Eindrücke eines Physiotherapeuten aus dem Autonomen Gebiet Nord-und Ostsyrien

Nach und nach verstehe ich die Lebensphilosophie der Freund:innen

Von Bruno Schlöcker


Vor gut einem halben Jahr kam ich in den Autonomen Gebieten Nord- und Ostsyriens an. Ich, ein frisch aus­gelernter Physiotherapeut aus Deutschland, mit brüchigen Englischkenntnissen und so gut wie keinen lokalen Sprachkenntnissen. Viel mehr als die Worte Spas (danke) und Rojbaş (guten Tag/Morgen) hatten sich aus meinem Kurdisch-Crashkurs noch nicht verfestigt. Da stand ich also mit zwei Rucksäcken bepackt am Grenzübergang, in gespannter aber auch freudiger Erwartung, endlich das Land zu sehen, von dem ich schon so viel gehört hatte.

An der Grenze erwarteten mich zwei Freunde, die Arm in Arm dastanden und mich begrüßten. Diese beiden Menschen führten mir schon im Moment meiner Ankunft die Spuren des Krieges vor Augen.

Einer der beiden Freunde hatte sein Augenlicht zu 95% Prozent bei einer Granatexplosion verloren und der zweite Freund hatte seinen Unterschenkel bei der Explosion einer der vielen tausend Minen des »IS« verloren. Schon bei diesem ersten Zusammentreffen war ich mir sicher, dass ich bei den richtigen Freund:innen angekommen war.

Von der Grenze aus fuhren wir, in einem typischen Kleinbus und bei gut 40 Grad drückender Hitze, zu einem Mala Gazî.

Mala Gazî – Das Haus der Kriegsverletzen

Seit Ausbruch der Revolution am 12. Juli 2012 ließen über 13 000 vorwiegend junge Frauen und Männer ihr Leben im Freiheitskampf gegen den »IS« und in der Verteidigung gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Staates. Die Gefallenen liegen gemeinsam auf großen Friedhöfen, sog. Şehitlik. Außerdem wurden rund 23 000 Menschen im Kampf verletzt.

Etwa 5000 Verletzte trugen körperliche Beeinträchtigungen davon, die ihr Leben völlig veränderten. Ich spreche hier von amputierten Armen oder Beinen oder Querschnittslähmung durch Rückenmarksverletzungen. Hinzu kommt eine Vielzahl von (unvollständigen) Lähmungen einer Körperhälfte (Hemiparesen), die vor allem durch Kopfschussverletzungen verursacht wurden.

Verletzte mit langfristigen körperlichen Beeinträchtigungen werden als »Gazî« bezeichnet.

Seit 2015 organisieren sich die Gazîs gesellschaftlich, um auch weiterhin eine aktive Rolle beim Aufbau einer basisdemokratischen Gesellschaft in der Region zu spielen und Verantwortung zu übernehmen.

Es entstanden viele Mala Gazî, verteilt über das ganze Land. In diesen Häusern führen die Menschen ein kollektives Leben, sie gehen verschiedenen Arbeiten nach und bilden sich gemeinsam. Bildung findet z.B. in Lesekreisen statt und berufliche Weiterbildungen wie z.B. Sprachkurse in Englisch und Russisch sind der Einstieg in neue Aufgaben.

Die Organisation der Gazî bietet den Kriegsverletzten auch eine medizinische Grundversorgung und physiotherapeutische Behandlungen.

Meine physiotherapeutische Arbeit hat mich vor neue Herausforderungen gestellt

In dem Mala Gazî, in dem ich aktuell arbeite, gibt es zwei Wohnbereiche, einen für Frauen und einen für Männer, wo auch ich lebe. Außerdem gibt es einen Bereich für Physiotherapie. Die Ausstattung meines Arbeitsplatzes besteht aus zwei alten, nicht verstellbaren Liegen, einem kleinen Schrank mit Therabändern, ein paar Bällen und einem kleinen Ultraschallgerät. Außerdem gibt es noch ein Sitzfahrrad, ein Laufband und ein Stehbett für Querschnittsgelähmte. Diese Ausstattung ist für hiesige Standards eine besonders gute Ausstattung. Nicht zu vergessen das Herzstück eines jeden Raumes, die unverzichtbare Klimaanlage. Fällt der Strom aus bleibt aber nur der Verzicht.

Meine physiotherapeutische Arbeit hat mich nicht nur sprachlich vor neue Herausforderungen gestellt. In den ersten Wochen wurde mir ein Freund, der durch eine Schussverletzung im Rollstuhl sitzt und seit gut einem halben Jahr Englisch lernt, als Übersetzer beiseite gestellt. Das war eine große Hilfe! Gemeinsam konnten wir in gebrochenem Englisch, mit wenigen Wörtern in Kurdisch und mit Körpersprache kommunizieren.

Viele der Freund:innen wurden vor mehreren Jahren verwundet, hatten aber bis vor Kurzem so gut wie keine physiotherapeutische Behandlung. Das führte zu starken und dauerhaften Bewegungseinschränkungen der Gelenke (Kontraktur) und der Rückbildung von Körpergewebe (Atrophien), bspw. der Muskulatur. Mangelndes Wissen und fehlende Behandlungsmöglichkeiten machen das Wundliegen (Dekubitus) zu einem großen Problem. Dekubitus in Stadium 2 und sogar 3 sind keine Seltenheit. Im schlimmsten Stadium 4 kann das Gewebe bis zum Knochen absterben.

Man merkt deutlich, dass zum Zeitpunkt der Verletzungen die medizinischen und damit auch die operativen Möglichkeiten sehr beschränkt waren. Deshalb konnten bspw. bei vielen Kriegsverletzten Granatsplitter nicht entfernt werden. Sie lagen zu dicht an lebenswichtigen Organen oder Nerven, um sie mit den vorhandenen Möglichkeiten herauszuoperieren. Auch behindern große Narbengewebe die Beweglichkeit. Und das alles, weil minimal invasive Operationsmethoden nicht möglich waren.

Da musste ich erst einmal einen Schritt zurück machen und den Freund:innen zuhören um etwas über den Krieg zu lernen

Ich habe mich schnell eingelebt, was vor allem am herzlichen Umgang der Freund:innen untereinander und mit mir liegt. Es werden viele Späße gemacht, manchmal auch auf meine Kosten. Die Kommunikation untereinander ist direkt und offen.
Das kapitalistische Leistungssystem in Deutschland und seine Auswirkungen auf meine physiotherapeutische Arbeit sind weit weg. Auch das tut gut.

Dazu möchte ich ein Beispiel geben: In Deutschland kommt ein Patient mit einem normalen Rezept für Physiotherapie zu mir. Es steht uns eine Behandlungszeit von 20 Minuten zur Verfügung, einschließlich Begrüßung sowie An- und Ausziehen. Für die Behandlung bleiben so höchsten 15 Minuten. In einer Stunde muss ich drei Menschen abfertigen. Für mich fühlt sich das an, als würde ich mich jeden Tag selbst belügen. Ich weiß, dass so eine Behandlung niemals so nachhaltig und effektiv sein kann wie sie es sein sollte. Durch Bürokratie wird der Behandlung ein großer Teil der Menschlichkeit genommen. Doch gerade in der Physiotherapie ist diese zwischenmenschliche Beziehung sehr wichtig. Denn wie soll ich jemanden behandeln, wenn ich aus Zeitmangel von Anfang an kein Vertrauen aufbauen kann? Die meisten Patient:innen in der Physiotherapie leiden unter starken Anspannungen und eine Behandlung unter Zeitdruck trägt sicher nicht zum Abbau dieser Anspannungen bei.

Wir haben schon in der Ausbildung gelernt, dass manchmal die beste Physiotherapie das Zuhören ist.

Hier habe ich auf einmal ganz neue Möglichkeiten. Ich kann je nach Bedarf und Befinden des zu Behandelnden selbst über die Behandlungsdauer entscheiden. Ich orientiere mich am Menschen und nicht an einem Stück Papier.
Doch teilweise treffe ich auch auf ähnliche Schwierigkeiten wie in Deutschland. Oft fehlt hier ebenfalls das Verständnis für den Ursprung der Symptomatik.

Am auffallendsten ist die Schwierigkeit der Freund:innen sich zu entspannen oder sich ein gutes Körpergefühl zu erarbeiten. Anders als in Deutschland liegt das aber nicht am Stress durch kapitalistische Zwänge, sondern an über 10 Jahren Krieg und an traumatischen Erfahrungen. Da musste ich auch erst einmal einen Schritt zurück machen, um den Freund:innen zuzuhören und um etwas über den Krieg zu lernen. Jedoch haben wir hier gemeinsam ganz andere Möglichkeiten uns der Physiotherapie anzunähern.

Nach und nach verstehe ich die Lebensphilosophie der Freund:innen, die mich sehr beeindruckt

Anfangs war ich froh darüber, wenn ich mich auf die Frage »In wie vielen Jahren kann ich wieder normal laufen?« hinter meinen mangelnden Sprachkenntnissen verstecken konnte und nicht antworten musste. Mittlerweile habe ich verstanden, dass es den Freund:innen sehr wohl bewusst ist, dass sie nie wieder wie vor der Verletzung gehen werden. Aber Hoffnung ist der beste Weg um ›Ja‹ zum Leben zu sagen und den unendlich großen Schmerz zu ertragen, der tagtäglich durch Krieg und die gezielten Exekutionen durch türkische Drohnen verstärkt wird.

Aus dieser Hoffnung und aus der Verantwortung gegenüber den Şehîds (Gefallenen) speist sich eine unerschütterliche Kraft für die Verteidigung des Lebens und für eine bessere Welt zu kämpfen.

Die neue große Angriffswelle des türkischen Staates

Als am 19. November die türkische Armee ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit einer neuen Angriffswelle aus der Luft fortsetzte, hat das auch unser Leben stark beeinflusst. Wegen der Bombardierungen mussten wir immer wieder unser Zuhause verlassen und die physiotherapeutischen Behandlungen stoppen. Notwendige Operationen mussten abgesagt werden und durch die massiven Bombardierungen der Infrastruktur saßen wir die meiste Zeit im Dunkeln.

Wir haben trotz der Angriffe versucht, die Physiotherapie weiter zu führen so gut es ging. Diese Mentalität, auch unter schweren Angriffen nicht nur abzuwarten und nicht passiv und ängstlich über weitere bedrohliche Entwicklungen zu spekulieren, hat mich sehr beeindruckt. Wie dehnen sich die Angriffe aus? Folgt eine Bodenoffensive? Diese Fragen haben nicht unser Leben bestimmt! Es gilt, die eigenen Arbeiten immer weiter voranzutreiben. Diese Mentalität prägt die gesamte Gesellschaft. Das konnte ich tagtäglich erfahren.

Aus dieser Erfahrung entsteht auch mein Appell an euch Leser:innen: Hört auf abzuwarten! Lasst euch nicht von einem Ohnmachtsgefühl lähmen! Jeden Morgen entscheidet ihr selbst, welches Leben ihr leben wollt, welchen Beitrag ihr für die Gesellschaft leisten wollt und schließlich auch, welchen Beitrag ihr für ein besseres Leben in der gesamten Welt leisten wollt.

Wenn die Angriffe enden und den Menschen hier keine Steine mehr in den Weg gelegt werden, brauchen sie keine Hilfe, denn die Menschen hier und ihre Ideen für ein neues, anderes Leben sind die Hilfe, die jetzt die ganze Welt braucht.
Die Angriffe müssen enden und dafür stehen diese Forderungen:

Es braucht jetzt! eine Flugverbotszone über Nord-Ostsyrien.

Es braucht jetzt! eine Aufhebung der Embargos gegen die Autonome Verwaltung Nord-Ostsyriens.

Es braucht jetzt! einen sofortigen Waffenexportstopp an das Nato-Mitglied Türkei.

Es braucht jetzt! eine Aufhebung des PKK-Verbots und die sofortige Freilassung Abdullah Öcalans und aller politischen Gefangenen, um einen Weg für einen anhaltenden Frieden in Mittleren Osten zu ebnen.

Wartet nicht auf Entscheidungen der Herrschenden oder auf Parteien wie die Grünen.

Ihr habt die Kraft selbst zu handeln!

 


 Kurdistan Report 226 | März/April 2023