interessiert die Menschen an der Türkei. Viele Kurd:innen haben hier studiert, z. B. in Odessa, und sind geblieben. Aber sie sind isoliert von der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Es gab Proteste gegen die Angriffskriege der Türkei gegen Nord- und Ostsyrien und Angriffe auf die Protestierenden von nationalistischen Türk:innen. Verhaftet von der Polizei wurden die Protestierenden gegen die Angriffskriege.

Die Ukrainer:innen kämpfen gegen ein autoritäres, imperialistisches Land und holen sich die Unterstützung eines anderen autoritären Landes, das ist eine absurde Situation.

Die Türkei spielt jetzt eine Vermittlerrolle, denn sie hat wirtschaftliche Interessen in beiden Ländern. Das ist die gleiche absurde Situation wie bei den Verhandlungen in Minsk, die belarussische Regierung als Vermittlerin!

Welche Folgen des Krieges für die Nachkriegsgesellschaft in der Ukraine seht ihr?

Keine Nation ist durch Krieg reicher geworden, das lässt sich sicher sagen. Woher wird das Geld für den Wiederaufbau kommen? Die Ukraine war schon vor dem 24. Februar hoch verschuldet und das hat sich jetzt verschärft. Viele Menschen sind geflohen und es stellen sich die Fragen: Wer kommt zurück? Werden Arbeitsplätze da sein? Werden Fachkräfte da sein?

Einerseits heißt es, der Krieg schweißt uns zusammen, andererseits sehen wir heute, dass Flüchtlinge aus der Ostukraine im Westen des Landes kritisch kommentiert werden als russischsprachige Bevölkerung. Sind sie richtige Ukrainer:innen?

Der Hass gegen Russland wird groß sein, die Beziehungen zu Russland werden nie wieder die gleichen sein wie vor dem Krieg. Ich bin pessimistisch in diesem Punkt.

Und über die Gefahr erstarkter rechtsradikaler Kräfte haben wir vorher schon gesprochen.

Es ist uns wichtig, noch ein Wort zu Kurdistan zu sagen. Wir waren immer solidarisch mit dem Kampf der Kurd:innen, aber jetzt verstehen wir, was Krieg bedeutet.


 Kurdistan Report 222 | Juli/August 2022