Notizen zu einem kurdischen Liebesepos

Ferhad û Şîrîn

Deryagul Beran


Wie so viele Mythen und Epen Kurdistans wurde auch das berühmte Liebesepos von Ferhad und Şîrîn türkisiert oder iranisiert. In der türkischen Version wird davon ausgegangen, dass das Zentrum dieser Geschichte die heutige türkische Stadt Amasya sei. Dem aber widersprechen die Bauten, die von Ferhad, einem Kelhûrî-Kurden aus Kirmaşan erzählen. Der berühmte iranische Historiker Firdewsi auf der anderen Seite iranisierte das Epos und nannte es ein persisches Meisterwerk. Wie dem auch sei, Ort des Geschehens ist Kirmaşan in Rojhilat (Ostkurdistan), dessen Berge sich bis in den Qendîl hinein ziehen.

Heute ist dieses Epos in der gesamten Region des Mittleren Ostens bekannt. Es erzählt von einer »unmöglichen Liebe« zwischen dem Kurden Ferhad und der Şîrîn, die einigen zufolge aus dem persisch besetzten Armenien, den türkischen Quellen zufolge aus dem persischen Aserbaidschan stammen soll.

Es geht hier um eine Liebe, für die der Mann (Ferhad) die Berge durchbricht. Das Thema, für die Liebe die Berge zu durchbrechen wie Ferhad findet sich heute immer noch in vielen Liebesgedichten und Liedern wieder.

Das Epos: Ferhate Kelhûrî û Şîrîna Mîhranî (Ferhad û Şîrîn)

Der kurdische Sammler von Märchen, Sagen und Epen, Melîk Aykoc vom Kurdischen Institut für Wissenschaft, Kultur und Sprache, ist diesem Epos nachgegangen und hat darüber einen Artikel in der Yeni Özgur Politika veröffentlicht:

Die historische Straße, die Kirmaşan mit Ecbatana (heute Hamadan) verbindet, ist nicht nur eine historische Straße. Die Straße führt durch ein Gebirge, es ist die Region der Geschichte von Ferhad und Şîrîn, dort liegt also der Ursprung eines der größten Meisterwerke der kurdischen Literatur. Leider ist jedoch aufgrund der kolonialen Unterdrückungspolitik die Gegend von Kirmaşan auch sehr vielen Kurd:innen unbekannt. Wie auch die Liebesgeschichte von Ferhad und Şîrîn. Selbst viele Kurd:innen der jüngeren Generation kennen dieses Epos als türkische oder persische Geschichte – gestohlen und als Meisterwerk türkischer oder persischer Literatur ausgegeben.

Viele architektonische Bauten in der Region Kirmaşan warten darauf erforscht zu werden, ihre Schmuckreliefs erzählen sehr vieles aus der Zeit vor Christi Geburt. Kirmaşan ist ein Ort kurdischer Architektur und ein Zentrum der kurdischen Literatur. Noch heute sind die Spuren der Reliefs und Motive an den Bauten an Berghängen zu sehen.

Genau hier, in der Gegend von Kirmaşan trägt sich auch die Geschichte von Ferhad und Şîrîn zu. Anhand historischer Quellen wird davon ausgegangen, dass das Liebesepos auf die Jahre 590-628 n. Chr. zurückgeht und sich in einer Burg im Osten der Bergregion abspielt. Damals regierte der sassanidische Herrscher Xusrev II. An einem etwa zwei Kilometer langen Bergmassiv finden sich heute noch sehr viele Reliefs von Darios und Gaumada. Aus der Ferne oder aus der Vogelperspektive betrachtet sieht diese Bergkette wie eine schlafende Frau aus. Deshalb wird sie von den einheimischen Kelhûrî-Kurd:innen als Şîrînî Xefte – die süße Schlafende bezeichnet. Der See am Fuß der Berge wird von der dortigen Bevölkerung als »die Badewanne des Ferhad« bezeichnet. Die Quelle, aus der das Wasser des Sees kommt, wird heute noch Ferhad-­Quelle genannt.

Ferhad ist ein berühmter Bildhauer und Reliefskulpteur, ein Kelhûrî-Kurde aus Kirmaşan. Auf Befehl von Şah Xusrev Parvizi II. soll Ferhad dessen Portrait in den Berg meißeln und ihn so verewigen. Xusrev Parvizi II. besteht darauf, dass seine Bildnisse an den Bergfelsen in Größe und Ausdruck viel mächtiger wirken als die des ehemaligen Königs Darios. Etwa 400 Meter westlich des Darios-Reliefs beginnt Ferhad mit seiner Arbeit. Deshalb wird dieses Relief, dass er nicht beenden konnte, im Volksmund heute noch als »Taraşî Ferhad« bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde auch offiziell übernommen.

Şîrîn ist berühmt für ihre Schönheit und Intelligenz. Anhand historischer Quellen wird vermutet, dass sie entweder die Schwester oder die Schwiegertochter von Mihriban, der Frau des Königs der Region Arran im heutigen Aserbaidschan ist. Xusrev Parvizi II. verliebt sich in Şîrîn und tut alles um sie zu heiraten, was ihm schließlich gelingt. Deshalb hat der persische Dichter Firdawsi in seiner Version dieses Epos als die Liebe zwischen Xusrev Parvizi II. und Şîrîn aufgenommen.
In der Version von Firdawsi heißt es: »Das Herz von Xusrev Parvizi II. gehört der Schwester der Mihriban von Arran/Aserbaidschan Şîrîn. Er will sie unbedingt und will für diese selbst eine Burg erbauen lassen.«

Aber auch Ferhad verliebt sich in Şîrîn. Das bekommt Xusrev mit und stellt ihm eine Bedingung.

Xusrev bittet Ferhad, neben seinem Bildnis auch eine Treppe in den Berg zu hauen, und sagt ihm zu, dass er als Gegenleistung auf Şîrîn verzichten würde. Für seine Liebe zu Şîrîn arbeitet Ferhad Tag und Nacht. Bohrt sich durch die Berge in der Hoffnung, dass er Şîrîn endlich heiraten kann. Es gelingt ihm, die Treppe in den Berg zu hauen. Also muss Xusrev sein Versprechen einlösen, was er jedoch nicht beabsichtigt hatte. Über einen Boten lässt er Ferhad mitteilen, dass Şîrîn gestorben sei. Mit dieser Nachricht bricht Ferhads Welt zusammen, und er stürzte sich vom Berg in den Tod.

Es ist von Bedeutung in dieser Geschichte, wie hart Ferhad für seine Liebe kämpft. Daher ist die Redewendung »für seine Liebe die Berge durchbrechen« eine weit verbreitete, nicht nur unter Kurd:innen, sondern in der gesamten Region des Mittleren Ostens.

Gedanken von Abdullah Öcalan zum Epos Ferhad und Şîrîn

Der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan, der sich auch sehr intensiv mit dem Phänomen »Liebe«, vor allem der Liebe zwischen Mann und Frau, auseinandersetzt, hat sich auch mit diesem Epos beschäftigt; und während seiner Gespräche mit den Anwält:innen auf der Gefängnisinsel İmralı 2009 hat er sich auch zu Ferhad und Şîrîn geäußert. Ausgehend von der gegenwärtigen kapitalistischen Kultur, in der Frauen eingezwängt sind, kritisiert er, wie der Einfluss dieser Kultur sich auch in der Liebe widerspiegelt.

»In der kapitalistischen Liebesbeziehung gibt es keine Mühe, es gibt keine echte Liebe. Liebe erfordert Kampf und Mühe. Ferhad und Şîrîn sind ein Beispiel dafür … Es ist ein historisches Ereignis. Ferhad durchbricht die Berge, um Şîrîn, seine Geliebte, zu erreichen, indem er tausend Mühen und Leiden auf sich nimmt. Für seine Liebe musste er sogar die Hoheit und Macht des Schahs von Iran zerstören. Als er dies nicht erreichen konnte, als er die iranische Macht nicht vernichten konnte, stürzte er sich von den Bergen hinunter. Das ist die wahre Liebe …«.

 


 Kurdistan Report 226 | März/April 2023