Kunst in Amed vor und nach der Zwangsverwaltung

Das Gedächtnis der Stadt wurde geschaffen

Bariş Seyitvan


Bevor ich mit den künstlerischen Aktivitäten in Amed (tr. Diyarbakır) und vielen anderen Teilen Kurdistans vor und nach der Zwangsverwaltung beginne, möchte ich über eine für uns Kurden sehr wichtige Periode sprechen, die auf den Östlichen Reformplan zurückgeht. Dieser trat 1925 in Kraft und wurde aus dem Gedanken der Assimilierung des kurdischen Volkes und der Auslöschung der kurdischen Kultur heraus entwickelt. In diesem Prozess, in dem diejenigen, die nicht assimiliert werden konnten, mit Konsequenzen wie dem Exil konfrontiert wurden, ist es schwierig, von einer kulturellen Aktivität zu sprechen. Die Unterdrückung verschärfte sich mit dem Ausnahmezustand, der 1980 begann und in den neunziger Jahren das Niveau eines Krieges erreichte. Die Atmosphäre von Unterdrückung und Gewalt war in den vier Teilen Kurdistans unterschiedlich ausgeprägt. Binnenmigration und Auswanderung in verschiedene Länder Europas fanden in allen vier Teilen intensiv statt.

Die künstlerischen Tätigkeiten in Nordkurdistan (insbesondere in Amed) wurden einer ständigen Kontrolle unterzogen. Diese Kontrolle war ein Hindernis für die Expansion und Diversifizierung: Der Staat versuchte, etwas in eigener Regie zu schaffen, und alles andere wurde direkt verhindert. Die von der Zivilbevölkerung eröffneten Zentren wurden geschlossen. Im Jahr 1990 wurde das Stadttheater innerhalb der Stadtverwaltung von Amed gegründet. Im Jahr 1995 löste der Bürgermeister der Wohlfahrtspartei dieses Theater auf. Die Künstler, die im Theater arbeiteten, wurden in andere Gemeinden geschickt, einige wurden entlassen, einige wurden als Reinigungspersonal eingesetzt, andere als Polizeibeamte. Diejenigen, die in andere Gemeinden gingen, versuchten private Theater zu gründen und schufen unter schwierigen Bedingungen Theater, oft in Kellern.

Logo des Kulturzentrums Mesopotamien (Navenda Çanda Mezopotamya, NÇM)Das Kulturzentrum Mesopotamien (Navenda Çanda Mezopotamya, NÇM), eine für diese Zeit sehr wichtige Einrichtung, wurde 1991 in Istanbul gegründet und 1993 in Amed eröffnet. Später wurde es auch in Izmir, Dîlok (Antep) und Riha (Urfa) aufgebaut. Die Zweigstelle in Amed konzentrierte sich auf Musik und Folklore. Koma Azad, eine der Bands aus dieser Zeit, war sehr populär geworden. Im Jahr 1995 wurde dieses Zentrum durch eine Polizeirazzia geschlossen. Doch in den Jahren 1997 und 2000 wurde es immer wieder neu eröffnet, aber stets nach kurzer Zeit wieder geschlossen. Danach wurde es unter den Namen Medkom, Dicle Fırat Culture oder Dicle Fırat Frauenzentrum erneut eröffnet – auch diese Zentren wurden geschlossen. Besonders in dieser Zeit standen alle künstlerischen Betätigungen unter Kontrolle.

In den 90er Jahren mussten die Theatertexte vor der Aufführung an die Polizei geschickt werden. Diese korrigierte die Textteile, die sie für unangemessen hielt und schickte die korrigierte Fassung zurück. Erst dann konnte das Stück aufgeführt werden. Während der Aufführung kam die Polizei mit mindestens zwei Kameras und machte Aufnahmen. Das galt auch für Ausstellungen und Konzerte. Es gab eine Politik des ständigen Drucks und der Einschüchterung.

Von den achtziger bis zu den neunziger Jahren wurde in allen künstlerischen Disziplinen, insbesondere in Musik- und Folkloregruppen, koproduziert oder sogar gemeinschaftlich produziert. Wenn eine Musikgruppe auf der Bühne auftreten oder ein Theaterstück aufgeführt werden sollte, stürmte die Polizei die Bühne und erließ Auflagen wie »Dieses Gruppenmitglied darf nicht auftreten, jenes Gruppenmitglied darf nicht auftreten«.
Der einzige Bereich, in dem der Staat keinen Druck ausüben oder Verbote aussprechen konnte, waren die Dengbêj. Der Staat konnte die Menschen nicht daran hindern, in ihren eigenen Häusern Kilam und Stran zu singen. Natürlich hätte er das auch getan, wenn er es gekonnt hätte. Trotz aller Hindernisse wurde in den 90er Jahren sehr ernsthaft gearbeitet, es war eine sehr wertvolle Zeit. Durch den Druck in dieser Zeit gab es eine Energie, die sehr explosiv war.

Während der gesamten 90er Jahre gab es allein in einem einzigen Bezirk Tausende von ungeklärten Morden. Die Gewalt sowohl des Staates als auch der Hisbollah entwickelte sich zu einem Kriegsprozess, und diese Situation löste psychische Probleme bei den Menschen aus. Die Menschen wurden daran gehindert, sich kulturell zu betätigen und von einem Ort zum anderen zu reisen. Die dies trotzdem taten, wurden mit dem Tod bedroht.

In den 2000er Jahren kam eine andere Dynamik ins Spiel. Es entsteht ein neuer Institutionalisierungsprozess. Durch die Beziehungen zu anderen Metropolen des Landes entwickelte sich eine andere Art von Kunstpraxis. In den 2000er Jahren wurde diese Energie sowohl von Einzelpersonen als auch von Institutionen freigesetzt. Gleichzeitig wird die Last eines großen Traumas getragen. Es ging auch darum, die psychischen Wunden zu überwinden, die unzählige Todesfälle und Folterungen verursacht hatten.

Nach den Kommunalwahlen im Jahr 2000 kamen die Kommunalverwaltungen unter kurdische Kontrolle. In dieser Zeit begannen sich positive kulturelle Einflüsse abzuzeichnen. Das »Amed Kultur- und Kunstfestival« wurde erstmals 2010 organisiert. Dieses und weitere Festivals wurden eine Woche lang, verteilt über die ganze Stadt, ausgetragen. In dieser Zeit wurden nationale und internationale Musiker, Filmemacher, Maler, Schauspieler, Schriftsteller und tausende andere Künstler aus anderen Bereichen eingeladen. Diese Festivals haben große Synergien geschaffen. Bei diesem Prozess ging es nicht nur darum, Konzerte, Ausstellungen, Literaturveranstaltungen oder Theaterstücke und Kinovorstellungen durchzuführen. Es fanden gleichzeitig auch Workshops zu unterschiedlichen Themen statt. Dutzende von Menschen, die von diesen Workshops profitierten, setzten später ihre Arbeiten fort.

Gleichzeitig wurden auch junge Menschen und eine neue Generation durch diese Aktivitäten motiviert. Und das Licht einer Zukunft im Bereich der kulturellen Aktivitäten wurde entzündet. Zu Beginn der 2000er Jahre kam es zu einer Mobilisierung. Die Menschen wollten Spaß haben, wollten sich austauschen, wollten Kunst gestalten. Wir können sagen, dass all diese Veranstaltungen dazu beigetragen haben, einen aktiven Boden für Diskussionen zu schaffen.

Viele unserer heutigen Freunde in Amed wurden in jenen Jahren geistig kreativ. Die Festivals boten eine institutionelle Infrastruktur, aber sie hatten Probleme mit den Veranstaltungsorten. Denn die Verwaltungen hatten gerade erst ihre Arbeit aufgenommen. Frühere Bürgermeister der Stadt unterstützten Kultur und Kunst nicht, die bestehenden Veranstaltungsorte waren geschlossen und in Moscheen, Konferenzsäle usw. umgewandelt worden.

Nach 2011 wurden die Festivals in Schauspiel-, Theater- und andere Kunstsparten unterteilt. Während dieser Festivals wurden in der Stadt Kinofestivals, Theaterfestivals, Konzerte, Ausstellungen und Literaturtage abgehalten.

Anfang der 2000er Jahre wurden zusätzlich zu den Festivals die Dicle-Fırat-Kulturinstitution und andere Einrichtungen gegründet, und es wurden unabhängige Theater eröffnet. Zur gleichen Zeit gab es eine ernsthafte Bewegung im Bereich der Kultur und Kunst in Mardin, Batman und Van. Das Yılmaz Güney-Kino in Batman nahm wichtige Projekte in Angriff. Doch dieses Kino brannte nieder – es hieß, es sei angezündet worden. In dieser Zeit führten die Beteiligung verschiedener Organisationen, verschiedener Städte und die verstärkten internen Debatten zu einer Diversifizierung und Differenzierung der kulturellen Aktivitäten.

Vor allem nach 2010, mit der Stärkung der lokalen Verwaltungen, nahm die Zahl der Kultur- und Kunststätten zu. Die Stadtverwaltung von Amed eröffnete das städtische Aram-Tigran-Konservatorium und die Stadtverwaltung von Kayapinar die Cegerxwîn-Akademie. Diese Konservatorien begannen, Kurse in Folklore, Film , Malerei, Literatur, Theater und Musik anzubieten. Die Dauer dieser Kurse betrug 3 Jahre. Gleichzeitig wurden auch die Kinder in diesen Kunstdisziplinen ausgebildet. Zugleich konnten alle Künstler in der Region technische und theoretische Unterstützung von diesen Konservatorien erhalten. Lehrkräfte und Studenten der Konservatorien begannen, Bildungen in den Kulturzentren zu veranstalten, die von der Stadtverwaltung von Amed in den Dörfern der drei Provinzen eröffnet wurden.

Auf dem Gebiet des Theaters wurde sehr wichtige Arbeit geleistet, und es wurden Tourneen durch die ganze Region unternommen. Es war ein Bereich, an dem die Öffentlichkeit großes Interesse zeigte. Im Jahr 2011, nachdem das Theater in der Stadt Amed den Status eines Stadttheaters erhalten hatte, wurden mehr Produktionen inszeniert. Diese zogen die Aufmerksamkeit der Menschen in der ganzen Stadt auf sich, und fast alle Stücke wurden in vollen Sälen aufgeführt. Mit den Theaterwettbewerben zwischen den Gymnasien und den Theaterfestivals wurde hier eine sehr wichtige Arbeit geleistet. Darüber hinaus wurden Wettbewerbe für das Verfassen von Theaterstücken organisiert und die ersten ausgewählten Stücke wurden aufgeführt.

Auch im Bereich der bildenden Künste wurden Arbeiten erstellt. Die wichtigste Kunstgalerie der Region, die Amed-Kunstgalerie, wurde 2010 im Amed-Sümer-Parkkomplex eröffnet. Diese Galerie war für alle professionellen Künstler offen. Jährlich gingen Anträge ein, es wurden Bewertungen vorgenommen und die Ausstellungen entsprechend geplant. Hier fanden viele wichtige Ausstellungen mit Arbeiten aus der Region, anderen Teilen Kurdistans, aus Istanbul und Europa statt. Darüber hinaus waren die Internationalen Amed-Fototage, die gemeinsam von der Stadtverwaltung Amed, der Industrie- und Handelskammer, dem Difak und dem Kunstzentrum Amed organisiert wurden, ein sehr wichtiges Ereignis. Während dieser Veranstaltung konnten Hunderte von Menschen an Workshops, Seminaren, Diskussionsrunden und Ausstellungen teilnehmen.

Die durchschnittliche Besucherzahl in der oben erwähnten Kunstgalerie von Amed lag bei 3000-4000 Personen. Schulen in Amed wurden kontaktiert, und die Schüler wurden zu den Ausstellungen gebracht. Später verbot das Ministerium für Bildung den Schülern den Besuch der Kunstgalerie.

Darüber hinaus führte die oben erwähnte Abteilung für soziale Dienste der Stadtverwaltung Amed Sümerpark in vielen Bereichen Aktivitäten durch (Frauenzentrum, Behindertenzentrum, Kinderzentrum und Sportzentrum). Auch Keramik-, Bildhauerei- und Malkurse wurden hier angeboten. Gleichzeitig konnten alle NGOs in der Stadt von den Hallen hier profitieren.

Im Amphitheater Sümerpark fanden in regelmäßigen Abständen Konzerte und Musikveranstaltungen statt. Die »Mehmed-Uzun-Stadtbibliothek«, die in diesem Komplex eröffnet wurde, war ein wichtiges Zentrum. Außerdem wurde hier das Koordinierungszentrum für das Gefängnis Nr. 5 in Amed eröffnet, womit die Arbeiten aufgenommen wurden, um das Gefängnis von Amed in ein Museum umzuwandeln. Die damit zusammenhängenden Archivierungsarbeiten wurden ebenfalls begonnen.

Die Stadtverwaltung von Amed restaurierte 2014 in der Stadt auch das Herrenhaus von Cemîl Paşa und wandelte es in ein Stadtmuseum um. In sämtlichen Archiven wurde nach Dokumenten gesucht, um die Stadt wieder zu rekonstruieren.

Bis 2016 erschienen im Bereich Kultur und Kunst Bücher über die Geschichte, Kultur, Dengbêj, die Esskultur und die Geschichte aller Provinzen der Stadt. Dengbêj- und Künstleranthologien wurden herausgebracht. Das Gedächtnis der Stadt wurde geschaffen und aufgezeichnet. Bücher, die einen wichtigen Platz in der Welt einnehmen, wurden ins Kurdische übersetzt.

Vor allem im Bereich von Kino und Film arbeitete die »Middle East Film Academy« in Amed ebenfalls an sehr wichtigen Projekten.

Zwischen 2000 und 2016 koordinierten die Stadtverwaltungen von Amed und anderen Gemeinden in Nordkurdistan ihre Arbeit.

Kunst nach der Zwangsverwaltung

Ende 2016 wurde ein Zwangsverwalter für die Stadtverwaltung von Diyarbakır ernannt. Er entließ zunächst 32 Künstler, die für die Gemeinde arbeiteten. Die in den verschiedenen Gemeinden ernannten Zwangsverwalter begannen, die dort vorhandenen Kultur- und Kunststätten zu schließen. Dazu gehörte auch das städtische Konservatorium Aram Tigran. Die Cegerxwîn-Akademie wurde aufgelöst und dort eine Koranschule eingerichtet. Die Amed-Kunstgalerie wurde in ein Sportzentrum und eine andere Galerie in eine Moschee umgewandelt, und ein Brand zerstörte das gesamte Archiv. Die Schauspieler des Stadttheaters sind entlassen worden und das Koordinationszentrum des Gefängnisses Nr. 5 in Amed wurde geschlossen. Unabhängige Kunstzentren, die in der Stadt existierten, mussten ebenfalls schließen, wie im Fall des Dicle Fırat Kulturzentrums.

Neben der Stadtverwaltung wurden auch die Direktoren und Künstler der Kultur- und Kunstdirektionen in den mit dem Zentrum verbundenen Provinzgemeinden entlassen. Das Kultur- und Kongresszentrum, das seit vielen Jahren geplant war, für dessen Bau aber keine staatlichen Mittel bereitstanden, war in schwierigen Bauphasen unterstützt worden. Der Bau, der 2012 begonnen worden war, wurde im Jahr 2016 abgeschlossen. Die Einweihung dieses Gebäudes, das einen Saal für 1000 Personen, Theater- und Kinosäle, Unterrichtsräume und Ausstellungsräume umfasst, vereinnahmte der durch die Zwangsverwaltung ernannte Treuhänder. So sollte der Bevölkerung suggeriert werden, dass das Gebäude durch die Zwangsverwaltung errichtet worden wäre.

Kurz gesagt: die Gemeinden in Amed und alle Kultur- und Kunstzentren, Nachbarschaftshäuser und Kinderzentren, die diesen Gemeinden angeschlossen waren, wurden geschlossen.

Mit der Intervention des Zwangsverwalters wurde der begrenzte Platz für Kulturaktivitäten erneut zu einem Problem. Doch in der Folgezeit schlossen sich die Akteure des MA Music und des Stadt Theaters (Sanoya Bajêr a Amedê) zusammen, um neue Spielstätten zu schaffen. Darüber hinaus eröffneten in der Stadt zahlreiche unabhängige Kunstinitiativen und Kunstzentren. Außerdem hat der »Kultur- und Kunstverein Dicle« seine Aktivitäten und Schulungen erneut aufgenommen. Diese Kunstzentren führen in Amed wieder ernsthafte kulturelle und künstlerische Aktivitäten durch.

Weiterhin leistet das EU-Projekt »Space for Culture« im Rahmen des Treuhandprozesses seit etwa fünf Jahren wirtschaftliche Unterstützung für Künstler, Kunstinitiativen und Kunstzentren in Amed, Mardin und Batman. Auch andere Organisationen bieten hier ebenfalls Unterstützung an.


 Kurdistan Report 222 | Juli/August 2022