Editorial

Liebe Leser:innen,

nach etwas mehr als einem halben Jahr Ampel-Koalition in Deutschland können wir festhalten, in der Türkeipolitik der Bundesregierung hat sich rein gar nichts geändert. Nicht, dass wir große Hoffnungen gehegt hätten. Aber in welcher Geschwindigkeit insbesondere die Grüne Außenministerin ihre Kritik am Erdoğan-Regime ad acta gelegt hat und sich nun der Pflege der deutsch-türkischen Beziehungen widmet, mag doch den einen oder anderen etwas überraschen. Aus dem Außenministerium fallen jedenfalls keine kritischen Worte zum Krieg der Türkei in Südkurdistan, der übrigens vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages für völkerrechtswidrig erklärt wurde. Nichts zu hören ist von Frau Baerbock und ihrem Ministerium auch über die erneuten Kriegsdrohungen Erdoğans gegenüber Nord- und Ostsyrien oder die Massenfestnahmen von kurdischen Politiker:innen und Journalist:innnen in der Türkei und Nordkurdistan. Stattdessen wird die »wiederentdeckte« Bedeutung von Ankara in der NATO gewürdigt, während das Innenministerium die schmutzige Türkeipolitik der Bundesregierung mit einer Abschiebeoffensive von Kurd:innen aus Deutschland flankiert. Deutschland leistet damit weiterhin seinen bedeutenden Beitrag für den Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Und wenn es nach Erdoğan geht, sollen die Staaten Finnland und Schweden, deren Beitritt in den Nordatlantikbund derzeit durch ein Veto aus Ankara blockiert wird, auch verstärktes Engagement gegen den Freiheitskampf der Kurd:innen im Mittleren Osten und die Revolution von Rojava zeigen.

Das sind politische Schachzüge, die wir vom Erdoğan-Regime mittlerweile sehr gut kennen. Praktisch die gesamte Außenpolitik des eigenen Landes wird auf die Bekämpfung der kurdischen Freiheitsbewegung ausgerichtet. Ganz im Sinne der politischen Erpressung versucht die AKP Unterstützer:innen für ihren Kurs zu gewinnen. Welche Folgen diese Erpressungspolitik hat, sehen wir in den Kriegsregionen und den besetzten Gebieten Kurdistans. In Efrîn hat nun nach internen Machtkämpfen wohl der syrische Al-Qaida Ableger Hayat Tahrir al-Sham die Macht an sich gerissen. 2018 hatte die Türkei mit Hilfe von deutschen Leopard II Panzern Efrîn besetzt und dadurch diesen Entwicklungen den Weg geebnet. Nun droht die Türkei damit, Minbic und Tell Rifaat im Nordwesten Syriens anzugreifen. Und erneut scheint es für dieses Vorhaben stillschweigende Unterstützung aus Berlin zu geben …

Doch trotz aller widrigen Umstände, trotz aller Angriffe und Kriege begeht die Revolution von Rojava ihren zehnten Jahrestag. Kaum zu glauben, wie dieses System, das auf Basisdemokratie, Geschlechterbefreiung und ökologischem Bewusstsein basiert, trotz aller Angriffe der Türkei, des IS und anderer islamistischer Gruppierungen und trotz des Baath-Regimes kontinuierlich gewachsen ist und für immer mehr Menschen und Gemeinschaften ein würdevolles Leben möglich gemacht hat. Heute steht Rojava symbolisch für eine andere, für eine gerechtere Welt und findet überall auf dem Globus Anhänger:innen und Unterstützer:innen, die bereit sind, diese Revolution als ihre eigene zu verteidigen. Aus diesem Grund möchten wir uns allen zu diesem bedeutenden Jubiläum gratulieren und selbstverständlich aller Frauen und Männer gedenken, die bei der Verteidigung der Errungenschaften Rojavas ihr Leben lassen mussten.

Eure Redaktion

 


 Kurdistan Report 222 | Juli/August 2022