Jeder Angriff auf Nord- und Ostsyrien ist auch ein Angriff auf die Schulen und die Schüler:innen

Gisela Rhein, Kurdistan Report


Am 18. September 2022 hat das neue Schuljahr im Gebiet der AANES (Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien) begonnen, während Teile der Region unter türkischem Raketen­beschuss standen und bewaffnete Drohnen über Städte und Dörfer flogen. Welche Auswirkungen hat diese Bedrohung auf die Schulen, auf den Schulbesuch der Kinder und Jugendlichen und auf die Arbeit der Lehrkollegien? Wie sehen das Schulsystem und die Praxis an den Schulen aus?
Hier möchten wir einen Einblick in die Erfahrungen vor Ort geben. Deshalb haben wir vom Kurdistan Report Fragen an den »Rat für Bildung und Ausbildung Nord- und Ostsyrien« (vergleichbar mit dem deutschen Bildungsministerium) geschickt und einen ausführlichen O-Ton einer Grundschullehrerin vor Ort eingeholt.

»

Bildung braucht Frieden

Es brauchte einen alternativen Lehrplan und ein alternatives Bildungssystem«

»Eine Sprache, eine Kultur, eine Ideologie« waren die Grundlagen des Lehrplans eines autoritären Schulsystems unter dem Assad-Regime. Die Amtssprache war Arabisch und somit war es die verpflichtende Sprache an den Schulen. Erzogen wurde im arabisch- muslimischen Sinn. Die multiethnische und multireligiöse Vielfalt der Gesellschaft in Syrien wurde nicht anerkannt. Das Ziel war es, gute arabische Staatsbürger:innen im Sinne des Regimes zu erziehen. Die kurdische Sprache z  B. war eine in der Öffentlichkeit verbotene und kriminalisierte Sprache. »Ich konnte nur wenige Jahre die Schule besuchen, denn ich musste die Schule verlassen, weil ich in mein Heft eine Fahne mit den kurdischen Farben gemalt hatte. Eine andere Schule hat mich nicht mehr aufgenommen«, erzählt eine Mutter aus Hesekê (arab. al-Hassakah). Hand in Hand mit dem Verbot von Sprache geht das Verleugnen der Kultur und der Identität. Schon in der Schule wurden die tiefen Gräben zwischen den ethnischen und religiösen Gemeinschaften angelegt.

»Um es den Menschen zu ermöglichen, in Syrien wieder respektvoll und einfühlsam auf der Grundlage eines kollektiven Lebens zusammenzuleben, waren aus unserer Perspektive ein alternativer Lehrplan und ein alternatives Bildungssystem erforderlich«, berichtet Dilber, Mitglied im »Rat für Bildung und Ausbildung Nord-und Ostsyrien«.

Im Jahr 2012, nach dem Beginn der revolutionären Veränderungen in Rojava, haben sich die Menschen an diese große Aufgabe gemacht und heute gilt das entwickelte Leitbild für das ganze Gebiet der AANES.

Im Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation von Nordsyrien, der heute für das ganze Gebiet der AANES gültig ist, wird festgehalten:

Artikel 4: Alle Sprachen Nordsyriens sind in allen Lebensbereichen, im Erziehungswesen und im kulturellen Leben und in Verwaltungsangelegenheiten gleichwertig. Jedes Volk gestaltet sein Leben und regelt seine Angelegenheiten in seiner Muttersprache.

Artikel 34: Alle Bildungsstufen sind kostenfrei. Für Grund-und Mittelstufe besteht Schulpflicht.

Ein so einschneidender Wandel braucht mutige Veränderungen und entschlossene Menschen. Die Ausgangsbedingung war eine vom Assad-Regime geprägte gesellschaftliche Mentalität auf allen Ebenen des Bildungssystems und ein jahrelanger, mörderischer Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat.

Ein neuer Lehrplan und darauf basierende, neue Unterrichtsmaterialien wurden entwickelt. »Der Lehrplan der Selbstverwaltung legt großen Wert auf Fragen der Demokratie, der Menschenrechte, der Gleichstellung von Männern und Frauen, der Geschwisterlichkeit der Völker, des Respekts und der Akzeptanz einer vielfältigen, multikulturellen und mehrsprachigen Gesellschaft. Daher bekommt in unseren selbstverwalteten Schulen jede Schülerin und jeder Schüler Unterricht in ihrer bzw. seiner Muttersprache, lernt die eigene Geschichte und Kultur, aber auch die Geschichte, Sprache und Kultur der anderen Völker in unserer Gesellschaft kennen«, erläutert Dilber (s. o.).

Das Lehrmaterial wurde in Kurdisch, Arabisch und Aramäisch entwickelt. Alle drei Sprachen sind auch die Amtssprachen im Gebiet der AANES. Die Unterrichtssprache soll möglichst immer die eigene Muttersprache sein, die Sprache der anderen Ethnien wird zusätzlich unterrichtet. Die Praxis sieht dann am Beispiel der kurdischen Kinder so aus: Die Unterrichtssprache in den ersten drei Schuljahren ist Kurdisch, ab dem vierten Schuljahr kommt Unterricht in Arabisch dazu. Ab dem fünften Schuljahr werden Englisch oder Französisch als weitere Fremdsprache für alle eingeführt.

Die Schulpflicht beginnt mit der Grundschule im Alter von sechs Jahren und endet nach neun Schuljahren mit dem Abschluss der Sekundarstufe. Nach weiteren drei Jahren, nach Abschluss der 12. Klasse, ist die Hochschulberechtigung erreicht. Kindergarten und Vorschule sind freiwillig.

Jineolojî wird Unterrichtsfach

Hier nur ein kurzer Überblick über den Lehrplan in der Grund- und Mittelstufe: Gesellschaft und Leben (Grundschule), Kunst, Musik, Biologie, Physik, Chemie, Mathematik, Erdkunde, Philosophie, Gesellschaftslehre, Geschichte und Sprache. Die Fächer Kultur und Ethik sowie Jineolojî wurden mit dem neuen Bildungssystem eingeführt. Jineolojî wird als eigenständiges Unterrichtsfach in der Oberstufe unterrichtet, aber die Inhalte spielen auch in den Unterrichtsfächern Philosophie und Geschichte in der Grund- und Mittelstufe eine Rolle.

In der Oberstufe entscheiden sich die Schüler:innen für einen Schwerpunkt. Zur Auswahl stehen die technische, die naturwissenschaftliche und die sprachliche Fachrichtung.

Entsprechend dem Anspruch auf Mehrsprachigkeit mussten alle Unterrichtsmaterialien in den drei Amtssprachen entwickelt, formuliert und gedruckt werden, immer unter der Maßgabe, internationalen Standards zu genügen. Materialien und Didaktik werden kontinuierlich kritisch ausgewertet und verbessert. Das geschieht unter anderem bei den verpflichtenden Fortbildungen für die Lehrer:innen während der Sommerferien oder in längeren Weiterbildungen an den eigens dafür eingerichteten Akademien. Die Bedeutung dieser Fort- und Weiterbildungen für die Unterrichtspraxis ist groß, denn die Mehrheit der Lehrer:innen wurde noch nach den fachlichen und ideologischen Grundsätzen des Assad-Regimes ausgebildet.

Jedes Kind will lernen

Hygiene-Biologie-Unterricht an einer Schule in RojavaIn den Schulen ist das Interesse an kreativen und interaktiven Unterrichtsmethoden groß. Die Schüler:innen sollen nicht mehr wie früher vor allem passiv dem Unterricht folgen. Natürlich ist der Lehrplan die Grundlage, aber die Lehrer:innen diskutieren und entwickeln neue Unterrichtsmethoden und versuchen, alle Kinder und Jugendlichen im Lernprozess mitzunehmen. Das ist kein einfaches Unterfangen, denn die Schüler:innen bringen sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit. Viele Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten und tragen oft schwer an den Belastungen einer Gesellschaft, die sich ständig gegen wirtschaftliche und militärische Angriffe von außen verteidigen muss.

»Jedes Kind will lernen und wir bemühen uns durch den Aufbau gegenseitigen Vertrauens, die Hindernisse zu überwinden«, erklärt eine Grundschullehrerin. Mit dieser Haltung bemühe man sich, die psychische Belastung der Kinder aufzufangen und auch zu verhindern, dass Kinder trotz Schulpflicht einfach nicht mehr zur Schule kommen. Weiter sagt sie: »In der ersten Schulwoche hat das Kennenlernen der Kinder Priorität. Es muss eine Vertrauensbasis aufgebaut werden. Dann können Kinder auch erzählen, was sie belastet.« Dazu gehörten auch Besuche bei den Familien und das gemeinsame Kennenlernen. All‘ dies sei die Aufgabe des Lehrpersonals und könne nicht an andere Fachstellen delegiert werden.

Das Lernen von Demokratie wird auch im Schulalltag umgesetzt. Schüler:innenkomitees übernehmen Verantwortung für die Schulorganisation und die Eltern werden bei den, im Regelfall alle sechs Wochen stattfindenden, Elternabenden ermutigt, zu kritisieren und mitzugestalten. Die Schule selbst wird nicht von einer Schulleitung, sondern von einem Leitungskomitee geführt. Darüber hinaus übernehmen Komitees Verantwortung im Schulalltag z. B. für die Sauberkeit oder für die Unterstützung der Familien.

Personal- und Raummangel sind an manchen Orten ein großes Problem, deshalb wird dort in zwei Schichten und mit verkürzten Schulstunden unterrichtet. So kommt am Vormittag die eine Hälfte der Kinder und am Nachmittag die andere. Damit entfallen gezwungenermaßen die Nachmittagsangebote in Kunst, Sport und Musik. Noch größer ist jedoch die Herausforderung in den Camps für die vielen Binnenflüchtlinge. Mit aller Kraft wird versucht, für jedes Kind und jeden Jugendlichen einen Schulplatz zu schaffen, auch wenn es ein Schulplatz in einem Zelt ist.

Es fehlt Geld für Renovierung und Neubau

Trotz Schulpflicht besuchen nicht alle Kinder eine Schule. Das hat vielfältige Gründe, einerseits zwingt die ökonomisch schwierige Lage manche Familien dazu, ihre Kinder zur Arbeit und nicht zur Schule zu schicken, andererseits macht die Sicherheitslage den Menschen Angst. Inzwischen kann nicht einmal mehr die zynische Bezeichnung »Krieg mit niedriger Intensität« verwendet werden. Jetzt bombardiert das türkische Militär im ganzen Land und droht mit Invasion.

Aber Bildung braucht Frieden!

Diese nicht enden wollende Bedrohung des Gebiets der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens bindet Geld zur Selbstverteidigung und dieses Geld fehlt auch in den Schulen. Es fehlt Geld für Renovierung und Neubau und für die Schulausstattung. »In Nord- und Ostsyrien, insbesondere in den kurdischen Landesteilen (Rojava), hat das Regime schon immer die Schulen vernachlässigt. Die Situation in den Schulen verschlechterte sich noch einmal massiv durch den Krieg. Die meisten Schulen sind dringend renovierungsbedürftig. Es braucht neue Tische, Stühle und neue Tafeln. Natürlich hat die Selbstverwaltung viele Schulen neu aufgebaut, aber es gibt noch viele Probleme und sehr viel Arbeit, die vor uns liegt. Aufgrund des Strommangels ist auch oft Wasser in den Schulen nicht verfügbar. Auch Materialien zur Gestaltung des Unterrichts fehlen häufig. Die einfachen Dinge wie Stifte und Papier sind zwar meist vorhanden, aber um einen fortschrittlichen Unterricht zu gewährleisten, bräuchte es Labore und Computer an den Schulen, die so gut wie nirgends vorhanden sind«, führt Dilber aus.

»Die internationale Anerkennung unserer Schulabschlüsse ist von großer Bedeutung für uns!«

Die syrische Regierung erkennt die Schulabschlüsse der Selbstverwaltung nicht an, deshalb ist eine internationale Anerkennung der Abschlüsse dringend notwendig.

In den Städten Qamişlo und Hesekê sind einige Stadtviertel noch unter der Verwaltung und Kontrolle des Assad-Regimes. In den Schulen dieser Viertel wird noch nach dem Lehrplan und mit den Unterrichtsmethoden des Regimes gearbeitet. Es gibt Familien, die aus Angst vor Repressionen des Regimes in den von ihm kontrollierten Vierteln ihre Kinder auf diese Schulen schicken. Die Befürchtung, dass die nicht anerkannten Schulabschlüsse der Schulen der Selbstverwaltung die Zukunft der Kinder gefährden könnten, wird auch als Argument gegen die Schulen der Selbstverwaltung eingesetzt.

»Die internationale Anerkennung unserer Schulabschlüsse ist von großer Bedeutung für uns!«, so Dilber.

Was spricht dagegen? Inhaltlich sicher nichts, denn dieses Schulsystem entspricht unseren in Deutschland formulierten Werten und Vorstellungen eines Bildungssystems und muss und kann deshalb politisch anerkannt werden. Es ist eine politische Haltung, eine außenpolitische Haltung, die dem aggressiven Gebaren der türkischen Regierung keinen Einhalt gebietet und gleichzeitig die enormen Bemühungen um Demokratie und ein demokratisches Schulsystem in Nord- und Ostsyrien einfach übersieht.

Wir danken Dilber vom »Rat für Bildung und Ausbildung Nord-und Ostsyrien« und der Lehrerin für ihre Unterstützung bei der Recherche für diesen Artikel!


Der Bildungsrat der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ruft uns alle auf, nicht wegzusehen, wenn türkische Bomben auf Nord- und Ostsyrien fallen:

Erklärung des Bildungsrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien vom 27.11.2022

An alle Bildungseinrichtungen und an die Öffentlichkeit in Deutschland

Wir möchten Ihre Aufmerksamkeit auf die jüngsten Angriffe des türkischen Staates auf Rojava, auf Nord- und Ostsyrien und auf alle zuvor sicheren Gebiete im Grenzstreifen zwischen Syrien und der Türkei lenken.

Die Angriffe haben zur Instabilität und zur Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern und Dörfern geführt. Die Schulen in der Region wurden infolge direkter Angriffe oder wegen ihrer zufälligen Nähe zu Bombenangriffen zerstört. Sie beherbergten früher Tausende von Schüler:innen jeden Alters. Die Schulen stehen jetzt leer aus Angst vor Luftangriffen, mit denen zivile Einrichtungen und Infrastruktur, einschließlich Schulen, bombardiert werden.

Diese Situation behindert den Bildungsprozess in der Region, der ohnehin schon unter Fragilität sowie einem Mangel an Bildung, Ressourcen und Möglichkeiten leidet. Sie hat dazu geführt, dass Tausenden von Kindern ihr Recht auf Bildung und auf ein Leben in sicheren und stabilen Bedingungen geraubt wird.

Darüber hinaus wird die Fortsetzung der Angriffe zur erneuten Aktivierung von »ISIS«-Zellen in der Region führen, wodurch Chaos erzeugt und die derzeitige Stabilität zerstört wird.
Als Bildungsbehörde Nord- und Ostsyriens appellieren wir an alle Behörden und Bildungseinrichtungen in Deutschland, Maßnahmen zu ergreifen, um die Angriffe auf unsere Region zu stoppen, Sicherheit und Stabilität wiederherzustellen, Schulen wieder zu öffnen, Schüler:innen wieder in die Schule zu bringen und den Bildungsprozess in der Region fortzusetzen.

Vielen Dank. Wir freuen uns über Ihre Solidarität.

Erziehungs- und Bildungsbehörde in Nord- und Ostsyrien
s. a. https://nordundostsyrien.de/aktuelles/


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023