Ein autobiographischer Bericht aus der Zeit der Befreiung Rojavas
Der Tag wird kommen, an dem ich auf dem Hügel unsere Fahne hisse
Egîd Tirbespiyê
Damit die heute weltweit bekannte Revolution in Rojava sich entwickeln konnte, mussten große Opfer gebracht werden. Um die Region zu befreien und die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) aufzubauen, haben 12 000 Menschen ihr Leben gelassen, und über 20 000 weitere wurden zum Teil schwer verwundet. Auch heute noch geht der Kampf weiter, denn auf der einen Seite versucht der türkische Staat durch seine völkerrechtswidrigen Angriffskriege, die Selbstverwaltung zu zerschlagen, und auf der anderen Seite versucht der IS, sich neu zu formieren, um Rache zu üben. Vor kurzem erst wurde das zehnjährige Jubiläum der Revolution in Rojava gefeiert. Das nahm die Vereinigung der Verwundeten in Rojava zum Anlass, ein neues Buch zu veröffentlichen, in welchem die Geschichten der Menschen festgehalten sind, die alles dafür gaben, die Region zu befreien und zu verteidigen. Aus diesem Buch haben wir in der letzten Ausgabe des Kurdistan Report die Geschichte von Deştî Amanos übersetzt, der an den Kämpfen in Kobanê beteiligt war. Dieses Mal veröffentlichen wir die Geschichte von Egîd Tirbespiyê, der die Revolution nahezu von Anfang an begleitete.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass im folgenden Text explizite Kriegsszenen beschrieben werden.
Gerade als Anfang 2011 das Chaos und der Krieg in Syrien begannen, war meine Zeit gekommen, Wehrdienst für das Regime zu leisten. Ich wollte jedoch nicht für dieses Regime kämpfen, also flüchtete ich zuerst nach Südkurdistan (Nordirak), um mich zu verstecken, da man angefangen hatte, nach mir zu suchen. Dort blieb ich vorerst, im Ungewissen, wie sich die Dinge in meiner Heimat weiterentwickeln würden, und suchte mir zunächst eine Arbeit. Es dauerte nicht lange, da hörte ich, dass ein Freund, Heval Xebat, in Nordsyrien getötet worden war. Das stellte einen Wendepunkt in der Entwicklung dar, und im Nachhinein betrachtet kann gesagt werden, dass das einer der Momente war, die die Revolution in Rojava einleiteten. Das hat man damals schon gespürt und auch immer, wenn ich in dieser Zeit mit meiner Familie telefoniert habe, haben sie von den Freund:innen der Bewegung geredet, immer sagten sie: »Hier ist nichts mehr wie früher. Die Situation scheint sich täglich zu wandeln.«
Die Freund:innen kamen nach Rojava und neben der Organisierung der Gesellschaft, die bereits seit Jahrzehnten im Untergrund stattgefunden hatte und nun langsam nach außen trat, wurden jetzt bewaffnete Selbstverteidigungseinheiten organisiert. Das hat die politische Situation in Rojava und Syrien erschüttert und hat große Risse in der Macht des syrischen Diktators verursacht. Alle haben nur noch drauf gewartet, dass die Diktatur fällt und dass Assad aus dem Land gejagt wird. Was hatten wir über die Jahrzehnte nicht alles in dieser Diktatur ertragen müssen? Es war eine Wut, um nicht zu sagen ein unbändiger Hass, der sich in uns angestaut hatte. Diese Wut brach am 19. Juli 2012 – mit dem Beginn der Revolution – aus und es war, als ob ein Vulkan explodiert wäre. Ich musste das Ganze zunächst von außen verfolgen und war froh, dass der Fernsehsender »Ronahî TV« angefangen hatte, täglich zu berichten. Ich saß, wenn ich konnte, vor dem Fernseher, um die Situation zu verfolgen, bzw. telefonierte die ganze Zeit mit meiner Familie.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen«
2012 kam es zu den intensivsten Ausschreitungen in der Stadt Serêkaniyê. Ich verfolgte die Kämpfe vom ersten Tag an auf »Ronahî TV«. Alle Freund:innen, die dort auf die Straße gingen, waren entweder aus Serêkaniyê oder aus Qamişlo oder aus der Umgebung selbst. Die meisten, die ich im Fernsehen sah, kannte ich auch. Es waren Freund:innen, teilweise auch Verwandte von mir. Gerade deshalb war ich auch so betroffen davon und konnte mich gar nicht mehr von dem Fernseher abwenden. In den Auseinandersetzungen sah ich auch meinen kleinen Bruder Baz, was mich sofort dazu veranlasste, ihn anzurufen.
Mein Bruder war sehr aufgeregt, als wir telefonierten, und sagte mir: »Der Feind ist gekommen, sie greifen unsere Stadt an! Obwohl wir die Kräfte des Regimes aus vielen Stadtvierteln vertreiben konnten, haben sie jetzt Banden und Gangs geschickt, die uns nicht in Frieden lassen. Sie greifen uns an und der türkische Staat unterstützt sie. Er gibt ihnen Munition, Sprengstoff und unterstützt sie aus dem Norden über die Grenze hinweg.« Ich konnte das, was Baz mir sagte, zunächst gar nicht wirklich greifen, aber was mir klar wurde, war, dass ich es in Südkurdistan nicht mehr aushalten würde. In derselben Nacht noch sammelte ich meine Siebensachen zusammen und machte mich von Silêmanî aus auf den Weg zum Grenzübergang von Sêmalka. Als ich meinen Freund:innen in Silêmanî gesagt hatte, dass ich gehen würde, versuchten viele, mich noch davon abzuhalten, doch ich hatte meine Entscheidung getroffen.
So habe ich insgesamt sieben Monate in Südkurdistan verbracht und auch wenn Südkurdistan Teil meiner Heimat ist, war es doch nie so sehr mein Zuhause wie Rojava und jeder Tag, den man getrennt von seiner Heimat verbringen muss, fühlt sich an wie ein qualvolles Jahr. So begab ich mich voller Vorfreude auf den Weg und erreichte schließlich Sêmalka. Als ich damals nach Südkurdistan gegangen war, war die Grenze noch von Kräften des Regimes belagert, als ich jetzt dort ankam, wurde ich von einer Gruppe Freund:innen kontrolliert. Ich betrat Rojava und traute meinen Augen nicht, als ich auf den Dächern der Häuser unsere grün-gelb-rote Fahne im Wind wehen sah. Es war wie eine Szene aus einem Traum und so wurde ich von meinen Gefühlen übermannt. Ich war so überglücklich, dass ich anfing zu weinen, auf der Erde zusammensackte und vor Freude den Boden küsste. Es war ein sehr seltsames Gefühl. Freiheit war auf einmal keine ferne Fantasie mehr, sondern war zu einer Realität direkt vor meinen Augen geworden. Ich glaube, ich habe nie wieder so ein intensives Gefühl gespürt, denn nie zuvor hatte ich Freiheit in solcher Intensität gespürt. Endlich war ich in meinem Land.
Als ich nach Hause kam, wollte ich sofort wissen, wo die Freund:innen sind. Ich wollte genau wissen, was alles passiert ist. Als ich damals meine Familie verlassen hatte und in den Süden gehen musste, hat das meine Familie nicht wirklich beeindruckt. Sie haben es einfach hingenommen. Nun, da ich zurückgekommen war und eine Entscheidung getroffen hatte, war es mir umso wichtiger, sie mit ihnen zu teilen. Bereits auf dem Weg hierher hatte ich die ganze Zeit überlegt, wie ich es ihnen am besten sagen würde. Als ich nun aber angekommen war und sich alle um mich versammelten und neugierig waren, warum ich trotz der drohenden Gefahr zurückgekommen war, sah ich die Chance, meine Entscheidung einfach direkt allen ehrlich mitzuteilen. Deswegen sagte ich zu ihnen, und diesen Moment werde ich in meinem Leben nie vergessen: »Mutter, Vater, ihr fragt euch alle, warum ich zurückgekommen bin, deswegen will ich euch nicht lange auf die Folter spannen und will auch gar nicht lange reden. Ihr alle seht die Situation. Uns steht eine Revolution bevor und bereits mein kleiner Bruder hat sich dazu entschieden, ein Teil von ihr zu sein. Ich habe den weiten Weg aus Südkurdistan hierher gemacht, weil ich mich auch dieser Revolution anschließen werde, und bitte euch darum, nicht zu versuchen, mich aufzuhalten. Ich bin nur gekommen, um euch meine Entscheidung mitzuteilen.«
»Teil dieser Revolution sein«
Nach dieser kurzen Ansprache blickte ich zu meinem Vater und er schaute mich an, sodass sich unsere Blicke trafen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, doch ich hielt den Blick aus und ich las in seinen Augen, dass er stolz war, aber auch, dass er skeptisch war. Ich begann mich von meiner Familie zu verabschieden, und zum Schluss legte mein Vater seinen Arm um meine Schulter und neigte sich vor, um mir einen letzten Rat mitzugeben. Es war diese ernsthafte Art, die er immer in den Momenten hatte, wenn er wollte, dass ich ihm aufmerksam zuhöre und in denen er immer hoffte, mir mit seinem Rat klarzumachen, dass er hinter mir stünde und mir von Herzen Erfolg wünschte. So sagte er: »Mein Sohn, du kennst die Situation, in der sich unser Volk befindet. Wir haben als Volk kein Verbrechen begangen, sind selbst aber täglich damit konfrontiert. Wir wünschen uns nichts sehnlicher als Ruhe und Frieden. Du hast eine Entscheidung getroffen, die bedeutet, dass du gehst. Ich respektiere deine Entscheidung, aber wisse, dass es keinen Weg zurück gibt. Wenn du dich heute der Revolution hingibst, um ihr morgen wieder den Rücken zuzukehren, ist es besser, wenn du gar nicht erst gehst. Aber wenn du dir in deiner Entscheidung sicher bist, dann werde ich dich höchstpersönlich zu den Freund:innen bringen.« Worauf ich ihm antwortete: »Vater, ich bin mir sicher. Ich werde gehen, das steht für mich nicht mehr in Frage. Ich will und werde Teil dieser Revolution sein, das verspreche ich dir.«
Mein Vater folgte seinem Wort, wir setzten uns in sein Auto und machten uns auf den Weg zu den Freund:innen. Heval Agir empfing uns freudig, ließ uns in Ruhe ankommen und nachdem wir die üblichen Floskeln ausgetauscht hatten, durchbrach mein Vater die Stille: »Ich habe euch heute meinen Sohn mitgebracht. Er möchte Teil der Revolution und zu einem wahren Sohn seines Volkes werden. So übergebe ich ihn in eure Verantwortung.«
Die Freund:innen waren sehr überrascht, denn es geschah nicht so häufig, dass ein junger Mensch wie ich so überzeugt, auch noch von seinem eigenen Vater gebracht wurde. Mein Vater war aber überzeugt von dem revolutionärem Geist, der in der Gesellschaft umging, und schenkte den Freund:innen Vertrauen. So saßen wir noch eine Weile und tranken zusammen Tee, bis er sich wieder auf den Weg nach Hause machte. Er küsste alle der Reihe nach auf die Wange und verabschiedete sich.
Ich fühlte mich in meiner neuen Umgebung nicht fremd, im Gegenteil, ich war glücklich und stolz auf mich. Auch die Tatsache, dass ich viele der Freund:innen noch von früher kannte, erlaubte es mir, mich einfach in mein neues Leben einzuleben und mich schnell aktiv einzubringen. Als ich sah, wie viele meiner Freund:innen bereits Teil der »Volksverteidigungseinheiten« (YPG) waren, schämte ich mich dafür, dass ich damals aus Angst nach Südkurdistan geflüchtet war und nicht bereits damals Teil des Widerstandes geworden war. Ich verfluchte mich dafür innerlich und wünschte mir, dass ich von Anfang an dabei gewesen wäre. Die Revolution war zwar noch an ihrem Anfang, aber sie hatte schließlich bereits begonnen. Aber das spornte mich nur umso mehr an, mich mehr einzubringen und schnell das aufzuholen, was ich bisher verpasst hatte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es die heute überall verbreiteten Akademien, in denen wir sowohl unsere politische, ideologische als auch militärische Bildung bekamen, nicht gegeben. Doch ich hatte Glück, denn Heval Agir meinte zu mir, dass die erste Bildungsakademie geöffnet worden und ich Teil der ersten Gruppe sei, die dort lernen dürfte. Dort würden wir eine Ausbildung bekommen, die nicht einmal die Freund:innen an der Front gesehen hätten. Den Freund:innen war es wichtig, niemanden in den Kampf zu schicken, ohne zu wissen, wofür sie wirklich kämpften.
Nun hatte ich mich also wirklich dem Kampf um die Revolution angeschlossen. Bis Heval Agir mir das mit der Akademie erzählt hatte, konnte ich noch nicht wirklich glauben, dass ich jetzt bei den Freund:innen war, aber so war es jetzt real geworden. Ich war überglücklich und sagte ihm: »Okay Heval Agir. Ich freue mich auf die Bildung und werde mich anstrengen, dass ich bald am Kampf teilnehmen kann. Ich will mich mit aller Energie darauf fokussieren, denn es ist das, worauf ich jetzt schon so lange gewartet habe.«
Wir waren also sieben Freund:innen und gingen zu einem Stützpunkt, den die Kräfte des Regimes kurz zuvor verlassen hatten, und begannen zunächst mit dem Umbau bzw. dem Wiederaufbau. Wir errichteten vor allem neue Bereiche, um ausgiebig Sport zu treiben und um zu lernen, wie man sich im Kriegsgebiet zu verhalten hat. Innerhalb kürzester Zeit haben wir also so die Akademie »Şehîd Xebat« geschaffen. Wir waren die erste Klasse, die dort unterrichtet wurde, und gaben uns den Namen »Şehîd Zerdeşt«. Nachdem Menschen aus verschiedensten Städten gekommen waren, um sich genau wie ich dem Kampf anzuschließen, konnte die erste Bildung beginnen. Die Umstände ließen es zwar nicht zu, eine sehr tiefgehende Bildung zu organisieren, sie war nach heutigen Verhältnissen sehr kurz, trotzdem war sie für uns alle, vor allem mit dem Wissen, was um uns herum geschah, intensiv. Alle freuten sich, als wir unsere Ausbildung abgeschlossen hatten, und ich wurde danach einer Einheit in der Stadt Tirbespiyê zugeordnet.
»Die Gefahren lauern an jeder Ecke«
Die Struktur der Selbstverteidigungseinheiten befand sich noch im Aufbau, sodass wir inoffiziell als die »Hêza Tirbespiyê« (Anm.: wörtlich übersetzt so viel wie »die Kraft von Tirbespiyê«) bezeichnet wurden, da es ein wirkliches System mit Teams – Einheiten – Bataillonen etc. noch nicht gab. Wir waren jedoch nicht allein in der Stadt, da sie noch heiß umkämpft war. Es befanden sich zum Beispiel noch vereinzelte Truppen des Regimes in der Stadt und auch sonst lauerten etliche Gefahren an jeder Ecke. Deswegen war es eine unser ersten wichtigen Aufgaben, Straßensperren einzurichten, um die Stadt Stück für Stück abzusichern und um den gezielten Anschlägen Einhalt zu gebieten. So bauten wir langsam einen Schutzschild in den Straßen auf und konnten einen Plan machen, wie wir mit einer begrenzten Zahl an Kämpfer:innen und einer sehr begrenzten Menge an Munition die Kräfte des Regimes vollends umzingeln und aus der Stadt jagen könnten. Wir hatten Glück, der Plan gelang und so war die Stadt endlich vom Regime befreit.
»Wunsch nach Freiheit gab uns Kraft«
Mit der Befreiung der Stadt begann für die Einwohner:innen und für die Menschen der Dörfer in der Region ein kompletter Neuanfang. Überall in der Stadt wurden YPG-Flaggen und grün-gelb-rote Fahnen gehisst. Alle Menschen strömten auf die Straßen und feierten. Ich würde sogar wagen zu sagen, dass die meisten Einwohner:innen von Tirbespiyê noch nie so glücklich gewesen sind, wie sie es an diesem Tag waren. So etwas haben sie zum ersten Mal in ihrer Stadt gesehen und die Situation war für uns, die wir auch von dort kamen, wenig anders. Dieser Wandel und allgemein der Wunsch nach Freiheit gaben uns Kraft, weiter zu kämpfen und weiter an der Entwicklung zu wirken. Das war auch wichtig, denn unsere Arbeit wurde immer mehr und intensiver. Denn mit der Befreiung der Stadt wurden auch die Stellungen, die wir halten mussten, zahlreicher. Die Front wurde also länger und die Angriffsfläche, die wir boten, größer. Dort zeigte sich, dass wir uns wirklich strukturieren mussten. Es war notwendig geworden, Bataillone und klar definierte Einheiten zu schaffen. Das war möglich, denn die YPG wuchsen, viele schlossen sich ihnen an und nahmen an Bildungen teil, in denen viel über Strukturierung der Selbstverteidigung diskutiert wurde. So formierten auch wir uns mit dreißig Kämpfer:innen zu einem der ersten Bataillone und gaben uns den Namen »Şehîd Demhat Nergiz«. Wir waren nicht nur eins der ersten Bataillone, wir waren noch dazu ein mobiles. Das heißt, statt dass wir an einem festen Punkt Wache schoben, deckten wir größere Gebiete ab und waren ständig an anderen Orten. Ich blieb jedoch nicht lange in dem Bataillon, da die Freund:innen mich ins Zentrum der Stadt riefen.
Auch dort war die Situation trotz allem noch nicht friedlich. Also bezog ich Position bei den Freund:innen und beteiligte mich an den dortigen Kämpfen. Die Kräfte des Regimes hatten sich nämlich zurückziehen müssen, doch Söldner der Ahrar al-Sham (Islamistisch-salafistische Miliz, die zu diesem Zeitpunkt bspw. Teil der »Syrisch Islamischen Front« war) und der Dschabhat al-Nusra (dschihadistisch-salafistische Miliz) versuchten, das Chaos für sich zu nutzen, und so kam es immer noch zu ständigen Gefechten. Es gab zu dieser Zeit eine schwere Auseinandersetzung zwischen uns und ihnen im Dorf Mezlûma.
Zu der Zeit waren von uns 16 Personen im Dorf stationiert. Nur wenige hatten eine wirkliche Ausbildung erfahren und für die meisten von uns war es das erste wirkliche Gefecht. So auch für mich, der ich bisher zwar mehrere kleine Auseinandersetzungen erlebt hatte, aber an noch keinem Gefecht teilgenommen hatte. Im Gegensatz zu den feindlichen Kräften, die uns mit SU-23-Waffen (schweres sowjetisches Maschinengewehr/Flugabwehrkanone) und Mörser-Geschützen angriffen, hatten wir lediglich Maschinengewehr PK, RPG7 (Raketenwerfer) und Ak-47 (»Kalaschnikow«-)Maschinenpistolen. Auch die Zahl an Angreifern war ein Vielfaches von uns. Während wir nur 16 Personen im Dorf waren, griffen sie uns mit 140‒150 Söldnern an.
So standen wir also im Dorf und unsere einzigen Gedanken waren, dass wir auf der Erde standen, auf der wir geboren wurden, auf der wir aufgewachsen sind und in der unsere Ahnen begraben liegen. Uns war klar, dass sich zu ergeben für uns keine Option war. Wir waren die Kinder dieser Nation und wussten genau, was unser Volk alles hatte erleiden müssen. Uns war klar, dass wir uns in einer sehr brenzligen Phase befanden. Entweder wir würden erfolgreich sein und könnten die Unterdrückung der letzten Jahrhunderte loswerden, oder wir würden verlieren und dann stünde uns das Schlimmste erst bevor. Und auch wenn unser Gefecht nur ein sehr kleiner Teil dieser großen ganzen Geschichte war, gingen wir mit eben jener Entschlossenheit, dass es hier um das Schicksal unserer gesamten Gesellschaft ginge, in den Kampf und beschlossen, wenn nötig bis zum Schluss zu kämpfen.
»Aktiv an der Verteidigung meiner Heimat beteiligt«
Als der erste Schuss fiel, befanden ein Freund und ich uns außerhalb unserer Stellung. Nachdem ich das Geräusch gehört hatte, packte ich ihn, wie ich es in der Bildung gelernt hatte, am Arm und zog ihn in Richtung der strategisch günstigsten Position, die wir beziehen konnten, sprich dem Feind genau gegenüber. Während das Dorf und unsere Stellungen unter den Beschuss mit schweren Waffen gerieten, bereiteten sich die Söldner darauf vor, zu Fuß in das Dorf einzurücken. Um uns herum explodierten immer wieder ihre Mörsergeschosse und die Kaliber-23,5-Geschosse der SU-23 schlugen aus vier Richtungen ein. Wir hatten uns jedoch gut vorbereitet, hatten Gräben ausgehoben und Stellungen auf den Dächern angelegt. Was uns jetzt lediglich blieb, war zu warten, bis der Feind nah genug herangerückt war.
Es war schon eine Weile her, dass ich die Akademie verlassen hatte, und auch wenn ich mich schon an einigen praktischen Arbeiten beteiligt hatte, war es noch nie so weit gekommen. Erst jetzt, als ich im Dorf Mezlûma war, ging mein Wunsch, auch aktiv an der Verteidigung meiner Heimat mitzuwirken, in Erfüllung. Aus diesem Grund spürte ich neben der Nervosität und Angst auch eine leichte Freude zu kämpfen.
Wir bezogen also jeweils zu zweit unsere Stellungen, machten uns bereit und warteten. Wie es die Freund:innen mir im Training beigebracht hatten, gab ich es jetzt an die Freund:innen weiter, die sich mit mir in den Stellungen befanden. Sie sollten nicht unnötig und wahllos schießen, wie die Söldner es gerne taten. Wir hatten nur begrenzte Munition; deswegen war es wichtig, nur gezielt zu schießen und vor allem erst dann, wenn der Feind in eine realistische Reichweite gekommen war. Neben uns befand sich Heval Warşîn auf Position. Sie war die Kommandantin unseres Bataillons. Heval Warşîn hatte bereits viel Erfahrung sammeln können, und es gab uns Kraft und Mut, neben ihr zu stehen, denn wir spürten, dass sie genau wusste, was sie tat.
Der Feind beschoss weiterhin ununterbrochen das Dorf. Um auf der einen Seite wie gesagt nicht unsere Munition zu verschwenden und um auf der anderen Seite unsere genauen Positionen nicht zu verraten, schossen wir noch nicht zurück. Wir waren uns noch nicht sicher, ob der Feind es wagen würde, zu Fuß ins Dorf einzusickern. Wir bereiteten uns auf jeden Fall darauf vor und analysierten die Umgebung um uns herum entsprechend. Heval Warşîn meinte zu uns, wir müssten uns im Dorf umsehen, als würden wir es aus den Augen des Feindes sehen, um zu verstehen, mit was für einer Taktik sie kommen würden. Ich sah mich um und sah das, was für Rojava so typisch ist. Um uns herum war eine weite trockene Ebene. Es wäre unmöglich gewesen, sich dort zu bewegen, ohne gesehen und angegriffen zu werden. Aber meine Augen fielen auch auf etwas anderes und zwar befand sich schräg an einem der Häuser vorbei in ca. 100 Meter Entfernung ein kleines Feld mit Weinreben.
Wir vermuteten, dass der Feind versuchen würde, sich durch das Feld an uns heranzuschleichen und dass der konstante Angriff mit großen Geschützen auf uns lediglich Ablenkung war. Nur kurze Zeit später bestätigte sich unsere Annahme. Wir sahen sie langsam herannahen und nahmen sie ins Visier. Als sie nur noch knapp 100 Meter von uns entfernt waren, eröffneten wir das Feuer, und so hatten wir sie überrascht, statt anders herum.
»Die Umzingelung zerschlagen«
Das nun begonnene Gefecht dauerte lange an. Jedes Mal, wenn der Feind mit seiner klaren Übermacht zum Angriff vorrückte, töteten wir ein paar von ihnen. So mussten sie sich nach jedem Angriff direkt wieder zurückziehen. Der Unterschied zwischen uns und ihnen war klar erkennbar. Während sie als Einzelkämpfer auf uns zukamen, so als hätten sie von Rambo persönlich gelernt, kämpften wir in unseren Positionen Seite an Seite. Die heiße Phase des Kampfes zog sich über mehr als drei Stunden hin, wobei mitten im Kampf ein Freund direkt neben uns verletzt wurde. Fast alle von uns hatten bis dahin nicht einmal mit Verletzungen zu tun gehabt und waren zunächst ein wenig überfordert, aber es gelang uns, den Freund so zu verbinden, wie wir meinten es gelernt zu haben, und konnten ihn aus der Feuerzone später ins Krankenhaus bringen. Wir konnten das nur durchstehen, da es uns gelang, wirklich zusammenzuhalten und nicht die Hoffnung und den Mut zu verlieren. Großen Anteil daran, dass uns das gelang, hatte Heval Warşîn. Sie, die uns motivierte und die uns Kraft gab, hat damals in den Kämpfen um das Dorf Mezlûma ihr Leben gelassen. Ihr Tod wog unbeschreiblich schwer für uns. »Im Krieg sind der Mut und die Koordination der halbe Erfolg«, meinte sie zu uns und das hat sie auch gezeigt. Der Feind hatte große Angst vor ihr, denn sie sahen eine Frau, die diesen Kampf führte, und sie sahen eine Kommandantin, die nicht hinter den Linien den Kampf koordinierte, sondern selbst an der vordersten Front kämpfte. Das schien sie wahnsinnig zu machen, weswegen sie das gesamte Feuer der schweren Geschütze auf ihre Stellung richteten. Sie leistete trotzdem noch lange Widerstand, bis sie letztlich getroffen zu Boden sank. Heval Warşîn war eine beeindruckende Kämpferin gewesen. Nach ihrem Tod versuchte der Feind, uns nun komplett zu umzingeln und den Ring Stück für Stück enger zu ziehen, doch hatten sie uns unterschätzt. Als wir erfuhren, dass Heval Warşîn gefallen war, packte uns eine unglaubliche Wut und wir schworen uns, sie zu rächen. Wir sammelten unsere letzten Kräfte und begaben uns in die letzte Phase des Kampfes, bis es uns schließlich gelang, ihre Umzingelung zu zerschlagen. Die Schlacht ging die ganze Nacht hindurch weiter, auch wenn sich der Feind irgendwann nicht mehr traute, zu Fuß vorzudringen, beschossen sie uns bis zum nächsten Morgen, bis sie irgendwann einsehen mussten, dass sie zu hohe Verluste hatten und dass es keinen Sinn machen würde, weiter anzugreifen, weswegen sie sich dann schließlich zurückziehen mussten. Der Sieg war also schließlich nach langen Kämpfen unser. Es war uns gelungen, eine Kraft, die fast zehnmal so groß war wie die unsere, zurückzuschlagen, und dafür hatten schließlich neben Heval Warşîn sieben weitere Freund:innen ihr Leben gegeben.
Als das Gefecht schließlich zu Ende ging, verließ ich sofort meine Stellung und lief zur Position von Heval Warşîn. Es war das schlimmste Gefühl gewesen, als ich während der Gefechte auf einmal keine Schüsse mehr von ihrer Position und keine Ansagen mehr von ihr hörte. Diese ungewisse Stille ließ mich mehr leiden als die Kugeln, die um uns herum einschlugen. Ich sah also Heval Warşîn, ihren Kopf zur Seite geneigt, als ob sie schlafen würde. Sie sah in dem Moment so friedlich und so stark aus, als hätte sie die ganze Gewalt um sich herum vergessen und würde nur schlafen. Ich setzte mich neben sie und schaute mich um, auch wenn ich meine Umgebung nicht wirklich wahrnahm, zu sehr war ich in meine Gedanken versunken. Ich verlor mich für den Moment in meinen Erinnerungen und mir fiel ein Moment kurz vor Beginn der Gefechte ein. Heval Warşîn und ich standen auf den Säcken, die wir mit Erde gefüllt hatten, um unsere Stellung zu befestigen, und hielten nach dem Feind Ausschau, als sie zu mir mit einem Grinsen im Gesicht meinte: »Heval Egîd, komm da runter. Das ist nicht gut. Vielleicht fängt der Feind auf einmal an zu schießen, dann bist du ein leichtes Ziel.«
Worauf ich ihr antwortete: »Ja, Heval Warşîn, das mag schon stimmen, aber du sagst mir das, während du selbst hier oben stehst. Warum kommst du denn nicht runter? Wenn dir etwas passiert, ist das viel schlimmer.«
»Ach nein, Heval Egîd. Mir wird schon nichts passieren und selbst wenn, dann weiß ich, wofür ich es getan habe. Aber gut, siehst du den Hügel da hinten? Das ist der ›Taya‹-Hügel, wir müssen es eines Tages da hinschaffen und unsere Stellungen dort aufbauen. Das würde es massiv erleichtern, die Umgebung zu sichern.«
»Okay, Heval Warşîn. Ich verspreche dir, dass, wenn mir bis dahin nichts zustößt, der Tag kommen wird, an dem ich den Hügel erreiche, dort Stellungen aufbaue und auf diesem Hügel eine YPG-Fahne hisse.«
»Rache nehmen«
Nachdem ich das gesagt hatte, schaute sie mir prüfend ins Gesicht und dann in die Richtung, aus der der Feind kam. Wortlos stieg sie von dem Sack und drehte eine Runde durchs Dorf, um die Stellungen zu kontrollieren und um zu schauen, wie es um die anderen Freund:innen steht.
Ich wurde mir wieder meiner Umgebung bewusst und konnte es nicht fassen, was alles in den letzten Wochen passiert war, und vor allem, wie sehr mich die letzten Tage in Mezlûma verändert hatten. Ich konnte mich nicht aus den Tagträumen reißen und blendete meine Umgebung weiterhin aus, bis endlich ein Freund kam und mir seine Hand auf die Schulter legte. »Komm, Heval Egîd. Lass uns Heval Warşîn von hier wegbringen.« Ich nahm Heval Warşîns Waffe an mich und schwor mir innerlich, dass, komme, was wolle, ich sie rächen und dass ich diesen Hügel einnehmen würde.
Die Gefechte waren zu Ende und der Feind hatte sich ein Stück weit zurückgezogen, weswegen beschlossen wurde, dass die Bataillone zusammenkommen sollten, damit sie neu formiert werden, doch egal, was die Freund:innen mir sagten, ich werde aus Mezlûma nicht weggehen, ehe ich nicht diesen Taya-Hügel erreichen kann.
Die Bewegung startete also eine neue Offensive, um weitere Teile von Rojava zu befreien. Dabei handelte sich um die Gebiete von unserem Punkt aus bis nach Çil Axa und Til Koçer. In dem Gebiet befand sich auch der Taya-Hügel.
Bevor ich mich für die Offensive bereit machte, organisierte ich mir eine neue YPG-Fahne, die ich sorgsam zusammenfaltete und in meine Tasche steckte. Während der ganzen Zeit der Offensive, egal ob wir marschiert sind, gekämpft oder geschlafen haben, nicht einmal nahm ich die Fahne aus der Tasche oder ließ sie aus den Augen. Eines Tages kamen Freund:innen und sagten: »Heval Egîd, mach dich bereit, du wirst in dem Team sein, das den Taya-Hügel angreift.« Ich war in meinem Element und nichts und niemand konnte mehr ein Hindernis für mich sein, das mich davon abhalten würde, mein Versprechen einzuhalten. Mit dieser Stimmung machte ich mich mit meiner Einheit auf den Weg.
Die Konflikte hielten länger an, doch der Feind leistete keinen wirklichen Widerstand, er kämpfte kopflos und verließ bald den Hügel und das am Fuß des Hügels angrenzende Dorf. Als andere Freund:innen das Dorf angriffen, griffen wir parallel dazu den Hügel an. Meine größte Angst war, dass es mir nicht gelingen würde, unsere Fahne zu hissen. Ich befürchtete, dass ich es nicht schaffe, den Hügel zu erreichen, doch das durfte ich mir nicht erlauben. Schließlich gelang es uns, das Dorf und den Hügel zu befreien, ich holte die Fahne aus meiner Tasche und ließ sie im Wind wehen und schaute Richtung Mezlûma, wo ich Heval Warşîn verloren hatte. Auch wenn es nicht viel war, erfüllte es mich doch mit großer Freude, ihr diesen Wunsch noch erfüllt zu haben. Ich konnte wieder besser schlafen, doch reichte es mir nicht aus, dass wir den Hügel genommen hatten. Mir war klar, dass ich erst wieder ruhig würde schlafen können, wenn wir alle Freund:innen, die wir verloren hatten, gerächt hätten. Mit dieser Einstellung versuchte ich, mich an möglichst vielen Kämpfen der nächsten Wochen, Monate und Jahre zu beteiligen. Das hielt an bis ins Jahr 2014.
Bis 2014 hatte sich Daeş (Anm. Schimpfwort für den so genannten Islamischen Staat) in weiten Teilen ausgebreitet und stand in Kobanê, wo die Kämpfe sehr intensiv waren. Die Freund:innen wollten eine Gegenoffensive in der Region Cizîrê starten, um den Druck auf Kobanê zu brechen und um die Kräfte von Daeş zu spalten und zu schwächen. Ich schlug in der Zeit mehrfach vor, dass ich nach Kobanê wollte, doch die Freund:innen ließen mich nicht, da sie es als zu emotionale Entscheidung wahrnahmen. Ich beteiligte mich also an der Gegenoffensive und kämpfte in Til Barak, wo es zu langen und heftigen Kämpfen mit den islamistischen Banden kam. Als wir sie schließlich niederringen konnten, waren wir sehr müde und sehr erschöpft, weswegen uns die Freund:innen zunächst einmal zum Ausruhen zurück nach Tirbespiyê entsandten.
In Tirbespiyê angekommen entschieden wir uns dazu, bevor wir uns aufteilten und unsere Ruhe bekamen, zunächst eine Sitzung mit allen, die an den Kämpfen um Til Barak beteiligt waren, zu machen und diese auszuwerten. Wir erhielten jedoch die Information, dass möglicherweise zwei Fahrzeuge mit Sprengstoff beladen in die Stadt eingedrungen seien. Deswegen änderten wir den Plan und kamen nicht alle auf einmal zusammen, sondern teilten uns auf. Unsere Gruppe waren um die 60‒70 Freund:innen und wir entschieden uns dazu, die Sitzung auf einem großen Platz in der Mitte der Stadt abzuhalten, da er sich leicht absichern ließ und man Autos schon aus großer Entfernung kommen sah. Und wir beeilten uns mit unserer Sitzung und brachten sie schnell zu Ende, sodass wir uns bald wieder aufteilen konnten. Teilweise, um den Gerüchten über die beiden Autos nachzugehen, teilweise, um uns auszuruhen. Ich blieb mit zwei Freunden zurück, um den Platz aufzuräumen und um den Platz abzusichern.
»Knapp am Tod vorbeigeschrammt«
Wie gesagt waren wir erst neu von der Gegenoffensive gekommen, weswegen wir sehr müde waren, und so wollten wir uns wach halten, indem wir Späße machten. Ich mochte die anderen beiden Freunde Heval Xalid und Heval Elî und ihre Späße. Wir kannten uns schon länger. Wir sagten uns gegenseitig, dass wir nach drinnen gehen sollen, da es draußen zu gefährlich sei, aber niemand wollte gehen und den jeweils anderen stehen lassen, also blieben wir. Auf einmal, keine zehn Minuten waren seit unserer Sitzung vergangen, tauchte ein Auto am Rande des Platzes auf und hielt an. Sowie ich das Auto gesehen habe, war mir sofort bewusst, dass das eins der mit Sprengstoff beladenen Fahrzeuge sein musste. Ich griff sofort nach meiner Waffe, doch noch ehe ich etwas machen konnte, zündete der Fahrer des Autos die Ladung und jagte sich selbst in die Luft.
Es dauerte wohl ein paar Minuten, bis ich wieder zu mir kam und langsam meine Augen öffnete. Überall war Staub, unser Gebäude, an dem das Auto explodiert war, war in sich zusammengefallen und neben mir lagen Heval Xalid und Heval Elî auf dem Boden. Die Schmerzen, die ich im ganzen Körper spürte, gekoppelt an das, was ich gerade erlebt hatte, waren so erdrückend für mich, dass ich die Augen wieder schloss. Ich kniff sie zusammen, als hoffte ich, es wäre nur ein Traum, als hoffte ich, es ginge vorbei. Noch nie zuvor war ich so knapp am Tod vorbeigeschrammt und das gab mir Anlass, mir all die Freund:innen ins Gedächtnis zu rufen, die gefallen waren. In dem Moment wünschte ich mir, ich wäre bei ihnen, denn sie schienen so nah vor mir zu sein und sie waren so lebendig. Ich öffnete die Augen, sah die Zerstörung, schloss sie wieder und sah die Freund:innen. Ein paarmal blinzelte ich so, bis ich meine Entscheidung traf und sie schloss. Ich wurde wieder ohnmächtig und merkte nicht mehr wie Freund:innen kamen und mich ins Krankenhaus brachten.
Ich wachte erst wieder auf, als ich mich schon im Krankenhaus befand und Heval Dilo sich über mich beugte und mich ansprach. »Heval Egîd, hast du dein Versprechen vergessen? Du bist ein Kämpfer, aber da auf dem Platz hast du die Augen zugemacht und bist ohnmächtig geworden. Wolltest du etwa sterben?« Ich war in einem so kritischen Zustand, dass mir alles, was um mich herum geschah egal, war, es floss an mir vorbei, aber auf Heval Dilos Frage musste ich grinsen. Ich dachte mir aber: »Ja! Ich habe die Freund:innen gesehen, die ich teilweise vor Jahren verloren habe. Ich wollte bei ihnen sein.« Das Versprechen, auf das er anspielte, war eines, das wir uns vor Monaten gegeben hatten, als wir zusammen in einer Stellung lagen. Um uns einen kleinen Spaß zu erlauben und um uns Mut zu geben, versprachen wir einander, dass wir, wenn, dann nur zusammen fallen würden. Richtig, damals bin ich nicht gefallen. Ich habe damals zum Glück nur mein Bein verloren, aber das bedeutete für mich auch, dass ich aus dem Kampf, wie ich ihn bis dahin für die Revolution geführt hatte, ausschied. Heval Dilo beteiligte sich wenig später an der Offensive »Aliya«. Bevor er ging, verabschiedeten wir uns noch herzlich, doch was wir nicht wussten, war, dass es ein letzter Abschied sein würde. Heval Dilo trat in der Offensive »Aliya« auf eine Mine und verlor so sein Leben. Einer von Tausenden, die ihr Leben für die Befreiung und die Revolution in Rojava gelassen haben.
Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023