Der lange Marsch zu einer Erneuerung des Weltsozialforums

Katalysator für einen Systemwandel

Leo Gabriel, Journalist


Vor fast genau 20 Jahren wurde das Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre, Brasilien, als Gegenstück zum Weltwirtschaftsforum in Davos gegründet. Die Idee, dem so genannten »Gipfel der Reichen« einen Treffpunkt für Sozial-, Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensbewegungen entgegenzusetzen, entstand in einem breiten Bündnis, das sich im Zuge der 1990er Jahre bei den sozialen Kämpfen in Seattle gegen die Welthandelsorganisation (WTO), in Prag gegen die Weltbank und wenig später gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF), den wichtigsten Bastionen der neoliberalen Globalisierung, entwickelte.

»Obwohl wir nicht in allem übereinstimmen können, gibt es genug Gemeinsamkeiten in unseren Kämpfen, um eine große globale Bewegung zu bilden«, sagte damals Joao Pedro Stedile, eine führende Persönlichkeit der Landlosenbewegung ›Movimento Sem Terra‹ in Brasilien, aus der sich die weltweit größte soziale Bewegung, die ›Via Campesina‹ entwickelte.

Das Ziel des Weltsozialforums, das bereits 13 Mal in einer der großen Städte des globalen Südens wie Mumbai, Nairobi, Caracas, Dakar, Belem, Tunis usw. stattfand, war und ist bis heute, ein Diskussionsforum zu schaffen, in dem Alternativen zum herrschenden Neoliberalismus entwickelt werden, um zu zeigen, dass »eine andere Welt möglich ist«. In Anwesenheit von Zehntausenden von Aktivist:innen aus allen Kontinenten entstanden nicht nur Konzepte wie Solidarökonomie und partizipative Demokratie, sondern auch Strategien für einen friedlichen Widerstand, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Form einer ›multikulturellen Autonomie‹ zu verwirklichen. Unter diesem Vorzeichen fand am 15. Februar 2003 auch die lt. New York Times größte Demonstration in der Geschichte der Menschheit, gegen den von den USA und Großbritannien angeführten Krieg im Irak statt.

All das hatte zur Folge, dass sich die in der Geschichte des globalen Nordens tief verankerten Spannungen zwischen Natur und industrieller Umwelt, zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Kolonisatoren und kolonialisierten Völkern in den letzten beiden Jahrzehnten verschärft haben. Und dass die vermeintlichen ›Lösungsvorschläge‹ der auf das internationale Finanzkapital gestützten Machthaber zu einem radikalen Abbau der Demokratie und zu einer Militarisierung der Konflikte geführt haben.

Trotz der vielfältigen Bemühungen hatte das WSF – abgesehen vom vorübergehenden Aufstieg linksliberaler Regierungen in Lateinamerika – nur einen indirekten Einfluss auf die politischen Entwicklungen auf der globalen Ebene. Im Gegenteil: Die wirtschaftlichen, soziopolitischen, ökologischen und heute auch gesundheits- und friedenspolitischen Krisen haben sich rascher ausgebreitet denn je und die Mehrheitder Weltbevölkerung zu Geiseln des neoliberalen Systems gemacht.

So schrieb etwa der inzwischen verstorbene belgische Soziologe François Houtart, ein namhafter Mitbegründer des Weltsozialforums, bereits 2002: »Angesichts der Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer sozialen und kulturellen Folgen gibt es überall auf der Welt eine Vielzahl von Widerständen und Kämpfen, die allerdings in den meisten Fällen fragmentiert bleiben. Es ist daher wichtig, dass diese Bemühungen zu einer Konvergenz auf globaler Ebene führen, sowohl was die Reflexion als auch was die politische Aktion betrifft.«

Das Weltsozialforum als Katalysator für einen Systemwandel

Die Pandemie, die von einigen als Ursache, von den meisten jedoch als Katalysator für diese multidimensionalen Krisen angesehen wurde, in denen sich die Welt heute befindet, hat selbst in konservativen Kreisen des Großkapitals die Ansicht hervorgerufen, dass der »Neoliberalismus tot« sei. Wenn zum Beispiel Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, von der Notwendigkeit einer Neuprogrammierung (»The great Reset«) der Weltwirtschaft spricht, so werten viele Autor:innen wie Noam Chomsky und Richard Mason dies als Anerkennung des Scheiterns des Neoliberalismus.

Angesichts dieser Situation führte das Weltsozialforum innerhalb und außerhalb des Internationalen Rates, dem obersten Gremium des WSF, eine tiefgreifende Debatte über die Rolle, die das WSF gerade in dieser kritischen Zeit des Umbruchs spielen könnte. Viele Aktivist:innen fragten sich, ob sich der organisatorische Aufwand, so viele Menschen zusammenzubringen, wirklich lohne, nur um Ideen und Erfahrungen auszutauschen, wo doch heute eigentlich eine internationale Organisation der zivilgesellschaftlichen Initiativen gebraucht würde, die in der Lage wäre, die öffentliche Politik auf globaler, nationaler und lokaler Ebene zu beeinflussen. Gerade angesichts des Versagens der transnationalen Akteure wie der UNO, im Nahen Osten und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Frieden zu schaffen, sagen diese so genannten ›Erneuerer‹, dass das WSF einen sozialpolitischen Akteur braucht, der in der Lage wäre, nicht nur zu diskutieren, sondern auch groß angelegte Aktionen auf globaler Ebene durchzuführen.

›Open space‹ versus ›space for actions‹

So war auf dem ersten Online-WSF, das vom 23. bis 18. Januar 2021 stattfand, nicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein neuer Geist zu spüren. Dieses virtuelle Forum spiegelte deutlich wider, dass das WSF nicht nur ein Ereignis, sondern ein Prozess ist, wie es einige ›Erneuerer‹ nach jahrelangen Diskussionen im Internationalen Rat vorgeschlagen hatten. Auf der anderen Seite standen die Vertreter:innen bekannter europäischer und brasilianischer NROs, die sich auf die so genannte ›Charta von Porto Alegre‹ beriefen, um zu verhindern, dass das Weltsozialforum als politischer Akteur sui generis auftritt.

Gegenüber den ›Horizontalisten‹ gewannen jedoch die Stimmen, die das WSF nicht mehr als ›offenen Raum‹, sondern als ›Aktionsraum‹ verstanden wissen wollen, angesichts der sich verschärfenden Krisen immer mehr an Einfluss. So gelang es einer relativ kleinen Gruppe renommierter Denker wie dem portugiesischen Soziologen Boaventura de Souza Santos, dem mexikanischen Menschenrechtsprofessor Oscar González, der belgischen Sozialwissenschaftlerin Francine Mestrum vom Centre Tricontinental sowie dem Schreiber dieser Zeilen manche der weltweit größten sozialen Bewegungen wie Via Campesina, Friends of the Earth, das International Peace Bureau und andere Organisationen, die sich in den letzten zehn Jahren vom WSF distanziert hatten, zurückzugewinnen.

In den zahlreichen Webinaren zur Vorbereitung des 14. WSF, das vom 1. bis 6. Mai 2022 in Mexiko-Stadt stattgefunden hat, ist sehr deutlich geworden, dass die Forderung nach einer grundlegenden Erneuerung des politischen und wirtschaftlichen Systems, unter dem die große Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern des globalen Südens derzeit leidet, inzwischen auch von einer wachsenden Mehrheit der Mittelschichten in den Ländern des globalen Nordens geteilt wird. Denn auch für sie ist der Traum von einem besseren Leben auf der Grundlage des American Way of Life definitiv ausgeträumt.

Quo vadis? Wohin führt der Weg?

Es ist wahrscheinlich noch zu früh, um diese Frage eindeutig zu beantworten. Gerade der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie brandgefährlich es ist, wenn zwei von der Geschichte längst überholt geglaubte politische und ökonomische Systeme aneinander krachen. Die Gefahr, dass sich das Blutbad in der Ukraine ausbreitet oder – was fast noch schlimmer wäre – die Weltbevölkerung von einer siegreichen Militärmacht in ihrer Willensbildung ausgeschaltet würde, verlangt nach einer strategischen Umsetzung all der friedenspolitischen Konzepte, die vor mehr als 20 Jahren mit der Gründung des »anderen Davos« ihren Ausgang genommen haben.

Dass vor diesem Hintergrund die Divergenzen zu einer Spaltung innerhalb des WSF führen könnten, zeigte sich auch bei der abschließenden Sitzung des Internationalen Rates in Mexiko, als die aus Belgien stammende Sozialwissenschafterin Francine Mestrum vom Centre Tricontinental (CETRI) vorschlug, angesichts des Krieges in der Ukraine ALLE KRIEGE namens des WSF zu verurteilen. Nach einer dreistündigen Debatte wurde dieser Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dass das WSF als solches keine Erklärungen abgeben dürfe, sondern nur einzelne Organisationen.

Dabei war die mit dem Ukraine-Krieg in Verbindung stehende Problematik auf diesem 14. Weltsozialforum in Mexiko durchaus präsent. Neben den Konflikten in und um Palästina, Kurdistan, der Westsahara und den zahlreichen Kriegsschauplätzen in Afrika wurden auch die militärischen Repressionen der verschiedenen Flüchtlingswellen in Europa und Mittelamerika thematisiert, wobei die »Erneuerer« zusammen mit dem International Peace Bureau, der ältesten auch in Deutschland stark vertretenen Friedensbewegung, eine Erklärung unter dem Titel Universal Disarmament for a Socio-Ecological Transition verabschiedeten.

Letztendlich tauchte am Ende des WSF in Mexiko ein völlig unerwartetes Licht am Ende des Tunnels auf, als die anwesenden Vertreter:innen des Sozialforums in der Region Maghreb/Maschrek die Mitglieder des Internationalen Rats einluden, vom 30. November bis 3. Dezember nach Tunis zu kommen, um in einem Seminar auszuloten, ob ein Kompromiss zwischen den »Erneuerern« und den »Orthodoxen« im WSF gefunden werden könnte oder nicht. Und siehe da, die Quadratur des Kreises gelang: es wurde beschlossen, dass es zwar ein Weltsozialforum 2024 (vermutlich in Nepal) geben werde, dass es aber parallel dazu einen Entscheidungsprozess über Aktionen auf globaler Ebene in Form einer »Versammlung der Widerstandskämpfe des WSF« geben soll, in dem die Beschlüsse mit einer qualifizierten Mehrheit von 80 Prozent der Bewegungen aus den verschiedenen Weltregionen gefasst würden, um letztendlich eine ›globale Agenda‹ für weltweite Mobilisierungen zu schaffen.

Leo Gabriel ist Journalist, Dokumentarfilmer und Anthropologe aus ­Österreich; Mitglied des Internationalen Rates des ­Weltsozialforums

 


 Kurdistan Report 226 | März/April 2023