Wie Zerstörung und Kommerzialisierung der Natur zur Ausrottung eines Volkes beiträgt

Ökozid als Methode des Völkermordes in Kurdistan

Zerdest Amed, freier Journalist


Im Folgenden wird die ökozidiale Politik des türkischen Staates als Methode des Völkermordes eingeordnet. Verschiedene Beispiele wie der Bau von Wasserkraftwerken, rücksichtsloser Bergbau zur Gewinnung von Mineralien und Metallen, Erweiterung von Steinbrüchen und Abholzung von Wäldern zeigen das Ausmaß der Umweltzerstörung. Zusätzliche Auswirkungen der Klimakrise verstärken den Ernst der Lage für das kurdische Volk. Somit ist der Kampf gegen den Ökozid von existenzieller Wichtigkeit.

Die 100-jährige Völkermord- und Assimilierungspolitik des türkischen Staates in Kurdistan hat mit dem AKP-Regime eine neue Stufe erreicht. Das Hauptmerkmal dieser Periode ist die Hinzunahme von auf ökologische Zerstörung gerichteten Praktiken in die klassischen Methoden des Völkermordes. Sie rücken in der heutigen Zeit sogar in den Mittelpunkt dieser. Einerseits lässt das AKP-Regime die Tradition und Praxis des politischen und kulturellen Völkermordes wieder aufleben, andererseits vermarktet und zerstört es die Natur Kurdistans und damit seine über- und unterirdischen Reichtümer, Ressourcen und die Flora und Fauna. Unter den Etiketten der »Entwicklung« und »Investition in den Energiesektor« wird die Ausbeutung Kurdistans durch nationales und internationales Kapital aufrecht erhalten. Die umfassend stattfindenden Angriffe zielen also sowohl auf das Wasser und den Boden als auch auf das soziale Gefüge der gesamten Region Kurdistan ab. Vollendet werden soll der Völkermord an den Kurd:innen durch kulturelle Assimilierung, das Schaffen wirtschaftlicher Abhängigkeit und dem Versuch einen demografischen Wandel durch groß angelegte Vertreibungen herbeizuführen, der die Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen mit sich bringt.

In der Literatur wird der Ökozid als umfassende Fortsetzung kolonialer Praktiken und Politiken des Völkermords anerkannt, der neben dem physischen Tod auch die Verelendung im kulturellen und sozialen Sinne mit aufgreift. Während die klassischen Methoden des Völkermordes im internationalen Strafrecht und in den internationalen Menschenrechten umfassend anerkannt werden, gibt es weder in den Genfer Konventionen noch im Römischen Statut der Vereinten Nationen eine formale Anerkennung von Methoden des Ökozids. Diese Rechtslücke ermöglicht es dem internationalen Kapital und den Staaten des Mittleren Ostens, diese als zeitgemäße Methoden des Völkermords und Kolonialismus einzusetzen. Dazu gehören Praktiken wie Bergbau, Landraub, Abholzung, der Bau von Staudämmen und die Kommerzialisierung von Wasser. Einige Exper:innten sprechen vor diesem Hintergrund von einem »entwicklungspolitischen Völkermord«. All diese Praktiken zielen darauf ab, den Völkern durch die Zerstörung der Natur, die in einer engen Beziehung mit ihrer Kultur und ihrem Bewusstsein steht, die Lebensgrundlage zu entziehen und so den Völkermord durch sozialen Tod und Assimilierung zu vervollständigen. Der Wirtschaft kommt dabei die Rolle zu, dass sie statt der herkömmlichen Instrumente, dem militärischen und physischen Zwang, den Nationalstaaten des Mittleren Ostens und dem internationalen Kapital die Profite, die aus der Ausbeutung geschlagen werden, sicherstellt. Während sich die meisten akademischen Arbeiten auf indigene Völker in den USA, Kanada und Australien konzentrieren, haben viele Feldstudien gezeigt, dass die Situation bei vielen kolonisierten Völkern die gleiche ist. Crook und Short (2014) bezeichnen jene Situation als »ökologisch motivierten Völkermord«.

In diesem Sinne argumentiert der Anthropologe Alexander Dunlap, dass es wichtig sei, die ontologische und untrennbare Beziehung der indigenen Völker zu ihrem Land anzuerkennen. Er weist darauf hin, dass Methoden des Ökozids, wie der Entzug von Land, Wasser und anderen lebenswichtigen Ressourcen, die Tötung oder Zerstörung von Tieren, Fischen und Ernten, das Leben, die Existenz und den Widerstand indigener Völker untergraben können und dass eben diese Praktiken im internationalen Menschenrecht als Völkermord und Kriegsverbrechen festgehalten sind. Die Vermarktlichung der Mittel, wie durch Bergbau- und Staudammprojekte, ändert nichts an dieser Tatsache, weshalb auch jene Praktiken als langfristige Aufstandsbekämpfung und »Taktik, die Teil einer größeren Ausrottungsstrategie sein kann« (ebd.) anerkannt werden sollten. Brisman und Güney (Brisman und Güney, 2016; Goyes et al., 2017) betonen, dass der Raubbau an der Natur, an Land und Wasser und die entstehende materielle und moralische Schutzlosigkeit der von ihnen abhängigen Völker durch die Technik des Ökozids genozidale Folgen hat. Es ist bekannt, dass die ländlichen und landbasierten kulturellen und sozioökonomischen Strukturen dieser Menschen mit der Struktur der kapitalistischen Städte ontologisch unvereinbar sind und sie daher in die Verelendung treibt, marginalisiert und systemischer Ausgrenzung und Diskriminierung aussetzt. Die Situation von Millionen Kurd:innen in Europa und den westlichen Metropolen, die in den Neunzigerjahren vom Staat aus den Dörfern Kurdistans vertrieben wurden, ist ein Ausdruck dieser Assimilierung und Proletarisierung, mit ihren Folgen des kulturellen und wirtschaftlichen Genozids.

Raphael Lemkin, der rechtsphilosophische Begründer des Begriffs Völkermord, verweist auch darauf, dass die geografische und physische Integrität eines Volkes für die Schaffung und Erhaltung von Kultur unerlässlich ist. Praktiken, die darauf abzielen, diese »organische« Verbindung zu unterbrechen, seien daher genozidale Praktiken, die vom Kolonialismus eingesetzt werden. Damien Short (2016) veranschaulicht diese These in seinem Buch »Redefining Genocide« eindrucksvoll anhand von Feldstudien über indigene Völker in Palästina, Kanada, Australien und die Tamilen. Er argumentiert, dass die Loslösung von Land und Geografie die gesamte Struktur eines Volkes zerstört, die ökonomische Basis raubt und verändert und den kulturellen Genozid unvermeidlich macht. Der türkische Staat betreibt heute in Kurdistan die gleiche Politik. Obwohl das gesamte Land betroffen ist, sind einige Regionen besonders hervorzuheben.

Die Kurden sollen durch den Ökozid grab- und geschichtslos gemacht werden

In Nordkurdistan gibt es viele Beispiele für die ökozidiale Politik des türkischen Staates. Die Natur und die kurdisch-alevitische Identität von Dêrsim sind einer umfassenden Zerstörung ausgesetzt, die eine Fortsetzung des Völkermords an der Bevölkerung von 1938 ist. Ihre Böden, Flüsse, Wälder, kulturelle Identität und ihr Glaube werden durch Dämme, Minen, Brände, Tourismus und Jagd zerstört. In den letzten 10 Jahren wurden in der Region sechs Sicherheitsdämme und Wasserkraftwerksprojekte fertiggestellt. Mit diesen Projekten, die an den Flüssen Karasu und Peri gebaut wurden, welche die natürlichen Grenzen von Dêrsim bilden, wurde die Provinz von Seen umgeben. Von der Region Ovacık Mercan Şahverdi-Işıkvuran bis zu den Ausläufern des Pülümür Hel-Gebirges und des Bağır-Gebirges werden in Dutzenden von unkontrollierten und nicht überwachten Gebieten Bergbauexplorationen durchgeführt. Es heißt, dass das gesamte Mizur-Gebirge (tr. Munzur) zum Bergbaugebiet erklärt worden ist. Vor allem Gold-, Silber-, Molybdän- und Chromabbauprojekte bedrohen fast alle der riesigen Waldgebiete. Die Verwendung von Zyanid und anderen chemischen Stoffen zur Förderung dieser Metalle vergiftet den Boden, das Wasser und das gesamte Ökosystem unwiderruflich. Die Tunçpınar Mining Company, ein Gemeinschaftsunternehmen der US-amerikanischen Alacar Gold und der türkischen Çalık-Gruppe, hat nun neue Lizenzen für Explorationstätigkeiten in fünf verschiedenen Gebieten erhalten.

Eines der Unternehmen, das in Dêrsim in großem Umfang nach Mineralien sucht, ist das kanadische Unternehmen Tigris Eurasia, das über eine Lizenz für die Förderung von Edelmetallen in der Region Pêrtag (tr. Pertek) verfügt. Vor kurzem hat das Unternehmen seine Anteile in der Türkei an die amerikanische Ravello Investment Group Limited übertragen. Einige dieser in der Stadt erteilten Lizenzen haben direkte Auswirkungen auf das Wasser des Flusses Mizur (tr. Munzur), das Mercan-Tal, die Kırk-Merdiven-Wasserfälle und zahlreiche Berge. Trotz der artenreichen Flora dieser Region und Protesten der Anwohner wird die Ausbeutung der Natur weiter fortgesetzt. In Halvori Gozeleri, einer der heiligen Stätten der kurdisch-alevitischen Bewohner:innen von Dêrsim, soll ein Hotel gebaut werden und weitere heilige Orte sind von neuen Landschaftsprojekten des türkischen Staates betroffen.

Auch die Provinz Wan (tr. Van) ist stark von der Umweltzerstörung betroffen. Trotz des Widerstands von Umweltorganisationen und umliegenden Dörfern und der Entscheidung der 6. Kammer des Staatsrats, den Bau eines Wasserkraftwerks im Zilan-Bach im Bezirk Erdîş (tr. Erciş) von Wan im Jahr 2014 zu stoppen, nahm die Regierung die Arbeiten 2020 wieder auf. Dieses Projekt zielt darauf ab, die Erinnerung an das Massaker von Zilan, das im Zuge der Ararat-Aufstände an der kurdischen Bevölkerung verübt wurde, zu zerstören. Dies ist als Versuch zu werten, die Kurd:innen grablos und geschichtslos zu machen.

Daneben finden sich zahlreiche weitere Beispiele für die ökozidiale Politik des türkischen Staates. Der Bau von Wasserkraftwerken und die Ausweitung von Marmor- und Kalksteinbrüchen zerstört die Lebensgrundlage der Bevölkerung in vielen Dörfern. In Şirnex (tr. Şırnak) werden in den Nerduş-Bach Abwässer aus Kohlebergwerken eingeleitet, welche die Gesundheit von Mensch und Natur in der Bergregion Cudi bedrohen und in Şirnex (tr. Şırnak) werden täglich 450 Tonnen Bäume abgeholzt. In Meletî (tr. Malatya) ist die artenreiche Tierwelt durch neue und bereits in Betrieb befindliche Minen bedroht und die Suche nach Gold, Eisen, Kupfer und Blei geht stetig weiter. Die gravierenden Folgen der Ausbeutung Kurdistans stellt die Goldmine in Erzincan İliç deutlich unter Beweis, die durch ein Joint Venture zwischen Kanada und der Çalık Holding betrieben wird und für die Goldförderung tausende Tonnen von Zyanid, Schwefelsäure und Natriumhydroxid in die Umwelt abstößt. Nicht zu vergessen bleibt außerdem die Flutung Hasankeyfs durch den Ilısu-Staudamm, mit der 2016 199 Dörfer und Zeugnisse von 12000 Jahren Geschichte ausgelöscht wurden. Dies ist das wohl offensichtlichste Beispiel für den Versuch des kulturellen Völkermords.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Zerstörung der Natur in Kurdistan die Identität, die Erinnerungen und die Lebensräume des kurdischen Volkes zerstört werden sollen. Durch Großprojekte, wie dem Bau von Staudämmen, soll die Kontrolle des Staates in den betreffenden Regionen ausgebaut werden. Des Weiteren soll mit der Etablierung einer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Struktur, eine Struktur aus kollaborierenden Familien und Stämmen geschaffen werden, die stetig vom Staat abhängig sind und seine lokalen Erfüllungsgehilfen darstellen. Als Gegenleistung für das Schweigen internationaler Staaten zu der Zerstörung sozioökonomischer Strukturen, wie durch Zwangsumsiedlungen oder die Zerstörung der Natur, darf sich das ausländische Kapital auch am Kolonialismus bereichern. Methoden dieser Politik sind die Vertreibung der Menschen aus ihrem sozialen, politischen und kulturellen Umfeld in die europäischen und westlichen Metropolen, die Etablierung einer Politik der Isolierung, der Desorganisation der Gesellschaft und der systematischen Assimilierung. Dadurch soll die Realität des kurdischen Volkes, die durch die kurdische Freiheitsbewegung geschaffen wurde, angegriffen werden. In diesem Kontext findet auch eine Arabisierung und die zunehmende Vertreibung der kurdischen Bevölkerung insbesondere in den südlich gelegenen, grenznahen Städten statt. Vor allem in den besetzten Teilen Rojavas, wie im 2018 besetzten Efrîn, zeigt sich diese Politik deutlich.

Die Klimakrise

Der Nahe Osten als eine der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen und darin besonders Kurdistan ist mit einer schweren Dürre und Wasserkrise konfrontiert. Es wird erwartet, dass diese Krise zu einem Rekordtief der landwirtschaftlichen Produktion und zu einer Nahrungsmittelkrise führen wird. Um einen nachhaltigen Umgang mit dem vorhandenen Wasser zu etablieren, müsste sich zudem eine ökologische Landwirtschaft entwickeln. Diese Warnungen und Berichte sind alarmierend. Die schwere Dürre in Başûr, Bakur und Rojava in den letzten Jahren ist ein Indikator dafür. Wenn diese Klimakrise und die Umweltzerstörung und die grenzüberschreitende Wasserpolitik des türkischen Staates zusammen betrachtet werden, werden die Dringlichkeit und der Ernst der Lage deutlicher. Diese Erkenntnis muss in praktischen Schritten resultieren und auch die Politik der selbstverwalteten Gebiete muss sich in diesem Kontext anpassen, um eine landwirtschaftliche Politik zu entwickeln, die der Umweltzerstörung und der Klimakrise standhält. Zu diesem Zweck sollten Institutionen gegen den Ökozid und die Klimakrise gegründet werden, Akademiker:innen, politische Parteien, Verbände, Stiftungen und alle gesellschaftlichen Akteure sollten in diese Institutionalisierung einbezogen werden. Zu diesem Zweck könnten »Plattformen zum Schutz der Natur« in jeder Provinz eingerichtet werden, an denen Anwaltskammern, Rechtsanwält:innen, ökologische Vereinigungen und Bewegungen beteiligt sind. Dazu muss ein wirksamer juristischer Kampf auf lokaler und internationaler Ebene geführt werden. Zudem muss mehr gegen die Zerstörung kulturellen Erbes als Methode des Völkermords unternommen werden. Aus den Mängeln des juristischen und politischen Kampfes gegen die Zerstörung von Hasankeyf oder des Bezirks Sûr in Amed sollte auch gelernt werden.

Abschließend lässt sich sagen, dass in allen Teilen Kurdistans der Kampf gegen die Politik des Ökozids als lebenswichtige und soziale Existenzfrage in den Mittelpunkt der Politik gestellt werden sollte. Dazu gehört die Unterstützung der dörflichen Landwirtschaft gegen Vertreibung und wirtschaftliche Zerstörung, der Schutz der pflanzlichen und tierischen Artenvielfalt in Kurdistan und die Notwendigkeit der Erstellung wissenschaftliche Berichte über die sozioökonomischen, demografischen, kulturellen und ökologischen Folgen des Ökozids. Im Konkreten müssten im Anbetracht der Klimakrise in sämtlichen Regionen Institutionen und Aktionspläne gegen die zunehmende Dürre und die Klimakrise geschaffen werden, welche die Agrarpolitik auf theoretischer und praktischer Ebene organisieren. Dazu gehört auch die Aufklärung der Bevölkerung über die Folgen von Pestizideinsätzen und nicht-ökologischen Bewässerungstechniken und die Etablierung von wassersparenden landwirtschaftlichen Kulturen oder klimafreundlichen Anbautechniken.

 


 Kurdistan Report 226 | März/April 2023