Die Frauenbibliothek Kurdistans: Archiv, Bibliothek und Forschungsstätte

Ein Projekt, für das ein großes Opfer erbracht wurde

Zozan Sima


Das erste Treffen des Zentrums für Forschung, Archiv und Bibliothek für Frauen in ­Kurdistan fand am 25. Oktober 2020 statt. Nagihan Akarsel1, Mitglied der Jineolojî-Akademie und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Jineolojî, benutzte auf diesem Treffen ein braunes Heft als Tagebuch, um sich Notizen zum Stand der Arbeit betreffs des Zentrums zu machen.

Demonstration in Berlin nach der Ermordung von Nagihan Aksels in SilêmanîAm Tag des ersten Treffens notierte sie dort Folgendes: »Heute ist der 25. Oktober, wir haben zwei wichtige Schritte für die Stätte für Frauenforschung, als eine Bibliothek für Werke kurdischer Frauen gemacht. An einem historischen Tag2 wie diesem, haben wir zwei Schritte unternommen, die diesem Tag wirklich würdig sind. Mittags trafen wir uns mit den Gründern des Projekts und machten den ersten Schritt, um die offizielle Anerkennung zu erlangen. Wir planen, innerhalb dieser Woche die dafür notwendigen Schritte umzusetzen. Abends trafen wir uns dann online mit Frauen in Bakur und Rojava. Es lief besser, als wir zu hoffen gewagt hatten, und wir erlebten die Energie der Hoffnung und des Glücks, die durch unsere Gefühle und Gedanken entstanden sind.

In diesem Notizbuch werde ich die Entwicklung unseres Projekts dokumentieren. Ich werde das im Bewusstsein tun, das Neue, das Bedeutende, den Moment des historischen Beginns festzuhalten. Das Projekt, das wir seit etwa einem Jahr versuchen zu entwickeln, in einer Zeit, in der mal Corona, mal die Invasion in Rojava die Tagesordnung und unsere Gefühle bestimmten, ist ein Projekt, das dem Bemühen entspringt, unsere Hoffnung lebendig zu halten. Ein Projekt, das nicht nur unsere Geschichte, Region und Identität, die in vier Teile geteilt und mit den letzten Kriegen völlig zersplittert ist, sondern das unsere ganze Existenz schützen, erzählen, archivieren und dessen Gedächtnis sein soll … Es bildet den verzweifelten Versuch, jeden Teil von uns – vom Kleinsten bis zum Größten – zu stärken. Und das geschieht in Tagen, in denen man Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî uns zu entreißen versucht, uns um Sûr beraubt hat und Cizîr und Nisêbîn besetzt sind. Es ist das Bemühen, den Jahrestag, an dem Bêrîtan gefallen ist, auf angemessene Weise zu würdigen. Und es ist ein Schritt hin zur Erfüllung eines Versprechens, dass wir jenen vielen Schönen und Wissenden geben, die das sinnerfüllte Leben suchen und die uns noch folgen werden. Wir wünschen allen viel Erfolg, vor allem den kurdischen Frauen.«

Das Wissen um ihre eigene Geschichte

Es gibt viele Gründe, die für ein Gedächtnis- und Archivzentrum sprechen, in dem die schriftlichen, mündlichen und anderen kulturellen Werke kurdischer Frauen gesammelt werden. Um es mit einfachen Worten zu sagen, ist ein solches Zentrum eine der methodischen Möglichkeiten, unsere Existenz als Frauen zu bewahren, die die erste Frauenrevolution realisiert haben. Wir können es auch als das Bemühen bezeichnen, über unsere Wurzeln, die trotz jahrtausendelanger Ausbeutung noch lebendig sind, die zweite Frauenrevolution zum Erblühen zu bringen. Denn für die in mehrfacher Hinsicht unterdrückte Frau ist das Wissen um ihre eigene Geschichte, als Grundlage für die Gestaltung des eigenen Lebens, des Kämpfens und des Erschaffens von Kunst, eine Methode, ihre Existenz zu wahren.

Die Anzahl von Werken über die Frauen Kurdistans ist begrenzt und sie alle tragen tiefe orientalistische, patriarchalische und modernistische Spuren. Auf den Seiten dieser Werke finden wir weder Spuren unserer jahrtausendealten Vergangenheit noch etwas über unser Alltagsleben oder unsere Gegenwart. Denn wenn es auch heißt: »Das Wort ist flüchtig, es ist die Schrift die bleibt«, macht es doch für kolonialisierte Völker und für Frauen einen Unterschied zu wissen, wer die Verfasser waren und aus welchem Blickwinkel sie das schrieben, was aus welchen Gründen bleiben durfte, bzw. was blieb. Insofern bedarf es einer Methodendiskussion darüber, wie die zu verwertenden Materialien als Dokumente der Frauengeschichtsschreibung ausgewählt, eingeordnet und dokumentiert werden. Wenn es doch nur gelänge, der Historie fühlend und Bedeutung beimessend ein Heute zu verleihen, ohne sie zum Objekt oder zum reinen Material zu reduzieren. Dann könnte sie für uns die grundlage der Erkenntnis sein. Zumindest bezüglich der Frauen Kurdistans müssten wir diese Diskussion auf jeden Fall noch viel intensiver führen.

»Die Wissenschaft wohnt in unserem Herzen«

Im Lichte solcher Bedenken führten Nagihan und ich Ende 2016 und 2017 eine Forschungsstudie zu den historischen Spuren der Frauen in Şengal durch. Wir hatten nur eine sehr begrenzte Anzahl schriftlicher Quellen zur Hand. All diese Quellen haben wir beide gemeinsam gelesen und dann machten wir uns auf den Weg. Als wir jedoch die Gesellschaft Şengals kennenlernten, bemerkten wir schnell, wie begrenzt und oberflächlich die vorhandenen Quellen die Realität widerspiegeln. Şengal ist das letzte Fleckchen Erde, auf dem sich die êzîdische Gemeinschaft, indem sie Widerstand leistet, ihre kulturelle und religiöse Existenz bewahrt hat. Da die êzîdische Gemeinschaft dort eine der ursprünglichsten kurdischen Gemeinschaften bildet, gingen wir davon aus, dass die Realität der Frauen dort zur Erhellung sowohl der Wirklichkeit der kurdischen Frau, als auch der Geschichte der Frauen insgesamt beitragen könnte. Tatsächlich bestätigten die Erzählungen, die wir zu hören bekamen, die Worte, die wir vernahmen und die Symbole, die wir sahen, die Richtigkeit dieser Annahme. Ältere êzîdische Frauen drückten diese Realität mit dem Satz aus: »Ilmê li ser dilê meye (›Die Wissenschaft wohnt in unserem Herzen.‹)« Dieses Sprichwort, das mit großer Weisheit ausgesprochen wurde, ist von großer Bedeutung. Nagihan wiederholte dieses Sprichwort in den folgenden Jahren immer wieder mit der gleichen Aufregung, die einen packt, wenn man ein Rätsel gelöst hat. Die êzîdische Gemeinschaft traut dem geschriebenen Wort, traut den Büchern nicht. Sie waren mit Recht besorgt, dass Geschriebenes verfälscht und Geheimnisse so auch denen zugänglich werden, für die sie keinesfalls bestimmt sind. Aber wie ließe sich eine Historie, die im Herzen wohnt, die mit Symbolen und Geheimnissen verschlüsselt ist, in Worte fassen, wie, sie ins Bewusstsein rücken, wie, sie allen Frauen zugänglich machen? Wie können wir die ungeschriebene Geschichte der versklavten Frau erhellen und somit zur Niederschrift der Geschichte ihrer Freiheit beitragen? Das war eine Frage, die sich nur schwer beantworten ließ. Man kann mit Recht sagen, dass diese Fragestellung die erste Grundlage der Idee von einem Frauenarchiv, einer Frauenbibliothek, eines Frauenforschungszentrums in Kurdistan bildete. Später, als wir uns mit Jineolojî-Studien auseinandersetzten, die in Efrîn und in den anderen Teilen Kurdistans durchgeführt wurden, sahen wir, dass es so viele Geschichten und historische Spuren gibt, die geschrieben, aufgezeichnet und verstanden werden müssen und nur mit einer solchen Institutionalisierung gesammelt werden können. Denn die letzten Vertreter:innen der mündlichen Überlieferung lagen im Sterben, ihr Wissen konnte jüngeren Generationen nicht mehr überliefert werden, ihr Wert, die Bedeutung mündlich überlieferten Wissens war unerkannt und nur ein sehr begrenzter Teil war dokumentiert worden.

Silêmanî, eine Stadt der Intellektuellen und Künstler:innen

Als wir 2022 in Silêmanî mit ein paar Freundinnen der Frauenakademie an unserem roten Tisch saßen, der als so etwas wie unsere Akademie fungierte, sprachen wir darüber, wie wir die Arbeit der Jineolojî in Başûre Kurdistan verbessern könnten. Dabei kam der Gedanke auf, dass Silêmanî für eine Bibliothek, in der Werke kurdischer Frauen gesammelt würden, geeignet wäre. Auch wussten wir, dass Archivzentren und Frauenbibliotheken, von denen es weltweit diverse Beispiele gibt, einen großen Beitrag zur Gedächtnisbildung zu leisten vermögen. Als wir diesen Gedanken mit unseren Freund:innen von der Jineolojî-Akademie und auch mit Frauen aus Başûre Kurdistan teilten, stellten wir fest, dass er bei allen auf große Begeisterung und Einsatzbereitschaft stieß. In Kurdistan ist Silêmanî so etwas wie die Stadt der Intellektuellen und Künstler:innen. Bedauerlicherweise liegt dem Begriff ›intellektuell‹ aber ein modernistisches, patriarchalisches bzw. am klassischen Denken der Aufklärung orientiertes Verständnis zugrunde. In dieser Stadt, in der das Wirken von Künstlerinnen und intellektuellen Frauen stark ausgeprägt ist, werden viele Gegensätze als ineinander verwoben erlebt. Es ist eine Stadt, in der es auf der einen Seite Frauen gibt, die als Peschmerga tätig waren, die Widerstand leisteten gegen Anfal3 und Chemiewaffen, aber andererseits auch eine Stadt, deren Gesellschaftlichkeit von der Moderne zerrissen ist und die an den Werten der rückständig traditionellen Familie erstickt. Wir gehen davon aus, dass hier umfassende Aufklärungsarbeit, vor allem unter der Avantgarde der kurdischen Frauen, die Grundlage dafür sein kann, die Widersprüche aufzulösen und einen Neuanfang zu initiieren. Nagihan war unter uns diejenige, die am meisten an dieses Projekt geglaubt und die größten Anstrengungen in dieses Projekt gesteckt hat. Trotz vieler finanzieller Hindernisse und bürokratischer Hürden bewahrte sie sich immer ihren Enthusiasmus und Glauben. Im Bewusstsein der historischen Bedeutung dieses Projekts hielt sie die Entwicklung Schritt für Schritt in ihrem braunen Notizbuch fest.

Es war eine harte, mit Beharrlichkeit und Ausdauer geführte Arbeit. Wir haben Vieles wahrgenommen, was es aufzuzeichnen galt: Berichte über Massaker, Guerilla-Memoiren, die Geschichten von Peschmerga-Frauen, Dengbej-Frauen und von Frauen, die versuchen, sich über ihre Kunst, Literatur und Forschung zu definieren. Indem die Frauen der vier Teile Kurdistans und die kurdischen Frauen der Diaspora ihre eigenen Geschichten niederschreiben, stehen das Kurdistan Archiv, Bibliothek und Frauenforschungszentrum einer Fragmentierung entgegen und sind ein nationales Projekt der Einheit. Ziel ist es, ein Zentrum zu haben, in dem diejenigen, die zu Frauen in Kurdistan forschen, oder die ihre Forschung vertiefen möchten, finden können, wonach sie suchen. Es ist geplant, angefangen von Zeitschriften, die von Frauenbewegungen herausgegeben wurden, bis hin zu Flugblättern, von Tagebüchern bis hin zu Fotografien, von Tonaufnahmen bis hin zu Bildern, alle Arten von visuellen, schriftlichen und auditiven Materialien zu sammeln. Neben Werken in allen Dialekten des Kurdischen, neben Werken in den Sprachen der Länder, in denen die Kurd:innen kolonisiert werden (Persisch, Arabisch, Türkisch), sollen auch in verschiedenen anderen Sprachen verfasste Werke in dieser Bibliothek zu finden sein.

Dazu wurden weltweit System und Architektur anderer Beispiele von Frauenbibliotheken studiert und einige wurden auch kontaktiert. Es wurden Listen von Schriftstellerinnen, Dichterinnen und Künstlerinnen aus den vier Teilen Kurdistans erstellt und zu einigen von ihnen Kontakt aufgenommen. Es wurde eine Broschüre, die die Ziele und Aktivitäten der Bibliothek beschreibt, erstellt und in Kurmancî und Soranî, Englisch, Türkisch und Arabisch übersetzt. Einerseits wurde der Ort, an dem entsprechende Arbeiten durchgeführt werden könnten, vorbereitet, andererseits wurde eine Website projektiert, damit das Zentrum auch online für Forschungszwecke zugänglich ist. Als Stichtag für die Eröffnung der Bibliothek wurde der 25. Oktober festgelegt. Der Tag, an dem auch das erste Treffen stattfand. Nagihan arbeitete mit Enthusiasmus daran, die Eröffnung der Bibliothek entsprechend ihrer Bedeutsamkeit zu gestalten.

Nagihans Traum vollenden

Zu einem Zeitpunkt, als es bis zur Eröffnung nur noch wenige Tage waren, wurde Nagihan Akarsel am 4. Oktober an der Mündung der Straße, die zu dieser Bibliothek führt, vom türkischen Staat ermordet. Als ihr Mörder die Kugeln auf Nagihans Kopf abfeuerte, war es, als hätte er absichtlich direkt auf die Sicht der Frauen gezielt.

Erneut offenbart sich mit diesem Mord der frauenfeindliche Charakter des Faschismus. Um den türkischen Staat für dieses Massaker zur Verantwortung zu ziehen, werden wir einerseits alles in unserer Macht stehende tun, um ihn vor Gericht zu bringen. Andererseits aber werden wir alles dafür tun, Nagihans unvollendeten Traum zu vollenden und daran zu arbeiten, dass sich die Bibliothek entwickelt und Wurzeln schlägt. Wir gehen davon aus, dass alle Frauen, ob Intellektuelle, Künstlerinnen, Revolutionärinnen oder Patriotinnen, insbesondere aber die Frauen aus Kurdistan, uns unterstützen werden, um dieses Projekt mit Leben zu füllen.

Fußnoten:

1 - Nagihan Akarsel, Mitglied der Jineolojî-Akademie und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Jineolojî, wurde am 4. Oktober 2022 in Silêmanî ermordet.

2 - Jahrestag des Todes von Bêrîtan (Gülnaz Karataş) 1992

3 - Als Anfal-Kampagne wurde die systematische Ermordung der im Irak lebenden Kurd:innen auf Befehl des damaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein bezeichnet. Bei diesem Genozid – Saddam Hussein sprach von der Endlösung der Kurdenfrage – sollen zwischen 1988 und 1989 bis zu 180 000 Kurdinnen und Kurden ermordet worden sein. Im Rahmen der Anfal-Offensive wurde die kurdische Stadt Helebce am 16. März 1988 mit Giftgas angegriffen. Dabei kamen bis zu 5 000 Menschen ums Leben. 


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023