Kurdistan und Cherán:
Die Rache am Nationalstaat
Alberto Colin und Ali Cicek
Alberto Colin und Ali Cicek schreiben über die Erfahrungen des Kampfes in Cherán (Mexiko) und Kurdistan, um Ähnlichkeiten und Unterschiede in beiden revolutionären Prozessen zu vergleichen, in denen Demokratie, Ökologie und die Frauenbefreiung die Säulen einer neuen Gesellschaft darstellen.
Die Revolution in Kurdistan und das Paradigma der demokratischen Moderne sind für viele demokratische Kräfte auf der ganzen Welt zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden. Der Kampf der Freiheitsbewegung Kurdistans, dessen Beginn sich in diesem Jahr zum 44. Mal jährt, lehrt uns nicht nur, wie man sich den brutalen Angriffen der Nationalstaaten erfolgreich widersetzen, sondern auch, wie eine alternative Lebensweise jenseits von Staat und Macht aufgebaut werden kann. Es besteht eine Gleichzeitigkeit von Aufbau und Widerstand in der Revolution in Kurdistan. Während in Nordkurdistan (Bakur) und Ostkurdistan (Rojhilat) die Kämpfe und Proteste gegen die unterdrückerischen Regime weiter andauern, wird in Regionen wie Rojava, Şengal und Mexmûr mithilfe von lokalen Selbstverwaltungsstrukturen der Aufbau des demokratischen Konföderalismus vorangetrieben.
Die Revolution in Kurdistan beschränkt sich nicht darauf, zu reagieren, sondern handelt als politisches Subjekt, das sich in allen Lebensbereichen organisiert, sei es in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, in der Bildung oder der Kultur. Mit diesem Ansatz versucht sie, alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft einzubeziehen. Dabei betrachtet die Freiheitsbewegung Kurdistans ihren Widerstand in einem internationalen Kontext, und die Säulen ihres Paradigmas (radikale Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie) stellen zentrale Prinzipien für den Aufbau einer antikapitalistischen Alternative dar. Die nationalstaatliche Politik des Völkermords und der Assimilation ist nicht auf den Mittleren Osten beschränkt, sondern hat eine globale Dimension. Der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan weist darauf hin, dass die vierhundertjährige Geschichte der kapitalistischen Moderne zugleich die Geschichte einer Art Genozid im Namen der homogenen Nation an der multiethnischen, multikulturellen Gesellschaft mit ihren diversen politischen Gebilden und ihrer Selbstverteidigung ist. Darunter sind meist kulturelle, teils auch physische Genozide zu verstehen. Öcalan erklärt dazu: »Gegen diese Geschichte ist der demokratische Konföderalismus hingegen die Geschichte des Beharrens auf Selbstverteidigung, Multiethnizität, Multikulturalität und verschiedenen politischen Strukturen« (Öcalan, 2020, Seite 331). Das Gegenstück zum Nationalstaat, der grundlegenden Staatsform der offiziellen Moderne, bildet in der demokratischen Moderne das demokratisch-konföderalistische System. Dieses können wir als eine nichtstaatliche politische Regierungsform definieren« (Öcalan, 2020, Seite 329).
Regionale Autonomien haben ihre Existenz gegen Zentralregierungen bewahrt
Im Prozess, in dem der Nationalstaat die Gesellschaft, die Nation basierend auf einer dominanten Ethnie, Religion, Konfession oder einem andere Gruppenphänomen homogenisierte, versuchte man viele Traditionen und Kulturen entweder durch Genozid oder Assimilation zu vernichten. Tausende von Stämmen und Völkern wurden praktisch ausgerottet, ebenso wie ihre Sprachen, viele Religionen, Glaubensrichtungen und Sekten wurden verboten, Folklore und Traditionen assimiliert, und wer nicht assimiliert werden konnte, wurde vertrieben, marginalisiert, der Zusammenhalt zersplittert. Öcalan zufolge bedeutet dies, dass alle historischen Existenzen, Kulturen und Traditionen »einem historisch-gesellschaftlich sinnlosen Nationalismus nach dem Motto ›eine Sprache, eine Fahne, eine Nation, ein Vaterland, ein Staat, eine Hymne, eine Kultur‹« (Öcalan, 2020, Seite 385) geopfert wurden. Überall dort, wo es Ausbeutung und Unterdrückung gibt, beginnt sich jedoch Widerstand zu formieren. Öcalan definiert diesen Widerstand auf folgende Weise: »Der Widerstand von Kulturen erinnert an die Blumen, die ihre Existenz beweisen, indem sie Felsen durchbohren oder den über sie ausgegossenen Beton der Moderne durchbrechen und wieder ans Tageslicht treten« (Öcalan, 2020, Seite 385). Darüber hinaus betrachtet er die autonomen Verwaltungen in Städten, Gemeinden und Regionen, die es im Laufe der Zeit in großer Zahl gegeben hat, als eine wichtige kulturelle Tradition, die dem Nationalstaat zum Opfer gefallen ist. Öcalan zufolge haben diese verschiedenen städtischen, lokalen und regionalen Autonomien ihre Existenz bewahrt, weil die Zentralregierungen nicht in der Lage waren, eine vollständige Homogenität auf allen Kontinenten durchzusetzen oder zu verwirklichen: »Von der Russischen Föderation bis nach China und Indien, vom gesamten amerikanischen Kontinent (die USA sind ein föderaler Staat, in Kanada wird weitgehende Autonomie praktiziert, Südamerika kennt ohnehin signifikante lokale Autonomien) bis zu vielen Ländern in Afrika (in Afrika lassen sich Staaten ohne traditionelle Stammes- und Regionalführungen weder bilden noch regieren) gehören Autonomien und Bemühungen um Autonomie zu den aktivsten und aktuellsten Themen. Der starre Zentralismus, eine Krankheit des nationalstaatlichen Denkens, kommt nur in einer begrenzten Zahl von nahöstlichen Staaten und anderen Diktaturen zur Anwendung« (Öcalan, 2020, Seite 392).
Befreiung von der Pest des Nationalstaates
Aus der Sicht von Öcalan ist die Befreiung der Stadt, des Lokalen und des Regionalen ein unvermeidlicher Teil der Befreiung von der Pest des Nationalstaates. Eine solche Befreiung hat nicht nur in Kurdistan stattgefunden, sondern auch an anderen Orten. An diesen Orten gibt es nicht nur Widerstand, sondern auch den Aufbau demokratischer Autonomie. Die indigene P’urhépecha-Gemeinschaft von Cherán, im Westen Mexikos im Bundesstaat Michoacán gelegen, führt einen ökologischen Kampf durch Selbstverwaltung und den Widerstand der Frauen. Der Aufstand begann am 15. April 2011, um die örtlichen Kiefernwälder vor der illegalen Abholzung durch Holzfäller zu schützen, die mit kriminellen Gruppen verbunden sind, geschützt durch die staatliche Polizei. Die Einwohner von Cherán haben errechnet, dass in einem Gebiet mit 27 000 Hektar Wald innerhalb von fünf Jahren etwa 20 000 Hektar Wald abgeholzt wurden. Das Ausmaß dieser Verwüstung war enorm.
Seit 2009 wurden rund zwanzig Bürger:innen aus Cherán von bewaffneten Gruppen, die an diesem illegalen Holzeinschlag beteiligt sind, getötet, verschwanden oder wurden inhaftiert. Diese Gruppen verbreiten mit Waffengewalt Angst in der Gesellschaft. Die Stadtregierung hat über ihre politische Partei nie Garantien für Gerechtigkeit angesichts solcher Ereignisse gegeben, ihre Korruption war offensichtlich. Die Einwohner:innen von Cherán mussten bald feststellen, dass dieselben lokalen Behörden mit den kriminellen Organisationen, die das Gebiet kontrollierten, gemeinsame Sache machten. Am 15. April 2011 beschlossen Frauen, Jugendliche, Lehrer:innen, Bauer:innen, Straßenhändler:innen, Handwerker:innen und Harzsammler:innen aus Cherán, sich den Holzfällern entgegenzustellen, um der Plünderung des Waldes Einhalt zu gebieten und dem Machtmissbrauch, den Erpressungen des organisierten Verbrechens, den Inhaftierungen und der gesamten Gewalt in der Gemeinde ein Ende zu setzen.
Angesichts dieser Situation hat die Gemeinschaft (mit Frauen und Jugendlichen an der Spitze) einen zähen Kampf mit verschiedenen Strategien begonnen: Zunächst reagierten sie mit einer direkten und bewaffneten Konfrontation mit »den Bösen«, wie die Einwohner von Cherán die Kriminellen nennen, gefolgt von der Vertreibung der örtlichen Polizei und der Stadtverwaltung. Nach dieser Konfrontation wurde eine Strategie der institutionellen Verhandlung angewandt, um Vereinbarungen mit der Landesregierung zu treffen, um eine Lösung des Konflikts durch politische Lobbyarbeit zu erreichen. In diesem Fall war der gegen-hegemoniale Einsatz des Rechts als Instrument zur friedlichen und legalen Konfliktlösung von größter Bedeutung. Dies bedeutete, dass das mexikanische Wahltribunal der Bundesjustiz das Recht der Gemeinde Cherán anerkannte, ihr eigenes System der Vertretung und der kommunalen Verwaltung zu schaffen. Indem sie sich auf ihre Rechte als indigenes Volk berief, erlangte die indigene Gemeinschaft von Cherán eine historische Anerkennung ihrer eigenen Regierungsform, d.h. ihrer politischen Autonomie in Bezug auf die Beziehungen zum mexikanischen Staat.1
Der Gesellschaft dienen
Im ersten Jahr des Aufstands errichtete die rund 20 000 Einwohner:innen zählende Gemeinschaft 189 Lagerfeuer in den Straßen von Cherán, die die erste Keimzelle für die Organisation innerhalb der Nachbarschaften und gleichzeitig ein Mechanismus der Selbstverteidigung waren. In jeder Straße versammelten sich die Nachbar:innen um die Lagerfeuer, um vierundzwanzig Stunden am Tag Wache zu halten, ihre täglichen Mahlzeiten zuzubereiten und sich gemeinsam vor den »Bösen« zu schützen. Dieser Schutz erfolgte durch die Wiederbelebung der Ronda Comunitaria (Gemeinschaftsrunde), einer Gemeinschaftsorganisation, die für Sicherheit und Wachsamkeit sorgte und an der sich die Nachbarn aus jedem Viertel abwechselnd beteiligten. Die Lagerfeuer blieben fast ein Jahr lang in den Straßen aktiv, was es den Bewohner:innen ermöglichte, ihre sozialen Bindungen wiederherzustellen und die gemeinschaftlichen Beziehungen zu stärken, um sich politisch zu organisieren. Es war dieser Raum rund um das Feuer, in dem sie über ihr Projekt der politischen Autonomie sprachen, darüber nachdachten und sie aufbauten. So wurde beispielsweise durch die Diskussionen und Vereinbarungen an den Lagerfeuern der Beschluss gefasst, eine kommunale Regierung unter der Leitung eines Ältestenrats zu schaffen. Der Rat besteht aus zwölf Ältesten (drei Mitglieder aus jedem der vier Viertel, den K’eris, was in der P’urhepecha-Sprache »groß« bedeutet), die von einer Versammlung per Handzeichen gewählt werden. Sie bilden eine kollektive Körperschaft, die von zwei Grundprinzipien geleitet wird: den Anderen und der Gesellschaft zu dienen. Die Regierungsstruktur dieses Systems besteht aus acht operativen Räten, die die Aufgaben der sozialen Koordinierung der Stadt übernehmen. Dazu gehören: der Rat für Gemeinschaftseigentum, der Rat für lokale Verwaltung, der Rat für Nachbarschaftskoordination, der Rat für Justiz und Schlichtung, der Jugendrat, der Frauenrat, der Rat für Bürger:innenangelegenheiten und der Rat für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Programme. Diese Räte setzen sich ebenfalls aus Männern und Frauen aus jedem Viertel zusammen, die in einer Generalversammlung für drei Jahre gewählt werden. Gegenwärtig übt Cherán weiterhin sein Recht als indigene Gemeinde aus, sich selbst zu verwalten und eine eigene Sicherheitsorganisation zu unterhalten, die sich aus den Mitgliedern derselben Einwohner:innen von Cherán zusammensetzt. Einwohner:innen, die ihr politisches Schicksal selbst in die Hand nehmen, radikale Demokratie in die Hand nehmen und den Slogan »Für die Sicherheit, die Gerechtigkeit und die Wiederherstellung unseres Territoriums« (Concejo Mayor de Gobierno Comunal de Cherán, 2017) mit Leben füllen.
Es gibt viele Parallelen zwischen der Freiheitsbewegung Kurdistans und dem Autonomieprojekt in Cherán, die es wert sind, hervorgehoben zu werden. Beide revolutionären Prozesse, die Revolution in Rojava und das Autonomieprojekt in Cherán, wurden vor einem Jahrzehnt eingeleitet und offenbaren, wie ähnliche Formen der Gewalt von Nationalstaaten und kapitalistischer Kriegsführung gegen verschiedene Völker innerhalb des Weltsystems eingesetzt werden. Im Fall von Cherán versuchte die extraktivistische Gewalt, die Wälder von Cherán in eine Ware für den illegalen Handel zu verwandeln, während die Bevölkerung von Cherán versuchte, ihre Mittel zur Reproduktion des Lebens zu erhalten, und in diesem Sinne spielten die Waldwächter und die ronda communitaria eine wesentliche Rolle bei ihrer bewaffneten Verteidigung. In Kurdistan ist es offensichtlich, dass verschiedene imperialistische und koloniale Mächte versucht haben, die kurdische Gesellschaft durch genozidale Strategien zu enteignen, es seiner Kultur und seiner Lebensweise zu berauben. Strategien wie der Einsatz chemischer Waffen, um die kurdische Guerilla auszuschalten, oder die Sperrung der Flüsse Euphrat und Tigris, um das Wachstum der nichtstaatlichen gesellschaftlichen Organisierung zu verhindern, sind hierbei zentrale Beispiele. In diesem Fall haben die verschiedenen Verteidigungseinheiten die Aufgabe, das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen und auf feindliche Angriffe zu reagieren.
Neue Definition demokratischer Politik
Ein weiterer Aspekt ist die integrale Rolle der Frauen in diesen Widerstandsbewegungen, die in ihren jeweiligen Organisationen eine führende Rolle spielen und sich als Vorhut der revolutionären Prozesse positionieren. Die Frauen von Cherán waren die ersten, die sich organisierten, um die Bäume rund um die nächstgelegene Wasserstelle der Gemeinde zu verteidigen, dem Ort, an dem der Aufstand begann. Was die kurdische Gesellschaft betrifft, so war es ganz klar, dass die Revolution der Frauen zentral für die Revolution Kurdistans ist. Ihre Rolle in diesem revolutionären Kampf ist praktisch seit der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entscheidend. Eine Rolle, die durch die Schaffung paralleler Frauenstrukturen in allen kurdischen politischen Organisationen und durch die heutige Stellung der Frauen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in denen sie präsent sind, ergänzt wurde. Auch in den beiden hier diskutierten revolutionären Erfahrungen ist der Kampf gegen das Patriarchat innerhalb und außerhalb der eigenen Herrschaftsstrukturen eine Konstante, ein Kampf, der sie zu Protagonistinnen des antipatriarchalen Kampfes macht.
Sowohl in Cherán, als auch in Kurdistan sehen wir eine neue Definition von demokratischer Politik. Das bedeutet, dass radikale Demokratie kein abstrakter Begriff ist, sondern sich im täglichen Leben von Männern, Frauen, Kindern und älteren Menschen durch die Schaffung von Räumen für kollektive Beratungen und Vereinbarungen materialisiert, die eine partizipative, proaktive und kritische politische Kultur hervorbringen. Faktoren, die dazu beitragen, das soziale Leben voranzutreiben, ohne dass der Staat eingreift oder die Institutionen, die die kapitalistische Moderne kennzeichnen, sie manipulieren. Dies ermöglicht es den Völkern, ihren eigenen Weg von unten zu konstruieren und dabei ihre eigenen kulturellen Strategien zu berücksichtigen, wobei die Methoden und die zeitlichen Abläufe durch den Aufbau einer Politik bestimmt werden, die Vielfalt als Organisationsprinzip schätzt und sich in allen Bereichen des sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ausdrückt.
Organisationsmodell, das auf einem Netzwerk von Räten basiert
Schließlich ist es interessant, wie die Idee der Organisation der Gesellschaft durch Räte in beiden revolutionären Prozessen wieder aufgegriffen wurde. Im Falle Kurdistans sind die von den verschiedenen Völkern der Region organisierten Räte die zentrale Einheit der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, wo die Idee des demokratischen Konföderalismus praktisch umgesetzt wird. Rojava ist ein lebendiges Beispiel für diese Räte, die sich um alle Dimensionen des konföderalen Systems kümmern: Politik, Justiz, Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Selbstverteidigung, Kultur, Jugend, Ökologie, Diplomatie und Frauen. Die Freiheitsbewegung Kurdistans setzt daher auf ein Organisationsmodell, das auf einem Netzwerk von Räten basiert und in dem das System des Ko-Vorsitzes zentral ist. Diese Räte sind untereinander vernetzt und bilden das autonome Subjekt der befreiten Gebiete. In Cherán funktionieren die Räte in ähnlicher Weise, so dass sie die Struktur der kommunalen Regierung artikulieren und mit einer gewissen Autonomie in der Verwaltung des sozialen Lebens arbeiten. Sie helfen auch bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme und arbeiten an der Entwicklung verschiedener Aspekte der Autonomie mit. Dank der Tatsache, dass sie für ihre Arbeit eine finanzielle Entschädigung erhalten, können sich diese Räte voll und ganz ihrer organisatorischen Arbeit zum Wohle der Gemeinschaft widmen. Eine Arbeit, die in Abgrenzung zur westlichen Vorstellung von bezahlter Arbeit eher als eine Dienstleistung angesehen wird.
Die Tatsache, dass beide Erfahrungn der gemeinschaftlichen Organisation zur Verteidigung des Lebens, der Kultur und der Würde ohne voneinander zu wissen, entstanden sind, ist ein konkreter Beweis dafür, dass die demokratische Moderne trotz der Kriege des Kapitalismus entsteht. Von Cherán bis Kurdistan nähern sich die kämpfenden Völker einem emanzipatorischen Horizont mit politischen Praktiken von unten, die mit demokratischen und ökologischen Schwerpunkten die koloniale und patriarchalische Ordnung untergraben, die die Völker historisch unterdrückt hat. In diesem Sinne argumentiert Öcalan, dass »so, wie im neunzehnten Jahrhundert die historischen Bedingungen den National-Etatismus begünstigten, so begünstigen die heutigen Bedingungen und die Gegebenheiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts demokratische Nationen und auf allen Ebenen gestärkte städtische, lokale und regionale autonome Regierungen« (Öcalan, 2020, Seite 393). Diese Vorhersage des kurdischen Vordenkers verankert die Möglichkeit einer anderen Welt am Rande des Kapitalismus, denn wir sehen die »Bedingungen dafür, dass sich das Schicksal der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durch den National-Etatismus zerstörten konföderalen Strukturen im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht wiederholt, sondern um es im Gegenteil in einen Sieg des demokratischen Konföderalismus zu verwandeln, sind recht vielversprechend« (Öcalan, 2020, Seite 394). Natürlich sind die Herausforderungen für diese Erfahrungen zahlreich und zuweilen sehr hartnäckig, denn es geht um den Aufbau freier Gesellschaften als Gegenstrom zur kapitalistischen Herrschaft. Der Liberalismus, der den Nationalstaat prägt, versucht immer, diese demokratisierenden Tendenzen, die unter seiner ideologischen und materiellen Hegemonie auftauchen, zu korrumpieren und zu absorbieren. Ein Prozess, der in der Geschichte des letzten Jahrhunderts in verschiedenen Kontexten und Perioden erfolgreich war. Es gilt, die Lehren aus den vorangegangenen revolutionären Prozessen zu ziehen, um die Strömung der historischen Gesellschaft, die sich in städtischen, lokalen und regionalen politischen Einheiten ausdrückt, in einer neuen ideologischen und politischen Struktur zu vereinen, die sich ständig artikuliert und zusammensetzt, um ein emanzipatorisches Potenzial zu schaffen, das nicht in die Falle des Nationalstaates tappt. Dies ist die wichtigste strategische Aufgabe der demokratischen Moderne, ebenso wie für alle Völker und Prozesse, die sich dem System der kolonialen und patriarchalen Herrschaft widersetzen.
Quellen:
Concejo Mayor de Gobierno Comunal de Cherán (2017). Cherán K´eri. 5 años de autonomía. Por la seguridad, la justicia y la reconstitución de nuestro territorio. En cortito que´s pa´largo.
Öcalan, Abdullah (2020). Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. III: Soziologie der Freiheit. (International Initiative Edition)
Der Artikel erschien zuerst auf der Internetseite der Academy of Democratic Modernity: https://democraticmodernity.com/DE/
1 - Weitere Informationen über diese Erfahrung der Selbstverwaltung im Dokumentarfilm Cherán: The Burning Hope: https://www.youtube.com/watch?v=xr1hapswLd0
Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023