Giftgaseinsatz in Kurdistan

Historische Kontinuität bei Menschenrechtsverbrechen

Fabian Priermeier, Mitarbeiter im »Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit – Civaka Azad e.V.«


Demonstration in Düsseldorf gegen türkische Besatzung und dem Einsatz chemischer Waffen in KurdistanDie kurdische Nation blickt zurück auf eine jahrzehntelange Geschichte der Unterdrückung, Zwangsassimilierung und Verfolgung. Ihre Kultur und Sprache waren lange verboten, ihre Existenz wird auch heute noch mancherorts geleugnet. Doch wurde die kurdische Gesellschaft nicht nur mit diesen Methoden unterdrückt und Kurdistan auch nicht nur auf diese Art und Weise kolonialisiert. Ihre Geschichte ist auch geprägt von militärischer Besatzung, Massakern und (versuchten) Völkermorden. Bis heute herrscht jedoch ein Widerstandsgeist in der kurdischen Gesellschaft, der stets dafür gesorgt hat, dass die Kurd:innen weiter gekämpft haben und ihre Geschichte, Kultur und Identität bis heute nicht verloren oder vergessen haben. Es ist eine leidvolle Geschichte, die von vielen Einflüssen geprägt ist, mit einigen Kontinuitäten. Eine davon ist der Einsatz chemischer Kampfstoffe, sogenannter Giftgasangriffe, der gerade heute mehr denn je auf der Agenda der kurdischen Nation steht. Im folgenden Text werfe ich einen Blick in die kurdische Geschichte und gehe auf die bekanntesten Fälle des Giftgaseinsatzes in Kurdistan ein. Dies ist meiner Meinung nach notwendig, um den aktuellen Krieg zu verstehen, und zeigt, mit welchem fanatischen Hass teilweise gegen die kurdische Zivilgesellschaft vorgegangen wurde und wird.

Dêrsim-Aufstand 1937/1938 – erste Erfahrungen mit Giftgaseinsatz in Kurdistan

Einer der ersten dokumentierten Fälle, in dem die türkische Republik nachweislich große Mengen Giftgas in Kurdistan einsetzte, ereignete sich 1937/1938 in der Region Dersim (türk.: Tunceli) in Nordkurdistan (Südosttürkei). Zum Hintergrund des Giftgaseinsatzes: Die türkische Republik verfolgte seit Jahrzehnten eine repressive Politik der Zwangsassimilation und Zwangsintegration. Insbesondere gegen kurdische Minderheiten, v.a. eben auch in Dersim, wurde mit massiver Gewalt vorgegangen. Wie bereits häufig zuvor in der kurdischen Geschichte, organisierten sich die kurdischen Menschen und ihre Stämme und leisteten ab April 1937 bewaffneten Widerstand gegen das zu Zehntausenden angerückte türkische Militär. Die Kämpfe erstreckten sich über Monate, bis im September 1937 die türkische Regierung einen Waffenstillstand samt Friedensvertrag und sogar Kompensation anbot. Daraufhin begab sich Seyîd Riza, der damals 75-jährige Anführer des Aufstands, für Friedensgespräche nach Ezirgan (Erzincan). Dort wurde er jedoch in einem Hinterhalt verhaftet, im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und am 15. November 1937 in Xarpêt (Elazığ) hingerichtet. Auch wenn der Widerstand nach seiner Ermordung wieder aufgenommen und weitergeführt wurde, hatten die Menschen keine Chance mehr. Das Militär überrollte sie, setzte sogar die Luftwaffe ein, und letztlich sorgte der Einsatz chemischer Kampfstoffe dafür, dass der Widerstand komplett zusammenbrach. Nach heutigen Schätzungen wurden in den Auseinandersetzungen 50 000 kurdische Alevit:innen getötet. Tausende von ihnen sind durch vom Militär eingesetztes Gas umgekommen.

Seyîd Rizas Tochter Leyla berichtete damals, dass verschiedene chemische Waffen eingesetzt worden seien. Sie beschrieb bspw., dass sich die Haut getöteter Kinder blau gefärbt habe. Aus Dokumenten geht hervor, dass diese Blaufärbung durch den Einsatz von Gasen wie Chlor (Chloracetophenon) und Iperit verursacht wurde. Doch ist sie nicht die einzige Quelle, die das Giftgas benennt. Heute gibt es etliche Quellen, die das belegen. So wurde auch vor einigen Jahren ein geheimes Dekret vom 7. August 1937 über die Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas und Chloracetophenon nebst einer automatischen Abfüllanlage bekannt, es trägt die Unterschrift Atatürks. Abgegeben wurde die Bestellung übrigens bei Deutschland. Auch der ehemalige türkische Außenminister İhsan Sabri Çağlayangil bestätigte in einem Tondokument den Einsatz chemischer Waffen: »Sie hatten in Höhlen Zuflucht gefunden. Die Armee hat Giftgas benutzt – und es in die Eingänge der Höhlen geleitet. Sie wurden vergiftet wie die Ratten. Sieben- bis siebzigjährige Dersimer Kurden wurden geschlachtet. Es war eine blutige Operation.« Ein Originalzitat aus dem vom Dersim-Forschungszentrum (DAM) im Jahre 2014 veröffentlichten Dokument. Manche der Flugzeuge, die zum Abwurf der Giftstoffe eingesetzt wurden, waren zweimotorige Bomber vom Typ He 111 J aus deutscher Produktion. Es gibt noch Bilder, die zeigen, wie türkische Soldaten die Hakenkreuze an den Flugzeugen gegen den türkischen Halbmond austauschen, bevor sie fliegen.

Die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverbrechen, die der türkische Staat mit dem Einsatz chemischer Kampfstoffe beging, hatten trotz der Beweislage nie Konsequenzen für ihn. Es folgten keine Sanktionen, keine Untersuchungen oder gar Verfahren. Im Gegenteil, die eingesetzten Generäle, die den Widerstand der Menschen in Dersim durch den Einsatz von Giftgas brachen, wurden befördert. Diese Erfahrung brannte sich ein ins kollektive Gedächtnis des türkischen Militärs. Sie sollte den Grundstein dafür legen, immer dann, wenn es militärische Mittel nicht mehr weiterbringen, auf dieses Instrument zurückgreifen zu wollen.

»Anfal-Operation« – Völkermord in Südkurdistan

Während es vor allem der türkische Staat und das türkische Militär waren, welche über die Jahrzehnte hinweg nahezu ungebrochen immer wieder auf chemische Kampfstoffe zurückgriffen, fanden die wohl bekanntesten Giftgasangriffe auf kurdische Zivilist:innen im Rahmen der so genannten »Anfal-Operation« (»Anfal« bedeutet übersetzt »Kriegsbeute« und bezieht sich auf die achte Sure des Koran, in der eine strategische Kriegshandlung gegen Ungläubige beschrieben wird) in Südkurdistan (Nordirak) statt. Mit dieser »Operation« war ein Achtphasenplan des irakischen Baath-Regimes – unter Saddam Hussein – zwischen 1986 und 1989 gemeint mit dem Ziel der Durchführung genozidaler Maßnahmen v.a. gegen die kurdische Gesellschaft, aber auch gegen Minderheiten wie die Chaldäer:innen und die Assyrer:innen. Konkret bedeutete das Massendeportationen an der türkischen Grenze, die Zerstörung tausender kurdischer Dörfer, die völlige Umstrukturierung der Agrarökonomie hin zu abhängigen und unproduktiven Flüchtlingslagern und den organisierten Massenmord. Unter dem Vorwand der Aufstandsbekämpfung wurden im Verlauf dieser »Operation« bis zu 182 000 Menschen ermordet.

Heute wird davon ausgegangen, dass insgesamt mindestens 87 Giftgasangriffe auf kurdische Dörfer stattgefunden haben. Die beiden umfangreichsten möchte ich an dieser Stelle kurz benennen.

28. Juni 1987 – Serdeşt

Am 28. Juni 1987 um 16:04 Uhr Ortszeit begann ein Angriff der irakischen Luftwaffe auf Wohngebiete und Dörfer der kurdischen Stadt Serdeşt in Ostkurdistan (Westiran). In zwei Angriffswellen wurden vier jeweils 250 Kilogramm schwere Bomben mit Senfgas auf die zivilen Wohngebiete abgeworfen. Dutzende Menschen starben sofort, die Zahl der Getöteten, die an den Folgen des Angriffes verstorben waren, stieg in den folgenden Wochen noch auf mindestens 130 Personen. Die Auswirkungen des Einsatzes von Senfgas reichen jedoch bis in die Gegenwart. Noch immer kämpfen die Menschen mit den Spätfolgen wie Krebs oder Hautkrankheiten, Atemproblemen durch Lungenfehlbildungen, Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten und anderen angeborenen Missbildungen. In nahezu jeder Familie in Serdeşt scheint mindestens ein Mitglied bis heute, 35 Jahre nach dem Angriff, mit Langzeitfolgen zu kämpfen zu haben. Kurz vor dem Angriff soll Saddam noch über Radio im Iran angekündigt haben: »Ihr werdet nicht mehr atmen können!«

16. März 1988 – Helebce/Halabdscha

Das Ende des Ersten Golfkrieges kam bereits allmählich in Sicht, als Saddam am 16. März 1988 um 11 Uhr erneut einen Angriff der irakischen Luftwaffe auf eine zivile Stadt anordnete. Helebce ist eine hauptsächlich von Kurd:innen bewohnte Stadt in der heutigen Kurdistan-Region Irak, in der aktuell wieder 250 000 Menschen leben. Nach Augenzeugenberichten sollen zwanzig Kampfflugzeuge im Einsatz gewesen sein, die etliche Bomben auf die Stadt fallen ließen. Erst sah man weiße, dann schwarze und schließlich gelbe Rauchsäulen aufsteigen. Die irakische Armee hatte verschiedene Giftgase zusammen eingesetzt. Feststellen ließen sich bis heute Senfgas, Sarin, Tabun und ein Kampfstoff auf Zyanidbasis. Insgesamt 5000 Zivilist:innen verloren an dem Tag und den folgenden ihr Leben. Bis heute prägt der Giftgaseinsatz die Stadt.

Die deutsche Beteiligung an den Giftgaseinsätzen im Rahmen der »Anfal-Operation« ist unermesslich. Viele Forscher:innen und Journalist:innen recherchierten im Nachhinein und veröffentlichten etliche Bücher, in denen die Mitschuld westlicher Länder und gerade auch die deutsche Mitschuld belegt wurden. So wurde bspw. das verwendete Gas in einer Fabrik in Samarra vom Regime hergestellt. Aber an vielen Phasen der Produktion waren deutsche Unternehmen beteiligt. Mindestens 52 Prozent aller Giftgasanlagen im Irak kamen von deutschen Firmen, andere Quellen sprechen sogar von 70 Prozent. Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter:innen des deutschen Bundesnachrichtendienstes BND arbeiteten, die Bundesregierung scheint die Aufrüstung des Saddam-Regimes mit Giftgas nicht gestört zu haben. Insbesondere die Kohl-Regierung unterstützte die Waffenhändler, von denen nur drei belangt wurden. Sie erhielten geringe Bewährungsstrafen. Auch in Deutschland kam es damals nach fünfjähriger Ermittlungsarbeit im April 1992 zum Prozess gegen zehn deutsche Manager:innen, deren Firmen sich am Aufbau der irakischen Anlagen zur Giftgasproduktion beteiligt hatten. Gegen zwölf weitere war ein Verfahren eröffnet worden, ohne dass es zu einer Anklage kam. Von den zehn Angeklagten wurden nur drei verurteilt, und zwar zu weniger als zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung.

Vereinzelte Angriffe der türkischen Armee

Nach diesen Erfahrungen begann die türkische Armee mehr und mehr auf chemische Kampfstoffe zu setzen, testete sie im Feld und versuchte selbst, Stoffe zu entwickeln. Vier dieser Fälle, die bekannt sind, richteten sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die im Jahre 1984 einen breit angelegten bewaffneten Aufstand und den Aufbau einer Guerillakraft begonnen hatte. Die folgenden Fälle wurden immer wieder von Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise dem Menschenrechtsverein in der Türkei İHD aufgegriffen, aber nie von offiziellen Stellen untersucht oder verurteilt.

17. Mai 1994 – Bêzar-Berg in Semsûr (Adıyaman)

Am diesem Tag brachen insgesamt 22 junge Student:innen aus Semsûr und der benachbarten Provinz Meletî (Malatya) zum Berg Bêzar in Komîşîr (Çelikhan) auf, um sich dem bewaffneten Kampf der PKK anzuschließen. Sechs PKK-Mitglieder warteten bereits im Gebirge auf die angehenden Guerillakämpfer:innen. Als die Gruppe zusammentraf, wurde der Treffpunkt von der türkischen Luftwaffe bombardiert. 28 Menschen wurden dabei getötet. Vermutlich waren sie zuvor denunziert worden. Es gab mehrere Zeug:innen- und Familienaussagen sowie Spuren an den Leichen, die sehr deutlich auf den Einsatz chemischer Stoffe hindeuteten. Auch hier wurden nie Untersuchungen eingeleitet, weswegen seit fast dreißig Jahren die Menschen jährlich an den Gräbern der Toten gedenken und eine Untersuchung fordern.

11. Mai 1999 – Ballikaya-Höhle in Şirnex (Şırnak)

Bei einem bewaffneten Gefecht mit dem türkischen Militär wurden zwanzig PKK-Kämpfer:innen in einer Höhle bei Ballikaya, südöstlich von Şirnex, getötet. Einheiten, die sich nicht weit entfernt befunden hatten, bemerkten seltsamen Rauch, der aus der Höhle zu kommen schien. Unterschiedlich berichteten sie von jeweils grauem oder weißem Rauch. Dem Roten Halbmond war das Anlass genug, selbstständig Untersuchungen einzuleiten. Es wurden Splitter von verdächtigen Granaten gefunden, die sie einem deutschen Fernsehjournalisten gaben, der sie wiederum am Institut für Rechtsmedizin der Universität München untersuchen ließ. Es wurden eindeutig Spuren von CS-Gas nachgewiesen, später wurde sogar der mutmaßliche Granatentyp festgestellt. Erneut deutsche Bauart. Bei CS-Gas handelt es sich um Reizgas, genauer Tränengas, was auch hier in Deutschland bspw. bei Großdemonstrationen zum Einsatz kommt. Diese niedrigen Dosierungen, die in Europa eingesetzt werden, sind auch legal, jedoch wurden CS-Gas/Tränengas und Pfefferspray bereits im Jahre 1997 aufgrund der UN-Chemiewaffenkonvention für den Gebrauch im Krieg verboten. Auch ihr Einsatz stellt somit ein Kriegsverbrechen dar. Denn wenn es in geschlossenen Räumen wie Höhlen oder Tunneln benutzt wird, dann kann der Einsatz zum Tod führen. CS-Gas kann generell zu Verbrennungen, Schwindel, Übelkeit und in geschlossenen Räumen zum Tod führen. Trotz des Verbots produzierte der türkische Staat wohl bis 2010 weiterhin militärisches CS-Gas und stellte es sogar ungehindert auf internationalen Messen aus. Auch kamen bspw. 2004 Berichte ans Licht, die zeigten, dass türkische Soldaten den Einsatz von Tränengas in Kriegssituationen trainierten.

Çelê (Çukurca) in Colemêrg (Hakkari)

Zwei mutmaßliche Giftgasangriffe in dem Bezirk machten von sich reden. Zunächst im Jahr 2009 ein Angriff, bei dem acht PKK-Guerillas ihr Leben ließen. Kurz bevor sie starben, hatte einer von ihnen einen Funkspruch abgegeben, in dem er, schwer hustend, von einem süßlichen Geruch sprach. Da die Region zu hart umkämpft war, konnten damals jedoch keine weiteren Untersuchungen stattfinden. Zwei Jahre später jedoch, zwischen dem 22. und dem 24. Oktober 2011, wurde das Kazan-Tal in Çelê angegriffen. 36 Guerillakämpfer:innen ließen dabei ihr Leben. Schnell stand erneut der Vorwurf im Raum, dass Giftgas eingesetzt worden sei. Nationale und internationale Delegationen, die den Ort des Geschehens aufsuchten, fanden verbrannte und zerschmetterte Körper vor. Alle Erkenntnisse und Feststellungen ergaben, dass die Kämpfer:innen durch einen Chemiewaffenangriff massakriert wurden. Die Vorwürfe wurden vom türkischen Staat jedoch zurückgewiesen und bestritten. Was erneut dazu führte, dass nichts passierte.

Ab den frühen 2010er Jahren begann sich langsam der Kriegsmittelpunkt zu verlagern. Durch das Aufkommen der Revolution in Nord- und Ostsyrien und den damit zusammenhängenden Kampf gegen den IS bildete sich ein neuer Kriegsherd v.a. in Westkurdistan (Nordsyrien), und der türkische Staat versuchte, den Krieg weniger im eigenen Land zu führen, sondern ihn vor allem nach Südkurdistan zu tragen. Insbesondere nach dem Scheitern seiner Friedensverhandlungen mit der PKK eskalierten die militärischen Konflikte wieder und er begann seinen »Zersetzungsplan« (Çökertme Planı) in die Praxis umzusetzen. Dabei zeigte er relativ schnell, dass es wenige Methoden gibt, vor denen er zurückschrecken würde.

Giftgasangriffe in Nordsyrien

Während es immer wieder Gerüchte über den Einsatz chemischer Kampfstoffe gab, von denen sich die meisten nicht bestätigen ließen und einige sich als Fehlalarm herausstellten, wurden die Vorwürfe mit den beiden völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien (Rojava) wieder konkret.

Am 20. Januar 2018 begann die türkische Armee ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Region Efrîn (Afrin), die im Zuge dessen auch besetzt wurde. In einem Dorf in Efrîn, wo eine Operation mit paramilitärischen Gruppen durchgeführt wurde, kamen mutmaßliche chemische Waffen zum Einsatz und sechs Menschen verloren dabei ihr Leben. Trotz immensen internationalen Drucks wurde keine unabhängige Untersuchungsmission auf den Weg gebracht, und auch Journalist:innen, die sich aufgemacht hatten, die Stelle zu untersuchen, wurde jeglicher Zugang zum Dorf verwehrt. Bis heute konnte keine außenstehende Organisation das Dorf betreten, das mittlerweile in der Hand von dschihadistischen Gangs liegt.

Durchaus mehr Aufmerksamkeit wurde dem Einsatz chemischer Kampfstoffe ein Jahr später bei dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serê Kaniyê und Girê Spî, ebenfalls im Norden Syriens, geschenkt. Denn am 9. Oktober 2019 wurde Filmmaterial über den Einsatz von Chemiewaffen bei der Operation gegen Serê Kaniyê veröffentlicht. Wenig später gingen die Bilder des 13-jährigen Mihemed Hemide in Serê Kaniyê um die Welt. Eine türkische Phosphorbombe hatte unter anderem ihn getroffen und seinen gesamten Körper verbrannt. Etliche Organisationen empörten sich und verurteilten den türkischen Staat dafür. Tagelang waren Mihemed und der Einsatz des Giftgases in den Medien, bis die Berichterstattung mit der Zeit abnahm und somit auch der Druck auf den türkischen Staat, der nun weitermachen konnte wie zuvor. Auch wenn Kurd:innen und andere politische Aktivist:innen monatelang auf die Straße zogen, hatte dieser Vorfall, bei dem die ganze Welt zusah, genauso keinerlei Konsequenzen für die Türkei.

10.-14. Februar 2021 – Kriegsgefangenenlager Gare

Nach dem Krieg in Nordsyrien fokussierte der türkische Staat sich nun vermehrt auf den Krieg in Südkurdistan und leitete dort am 10. Februar 2021 um 5 Uhr in der Früh eine neue Phase des Krieges ein. Ziel der Operation war ein Kriegsgefangenenlager der PKK, in dem sich zwölf Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte und ein vorübergehend Verhafteter aus Südkurdistan befanden. Das türkische Militär versuchte zunächst mit über vierzig Kampfflugzeugen, in Begleitung bewaffneter und unbewaffneter Drohnen, das in den Berg hinein gebaute Lager zu bombardieren und im Anschluss daran Truppen bei Luft-Lande-Operationen abzusetzen. Nachdem das nicht gelungen war und die Guerilla-Kräfte die Eindringlinge zunächst zurückgedrängt hatten, griff das Militär auch hier mutmaßlich auf chemische Kampfstoffe zurück. Offenbar sind nach massivem Einsatz von Gas die im Lager teilweise bereits verstorbenen, teilweise nur bewusstlosen Personen mit Kopfschüssen exekutiert worden. Die Soldaten töteten dabei auch die Gefangenen. Am 14. Februar war die Operation dann offiziell beendet und die Guerilla-Kräfte drängten die letzten türkischen Soldaten aus dem Gebiet. Sie fanden etliche Gasmasken und Tränengaskartuschen bei getöteten Soldaten und die Überlebenden berichteten und dokumentierten ausführlich, wie der Angriff vonstatten gegangen war. Letztlich sagte es der türkische Verteidigungsminister, Hulusi Akar, am 16. Februar 2021 im türkischen Parlament selbst: »Außerdem wurde in diesem Bereich am Eingang der Höhle nur Tränengas als Reaktion auf Granaten und Mörser eingesetzt.« Und gab dabei zu, dass die Operation unter dem Begehen von Kriegsverbrechen stattgefunden hatte. Die Tatsache, dass Beweise, Opfer und Geständnis alle beisammen waren, führten trotzdem einmal mehr dazu, dass es nicht zu Untersuchungen kam. Es gab wieder wochenlange Proteste, an deren Ende nichts geschah. Beziehungsweise gingen die Entwicklungen relativ schnell weiter und nur kurz darauf startete eine erneute völkerrechtswidrige Offensive des türkischen Staates, der die vorherigen Kriegsverbrechen in Gare überschattete.

Völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf Zap, Metîna und Avaşîn 2021

Nur zwei Monate später, am 23. April 2021 – dem Jahrestag des Völkermordes an den Armenier:innen –, eröffnete der türkische Staat zwei neue Operationen in den Regionen Zap, Metîna und Avaşîn in Südkurdistan, unter den bezeichnenden Namen »Klauen-Donnerschlag« (Pençe-Şimşek) und »Klauen-Blitz« (Pençe-Yıldırım). Die Strategie seines Militärs hatte sich im Vergleich zu den Jahren zuvor massiv gewandelt. Während frühere Operationen (abgesehen von den beiden Angriffen auf Rojava) einige Wochen, teilweise zwei, drei Monate angehalten und ein konkretes Ziel gehabt hatten und sich das Militär dann wieder größtenteils zurückgezogen hatte, änderte sich das nun bei diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Der im April begonnene Überfall hielt bis Ende Dezember 2021 an, wobei die Armee ab November einen Teilrückzug durchführte. Während des gesamten Krieges baute das türkische Militär Straßen und Militärstützpunkte auf nordirakischem Boden und zeigte ganz klar, dass sie gekommen waren, um zu bleiben, um die Gebiete zu besetzen. Auch an der Art und Weise der Kriegsführung zeigte sich, dass es für den türkischen Staat von erheblicher Bedeutung war, die Regionen einzunehmen, was ihm im Jahre 2021 aber so gut wie gar nicht gelang. Die Guerilla-Kräfte der PKK hatten sich zu sehr in den dortigen Bergen und den von ihnen errichteten Höhlen und Tunneln festgesetzt. Die Methodik, wie sie dem türkischen Militär Schläge versetzten, und zwar auf der einen Seite durch bewegliche, sehr kleine Teams, die überall verstreut immer wieder kleine Angriffe starteten, und auf der anderen Seite durch Angriffe aus den Tunneln heraus, bereiteten ihm massive Probleme. Da die sonst so wichtige Luftwaffe bei den Tunnelanlagen und Höhlen auf konventionelle Art und Weise keinen wirklichen Schaden anrichten konnte, wandten sie sich in diesem Krieg erneut chemischen Kampfstoffen zu. Das Besondere im Vergleich zu den Jahren zuvor sind jedoch zum ersten Mal systematische und großangelegte Giftgasangriffe im Kampf gegen die PKK.

Der erste Bericht über Giftgaseinsätze kam knapp zehn Tage nach ihrem Beginn. Es hieß, dass sie am 3. Mai zwischen 21 und 22.40 Uhr in Mamreşo (im Gebiet Mervanos) und gleichzeitig an den Gipfeln Şehîd Munzur und Şehîd Dilgeş stattgefunden hätten. Von da an steigerte sich ihre Zahl. Die Kommandozentrale der Guerilla-Kräfte veröffentlichte von nun an in ihren regelmäßigen Erklärungen auch die Zahl mutmaßlich stattgefundener Angriffe mit chemischen Kampfstoffen und beziffert sie wie folgt:

– Im ersten Monat 12 Angriffe, nach drei Monaten 67 Angriffe, nach sechs Monaten 323 Angriffe;
– insgesamt 367 Angriffe mit chemischen Kampfstoffen;
– 40 Guerilla-Kämpfer:innen sollen dabei ihr Leben gelassen haben.

Murat Karayılan, Mitglied des PKK-Exekutivkomitees und einer der Hauptverantwortlichen der Guerilla-Kräfte, gab dem kurdischen Fernsehsender »Stêrk TV« am 28. November 2021 ein Interview. Darin sprach er schwerpunktmäßig über das eingesetzte Giftgas. Er gab an, dass es den Kämpfer:innen gelungen sei, einige der Stoffe zu identifizieren. Er deutete an, dass Proben gesammelt und untersucht und parallel dazu die Auswirkungen der Giftstoffe auf Betroffene analysiert worden seien. So seien sie zu dem Ergebnis gekommen, dass insgesamt fünf verschiedene Stoffe zum Einsatz gekommen waren: das Nervengas »Tabun«, das als Grünes Kreuz bekannte »Chlorpikrin«, das als Gelbes Kreuz bekannte »Senfgas«, CS-Gas und ein weiteres Giftgas, welches Lähmungen verursache, jedoch nicht näher benannt werden konnte. In diesem Rahmen stellte Karayılan eine Forderung, die von der PKK in den Monaten häufig geäußert worden war, hier wiedergegeben in Form eines übersetzten Zitates: »Wir fordern internationale Organisationen auf, ihre Inspektionsteams für Untersuchungen vor Ort in die Region zu entsenden. Zugang zu den Orten, wo Chemiewaffen eingesetzt worden sind, gibt es auch über die Guerillagebiete sowie solche unter Kontrolle der PDK.« [PDK: Partiya Demokrata Kurdistanê, Demokratische Partei Kurdistans] Verschiedenste Teile und Personen der PKK riefen immer wieder dazu auf, dass der Einsatz chemischer Kampfstoffe von einer unabhängigen Delegation untersucht werden sollte, und betonten stets, dass die Guerilla die Sicherheit einer solchen Delegation gewährleisten würde.

Anfang November 2021 besuchte das »Christian Peacemaker Team« (CPT) eine Zivilistin namens Hediye Hirîr, die seit einem Angriff, der auch in der Nähe ihres Dorfes stattgefunden habe, gelähmt gewesen sei. Sie habe ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen können. Andere Familienmitglieder hätten sich demnach ebenfalls in einem schlechten Gesundheitszustand befunden. Die Organisation berichtete, während des Angriffs sei weißer Rauch aufgestiegen und die Dorfbewohner:innen hätten Übelkeit, Erbrechen, Schwindel sowie Brennen in den Augen und auf der Haut verspürt.

Verschiedene kurdische Medien berichteten immer wieder darüber, dass die Giftgasangriffe der türkischen Armee auch Zivilist:innen und deren Dörfer treffen würden, teilweise selbst dann, wenn keinerlei Kampfhandlungen in der Nähe des jeweiligen Dorfes stattgefunden hätten. So zielte die türkische Armee bei der Bombardierung des Gebiets Berwarî Bala in Dihok mit Chemiewaffen angeblich auch auf zivile Wohngebiete. Von diesem Einsatz seien insbesondere drei Personen aus dem weit von den Guerillagebieten entfernten Dorf Hiror betroffen gewesen. Sie hätten ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Außerdem wurde von verschiedenen kurdischen Medien im Oktober 2021 berichtet, dass insgesamt 548 Zivilist:innen, die in der Nähe des Kampfgebietes wohnten, an Sehstörungen, tränenden Augen, Kopfschmerzen, Nasenbluten und Hautausschlag gelitten hätten und von der PDK bedroht worden seien, sich nicht zu äußern.

Auch reiste der britische Journalist Steve Sweeney vom »Morning Star«, der sich dort selbst gut auskennt und längere Zeit dort gelebt hat, aufgrund der schieren Zahl an Berichten über die Giftgasangriffe in die Region, um konkrete Nachforschungen zu betreiben. Trotz dass ihm der Zugang zu den konkret betroffenen Regionen verwehrt wurde und er selbst kein Experte für chemische Kampfstoffe ist, gelang es ihm, mehrere Gespräche mit zivilen Betroffenen und Ärzt:innen zu führen, die er anonymisiert zusammengefasst in einem umfänglichen Bericht unter dem Titel »Collusion, Conspiracy & Corruption: An ›On The Ground‹ Report Into Turkish War Crimes And Use Of Chemical Weapons« veröffentlichte.1

Die Entwicklungen lösten weltweit Reaktionen aus. Die zentrale Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Berichte wurde von unzähligen kurdischen Organisationen in der Diaspora, in Kurdistan und v.a. in Südkurdistan in Form von verschiedensten Aktions- und Protestformen kundgetan. Briefe und Unterschriftenkampagnen wurden gestartet. Auch internationalistische Aufrufe von Nichtregierungsorganisationen, Intellektuellen und Kunstschaffenden folgten. Organisationen wie die Kurdische Freundschaftsgruppe im Europa-Parlament, kurdische Institutionen in Europa, die International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) und die französische Friedensbewegung (Le Mouvement de la Paix) appellierten ebenfalls an die zuständigen Stellen, sprich an die UN und an die »Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons« (OPCW). Ebenso forderte der Vizepräsident des Hessischen Landtags Ulrich Wilken eine Untersuchung. Letztlich fand sich auch eine internationale Friedensdelegation zusammen, die auf eigene Faust nach Südkurdistan reiste und dort möglichst viel mediale Aufmerksamkeit auf die Region zu ziehen versuchte, um Druck auf internationaler Ebene zu schaffen.

Reaktionen der verantwortlichen Stellen blieben jedoch erneut aus. Trotz der so konkreten Hinweise, die sich gesammelt hatten, trotz der klaren Beweisvideos und -bilder und der Aussagen der Betroffenen und des Drucks der Menschen weltweit geschah praktisch nichts. Die UN reagierten gar nicht auf Anfragen zum Thema. Die OPCW zog sich aus der Affäre, indem sie behaupteten, dass sie erst dann handeln könnten, wenn ein Staat, der Mitglied in der OPCW ist, einen Untersuchungsantrag stellen würde, was relativ witzlos ist in Anbetracht der Tatsache, dass die kurdische Gesellschaft mit ca. 45 Millionen Menschen die größte Nation ohne Staat ist. Andere Staaten wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich etc. antworteten auf Anfragen regelmäßig, keinerlei Informationen zum Thema zu haben und dementsprechend nicht handeln zu können. Auch wenn auf staatlich-offizieller Ebene nichts geschehen war, um den Einsatz chemischer Kampfstoffe durch die Türkei zu verhindern, war die erste Veränderung, die geschafft wurde, die Tatsache, dass sich etliche offizielle Stellen gezwungen sahen, sich dazu zu äußern, und es gelang zum ersten Mal seit langem, auf das Thema aufmerksam zu machen, was zwar keine konkreten Folgen hatte, aber doch spürbaren Druck auf den türkischen Staat ausübte. Auf Grund dieses Drucks wie auch des Widerstands der Guerilla-Kräfte vor Ort sah sich das türkische Militär, wie bereits oben erwähnt, dazu gezwungen, sich schließlich weitestgehend aus den Regionen um Zap, Metîna und Avaşîn zurückzuziehen und lediglich in den neu errichteten Militärstationen zu überwintern.

Völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf Zap, Metîna und Avaşîn 2022

Dass es sich dabei jedoch nur um eine Zwangspause aufgrund des Wintereinbruchs handelte (das türkische Militär hat im Winter massive Nachteile, da es viele technische Geräte wie Drohnen und Thermalkameras nicht effektiv einsetzen kann und auch allgemein bei dem starken Schneefall in Kurdistan jede Bewegung auf den Bergen lebensgefährlich ist), zeigte sich schnell, denn kurz nach Frühlingsanbruch startete es seine Angriffe von neuem. Ab dem 9. April wurden vermehrt Luftangriffe in den Regionen Zap, Metîna und Avaşîn durchgeführt, die sich ab dem 14. April zu einer Luftwaffen-Operation und ab dem 17. April zu erneuten Luft-Lande-Operationen ausweiteten, bei denen eine große Zahl türkischer Soldaten in dem Gebiet abgesetzt wurde. Die Fortsetzung des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges hatte begonnen, und der türkische Staat, der – genau wie der russische Staat – seine Angriffskriege als »Operationen« bezeichnet, gab den Beginn der Operation »Klauen-Schloss« (Pençe-Kilit) bekannt. Innerhalb kürzester Zeit brach ein Krieg in einer in Kurdistan kaum je zuvor gesehenen Intensität aus. So sprach beispielsweise das Hauptquartier der Guerilla-Kräfte vom umfangreichsten Krieg, den sie je hätten führen müssen, und vom größten Krieg der neueren Geschichte der türkischen Republik. Um seinen Hintergrund und die politische Situation mitsamt der Ansprüche der jeweils Beteiligten zu erfassen, bedarf es einen eigenen Textes, der diesen Rahmen jedoch sprengen würde. An dieser Stelle möchte ich auf auf unser Paper »Der türkische Angriffskrieg in Kurdistan – Hintergründe des Angriffs, Interessen des türkischen Staates und die verschiedenen Fronten« vom 23. Juni 2022 verweisen, welches sich genau mit diesen Fragen beschäftigt.2

Wie bereits im Jahr zuvor entwickelte sich der Kampf ähnlich, mit dem einzigen Unterschied, dass der Einsatz chemischer Kampfstoffe massiv zugenommen hatte und auch die eingesetzten Stoffe sich teilweise verändert hatten. Die Guerilla-Kräfte hatten die Zeit genutzt, sich besser auf die Gaseinsätze vorzubereiten, v.a. aber auch darauf, sie besser zu dokumentieren. So fanden sie sich von Anfang an auch wieder bei jeder Erklärung der Guerilla-Kräfte; es hieß bspw.: »Der türkische Staat setzt, den offensichtlichen Beweisen folgend, chemische Waffen, Phosphorbomben, thermobarische Bomben ein und Sprengkörper, die in ihrer Wirkung taktischen Nuklearwaffen ähneln.«

Die Zahlen wurden folgendermaßen angegeben:

– im ersten Monat: 113 Angriffe,
– nach zwei Monaten: 779 Angriffe,
– nach drei Monaten: 1198 Angriffe,
– nach vier Monaten: 1532 Angriffe,
– nach fünf Monaten: 2004 Angriffe,
– nach sechs Monaten: 2476 Angriffe,
– nach sieben Monaten: 2837 Angriffe.
– An manchen Tagen sollen bis zu 40 solcher Angriffe stattgefunden haben.

Die genaue Zahl der dabei getöteten Guerilla-Kämpfer:innen ist noch unklar. [Stand 15. November 2022]

Wie bereits im Jahr zuvor gab die Pressestelle der Guerilla-Kräfte jene Stoffe an, die sie identifiziert zu haben meinten. (Dabei berufen sie sich auf Ergebnisse untersuchender Ärzt:innen und von Laboren, die vereinzelte Fälle bestätigt hätten, auf die Aussagen gefangen genommener Soldaten und auf die Einschätzung von Soldaten regulärer Armeen, die im Umgang mit Giftgas geschult seien.) Es handele sich um Nervengifte (Tabun, Sarin, Soman, Vx), brennende Chemikalien (Senfgas, Stickstoffsenf, Lewisit), lungenreizende Chemikalien (Phosgen, Diphosgen, Chlorpikrin), systemische Gifte (Cyanwasserstoff, Schwefelwasserstoff), Chemikalien zur Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit (BZ, LSD), Chemikalien zur Aufstandsbekämpfung (Tränengas: CN, CS, CR, Brechmittel: DM), Herbizide (2,4-D, 2,4,5-T, Kakodylsäure, Picloram) und weitere Mittel. Insbesondere Chemikalien, die Atemnot verursachen und das Nervensystem lähmen, werden angeblich in großem Umfang genutzt. Die Pressestelle der Guerilla veröffentlichte regelmäßig Bilder von, bei Infiltrationsangriffen erbeuteten, Gasmasken und Kanistern chemischer Stoffe, die zum Mischen von Giftgas verwendet werden könnten. Von Ähnlichem berichtete eine Fact-Finding-Mission der IPPNW, die ebenfalls solche Kanister entdeckte.

Was weiter oben im Text benannt wurde, ist der Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Davon berichteten Guerilla-Kräfte in diesem Jahr immer wieder. Was genau damit gemeint ist, brachte Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrats der PKK, in einem Interview mit dem Fernsehsender »Medya Haber TV« vom 13. Juli 2022 zur Sprache: kleine Bomben, mit einem Gewicht von nur 5 Kilogramm, die jedoch eine Sprengkraft von 20 Tonnen TNT hätten. »Wenn die Bomben explodieren, wird sofort der gesamte Sauerstoff vernichtet. Alle Lebewesen werden vernichtet, ihre Nervensysteme werden zerfetzt.« Diese Beschreibung könnte auch auf thermobarische Waffen hindeuten. Kalkan zitiert einen Bericht der Guerilla-Kämpfer:innen vom Gipfel Sor in Avaşîn: »Das letzte Mal gab es eine so massive Explosion, dass wir dachten, es handele sich um ein Erdbeben. Sie war ganz anders als die vorherigen Detonationen. Wir hatten uns [an] einem Ort geschützt. Dort blieben wir eine Weile. Als wir herauskamen, stellten wir fest, dass alle Freund:innen gefallen waren. Wir gingen zum Eingang, sahen, dass keine Soldaten da waren, und gingen hinaus.«

In diesem Jahr gelang es, den Einsatz chemischer Kampfstoffe in Kurdistan dringlicher auf die internationale Agenda zu setzen, was sich vor allem an diesen zwei Gründen festmachen lässt:

1. Festnahme von Şebnem Korur Fincancı

Die Präsidentin des Verbands der türkischen Ärzt:innen (TTB), renommierte Forensikerin und Vorstandsmitglied der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV), Şebnem Korur Fincancı, welche im Jahre 2018 den Hessischen Friedenspreis erhielt, wurde am 26. Oktober 2022 in ihrer Wohnung in İstanbul von der türkischen Polizei verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Hintergrund war ihr Auftritt bei »Medya Haber TV«, in dem sie ihre Beunruhigung über die mutmaßlichen Giftgasangriffe der türkischen Armee in den kurdischen Bergen ausdrückte. Sie stellte dort die Forderung, dass es dringend die Zusammenstellung einer unabhängigen Kommission brauche, die die Vorfälle untersucht. Sie sagte, dass ihrer Meinung nach die gezeigten Symptome auf einen Einsatz von Nervenkampfstoffen hindeuteten, was einen Verstoß gegen das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen (CWÜ) darstellen würde. Nur wenige Tage zuvor hatte sie sich noch in Deutschland aufgehalten und in Köln auf der »Konferenz der Betroffenen« zur Situation der Menschenrechtslage in der Türkei gesprochen. Nun ist sie inhaftiert und wird beschuldigt, Propaganda für eine »Terrororganisation« betrieben und gegen den berüchtigten Artikel 301 verstoßen zu haben, den so genannten Türkentum-Paragrafen, der die »Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates« regelt. Das führte zu internationalem Protest; weltweit haben sich unzählige Organisationen geäußert, so auch der Weltärztebund und die deutsche Bundesärztekammer. Mit der Forderung nach der sofortigen Freilassung Fincancıs wurde auch stets ihre Forderung nach einer Untersuchung der Vorfälle betont.

2. Veröffentlichung eines Videos über die Folgen eines Giftgasangriffs

Am 18. Oktober 2022 verbreitete die Pressestelle der Guerilla ein Video über zwei Guerilla-Kämpfer:innen, die angeblich Kontakt mit chemischen Giftstoffen gehabt hatten. Es ist zu sehen, wie sie mit den Folgen des Gases zu kämpfen haben und letztlich dessen Folgen erliegen. Der Angriff habe sich kurz zuvor in Werxelê in der Region Avaşîn ereignet.

Zu sehen ist einerseits Mehmet Can Evren (Nom de Guerre: Baz Mordem). Unklar ist, wie lange er Kontakt mit dem Gas hatte, aber seine Symptome werden so beschrieben: Als er gefunden und aus der Gefahrenzone gebracht wurde, war er wie bewusstlos zusammengebrochen. Er hatte schwere Atemprobleme, machte keuchende Geräusche und versuchte, stoßweise zu atmen. Auch sein zentrales Nervensystem schien stark in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Er schwitzte übermäßig, hatte Zitteranfälle und versuchte immer wieder reflexartig, das Gift durch Speicheln und Schwitzen auszuscheiden, bis er schließlich aufhörte sich zu bewegen und sein Leben gelassen hatte.

Andererseits war Kevser Ete (Nom de Guerre: Helbest Koçerîn) zu sehen. Auch bei ihr war unklar, wie lange sie dem Gas ausgesetzt gewesen war. Sie hatte Gedächtnisverlust, war nicht ansprechbar. Auffällig war vor allem unkontrolliertes Verhalten und Lachen, »als ob sie verrückt geworden sei«. Sie konnte nicht sprechen und befand sich wie in einer plötzlichen Euphorie. Kurz danach verlor auch sie das Bewusstsein und verstarb ebenfalls.

Wie bereits im Jahr zuvor lösten die Nachrichten immense Proteste in der kurdischen Gesellschaft, aber auch bei ihnen nahestehenden Kräften aus. Das Giftgas war zu dem Hauptthema geworden, das die kurdische Nation, sowohl in ihrer Heimat als auch in der weltweiten Diaspora, am meisten beschäftigte. Unzählige kurdische Organisationen protestierten auch dieses Mal, unterstützt von etlichen außenstehenden Gruppen, Verbänden und Kampagnen, auf die verschiedensten Arten und Weisen. Wenn auch weiterhin die OPCW und ihr Sitz in Den Haag das Hauptziel jeglicher Aktionen waren und sind, fanden global Aktivitäten statt, von denen sich auch einige an UN-Institutionen und deren Niederlassung richteten. Vor dem OPCW-Gebäude in Den Haag wurde eine konstante Mahnwache durchgeführt. Xoşnav Ata, dessen Nichte Gülperin Ata (Nom de Guerre: Binevş Agal) Ende Mai 2022 am Kurojahro in der Zap-Region vermutlich durch das Giftgas des türkischen Staates getötet wurde, protestiert seit dem 5. August 2022 täglich vor dem Gebäude und fordert die Untersuchung ihres Todes. Mehrfach wurde versucht, Fact-Finding-Missions auf den Weg zu bringen. Die meisten schafften es nicht in die Nähe des Gebietes. Die einzige Delegation, die bis an die Grenze kam, dann jedoch von Kräften der Barzanî-Peschmerga, denen nicht nur von Seiten der PKK bereits seit langem Kollaboration mit dem türkischen Staat vorgeworfen wird, aufgehalten wurde, war eine Abordnung der IPPNW. Sie hielt sich zwischen dem 20. und dem 27. September 2022 in der Region auf und veröffentlichte schließlich unter dem Titel »Is Turkey violating the Chemical Weapons Convention?«3 einen Bericht mit den gewonnenen Erkenntnissen.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg lief zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels noch [Anm.: 16. November 2022], weswegen dazu nichts Abschließendes gesagt werden kann. Zu diesem Zeitpunkt kursierte gerade die Meldung, dass der Irak sich dazu entschlossen habe, auf eigene Faust eine Untersuchungskommission auf die Beine zu stellen. Dem irakischen Parlamentarier Refiq Salih zufolge, »um Untersuchungen in dem Konfliktgebiet durchzuführen«. Was tatsächlich dahintersteckt, ob die angekündigten Untersuchungen wirklich stattfinden werden und welchen Einfluss sie dann hätten, lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt lediglich spekulieren, es würde jedoch einen ersten wichtigen Schritt in eine richtige Richtung darstellen.

Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass die letzten Jahrzehnte der Unterdrückung der kurdischen Gesellschaft, egal von welchem Staat, oft mit dem Einsatz chemischer Kampfstoffe einhergingen. Es ist eine grausame Geschichte, bei der die Täter, obwohl sie meistens bekannt waren und auch meistens klare Beweise vorlagen, ungeschoren davonkamen. Bei ihnen hat sich das Gefühl breitgemacht, dass es sich bei allen Kurd:innen um Vogelfreie handelt, mit denen alles Mögliche angestellt werden kann und an denen sogar ungesühnt Kriegsverbrechen begangen werden können.

Dass die internationale Gesellschaft zu diesen offensichtlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schweigt, ist nahezu genauso schmerzhaft wie die Giftgasangriffe selbst. Gerade in diesen Zeiten, da der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in allen Medien ist und ständig über Kriegsverbrechen russischer Soldaten berichtet wird, ist diese Doppelmoral, dass zu den Vorwürfen gegen die Türkei keinerlei Regung irgendeines Staates zu spüren ist, unerträglich. Deswegen schließen auch wir uns, als »Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit – Civaka Azad e.V.« der zentralen Forderung der kurdischen Gesellschaft an und rufen daher die verantwortlichen Organisationen, und allen voran die OPCW, dazu auf, zu handeln und eine unabhängige Untersuchungskommission nach Südkurdistan zu entsenden, um die schwerwiegenden Vorwürfe des aktuellen Einsatzes chemischer Kampfstoffe zu untersuchen.

Fußnoten:

1 - https://www.peaceinkurdistancampaign.com/wp-content/uploads/2022/02/Collusion-Conspiracy-Corruption-Kurdistan-Report-by-Steve-Sweeney-22-Feb-2022.pdf

2 - https://civaka-azad.org/der-tuerkische-angriffskrieg-in-kurdistan/

3 - https://www.ippnw.de/commonFiles/bilder/Frieden/2022_IPPNW_Report_on_possible_Turkish_CWC_violations_in_Northern_Iraq.pdf


 Kurdistan Report 225 | Januar/Februar 2023