Der Kampf der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung

An den Träumen derer festhalten, die die Hoffnung auf Freiheit sind

Rojbîn Ekin, Journalistin


Es ist offensichtlich, dass die Menschheit allmählich auf eine Katastrophe zusteuert und eine ökologische, wirtschaftliche und soziale Zerstörung stattfindet. Dieser Prozess wurde schon oft als Chaosintervall bezeichnet. Die Kräfte, die versuchen, diese Chaospause zu überwinden, indem sie Krieg und Konflikte immer weiter ausweiten, vertiefen jedoch die derzeitige Krise und das Chaos. Denn die aktuellen Probleme werden mit den Lösungswerkzeugen des kapitalistischen Systems angegangen, das seit hundert Jahren der Menschheit die Luft zum Atmen nimmt, sie ihrer grundlegenden Werte beraubt und auffrisst. Das Ziel ist nicht, der Menschheit durch sozialistische Werte ein besseres Dasein zu ermöglichen, sondern die kapitalistischen Giganten weiter aufzublasen und zu vergrößern. Wen kümmert es schon, dass im Jemen 11 000 Kinder durch den seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg ums Leben gekommen sind und fast eine halbe Million Kinder vom Hungertod bedroht sind? Wen kümmert es, dass weltweit 100 Millionen Menschen aufgrund von Krieg, Armut, systematischer Unterdrückung etc. auf der Flucht sind? Wer kümmert sich um die Klima- und Umweltzerstörung, die durch das weitere Anheizen von Rassismus, Kriegen und Kolonialisierung verursacht wird? Wer kümmert sich um die 6500 Wanderarbeiter, die ihr Leben verloren haben, um für die Fußball-WM 2022 zu bauen? Es ist offensichtlich, dass sich die kapitalistischen Mächte, die ökologische, wirtschaftliche und soziale Katastrophen und Krisen für sich in Chancen umwandeln, überhaupt nicht um diese Umstände scheren. Wenn es um wirtschaftliche, politische und militärische Interessen geht, haben die Menschen, die Natur und der Planet keinen Wert.

Auch das Leben und die Rechte der Frauen, die die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, die das Zentrum des Lebens und die Keimzelle der Gesellschaft sind, stehen unter großem Druck und sind bedroht. Die steigende Gewalt des patriarchalen Staates gegen Frauen gewinnt zunehmend an Akzeptanz. Deshalb wird die Welt mit diesem System und den Mächten, die sie beherrschen, auch nicht besser werden. Politische und moralische Werte werden ausgehöhlt. Die liberale Ideologie entfernt die Menschheit von der Gemeinschaftlichkeit und fördert den Individualismus. Die Menschen werden in einen Strudel hineingezogen, der ihnen die Reflexe nimmt.

Die Hoffnung, an die sich die Menschheit klammert …

Aber es gibt auch diejenigen, die durch ihren Kampf Hoffnung geben, die die Menschheit leiten, die Alternativen anbieten dem Chaos zu entkommen. Es gibt Bewegungen gegen das System, die diesem Lauf der Welt Einhalt gebieten wollen, und es gibt diejenigen, die unermüdlich dafür kämpfen, eine freiere, gleichberechtigtere und gerechtere Welt zu schaffen, die der gesamten Menschheit wieder Luft zum Atmen gibt. Es gibt das Paradigma einer demokratischen, ökologischen und geschlechtergerechten Gesellschaft von dem Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Von Kurdistan zum Mittleren Osten, vom Mittleren Osten bis nach Europa und Lateinamerika gibt es immer mehr Menschen, die sich organisieren und mit der durch dieses Paradigma geschaffenen Begeisterung und Hoffnung kämpfen.

Darin ist als wichtigste Entwicklung die Vorreiterrolle der kurdischen Frauen beim Aufbau eines alternativen Systems und der Kampf, den sie führen, zu nennen. Ihr Freiheitskampf ist zu einem wichtigen Beispiel und Vermächtnis für die Frauen im Mittleren Osten und in der Welt geworden. Die Freiheitsbewegung der Frauen Kurdistans hat mit dem heute erreichten Stand eine organisierte Struktur geschaffen, die alle Frauen des Mittleren Ostens und der Welt aufnehmen kann. Neben ihrer ideologischen Haltung stärkt sie ihre Organisierung und Betätigung in sozialen und politischen Bereichen und erfüllt dort ihre Führungsrolle. Sie hat ihre ideologischen, politischen, militärischen und sozialen Organisationen in den vier Teilen Kurdistans entwickelt und diese Organisationen in viele Länder der Welt getragen. Einer der wichtigsten Faktoren für ihr Überleben, ihr Wachstum und ihre Entwicklung ist ihre ideologische Infrastruktur, ihre philosophische Ausrichtung und eine militante Struktur, die sie entwickelt hat.

Erfahrungen des Widerstands für die Frauen der Welt aus der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung

Die Freiheitsbewegung der kurdischen Frauen verfügt jetzt schon über zahlreiche wichtige Erfahrungen aus Kämpfen, die für alle Frauen in der Welt an Bedeutung gewinnen. Indem sie das Erbe der Frauenbewegungen der Welt, deren Erfahrung und Wissen aus geführten Kämpfen in den eigenen Kampf einbezieht, setzt sie sich auch für die Freiheit aller Frauen weltweit ein. Deshalb legt sie großen Wert darauf, einen Zusammenschluss und die Entwicklung gemeinsamer Aktionspläne von Frauen zu organisieren. Die Frauennation wird, unabhängig von Sprache, Religion und Hautfarbe, in der Lage sein, sich zu treffen und mit vereinter Kraft Lösungen für die Probleme der gesamten Menschheit und der Natur zu finden. Das konkreteste Beispiel dafür war die Revolution in Rojava. Und seit dem 16. September hat sich der Widerstand der Völker und Frauen im Iran und in Rojhilat (Ostkurdistan), der durch die Ermordung von Mahsa Jîna Emînî durch die sogenannte Sittenpolizei ausgelöst wurde, unter dem Slogan Jin Jiyan Azadî vereint und Freiheit gefordert. So sind die kurdischen Frauen mit dem Organisierungsgrad, den sie in den vier Teilen Kurdistans erreicht haben, Vorreiterinnen für die Frauen in der Welt. Sie zeigen Wege und Methoden des Kampfes und wie man erfolgreich sein kann.

Die Herrschenden haben Angst vor kurdischen Frauen

Die kurdischen Frauen sind die aktivsten und wichtigsten Gestalterinnen der demokratischen Moderne, der demokratischen Gesellschaft und der demokratischen Autonomie. Sie führen das Volk von Kurdistan und die Frauen des Mittleren Ostens auf der Grundlage des Paradigmas der demokratischen, ökologischen und libertären Frauengesellschaft an. Die aktive Führung der kurdischen Frauen im Freiheitskampf und die Betonung der Begegnung und Partnerschaft aller Menschen auf der Grundlage einer demokratischen Gemeinschaftskultur eröffnet die Möglichkeit, dass eine Lösung der Krisensituation im Mittleren Osten entwickelt werden kann. Sie kämpfen in der Überzeugung, dass die tiefgreifende systemische Lösung in der Revolution der Frauen liegt. Entgegen den falschen Freiheits- und Gleichheitsdiskursen der kapitalistischen Moderne stellen sie fest, dass wirkliche Freiheit und Gleichheit nur durch die Frauenrevolution erreicht werden kann und entwickeln ihren Kampf entsprechend. Daher wird der erfolgreiche Abschluss der Frauenrevolution eine Lösung für alle Probleme bedeuten, die durch das Chaos und die Krisensituation entstanden sind, in die die Realität der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten und in der ganzen Welt geraten ist. In den Ländern des Mittleren Ostens, der Wiege der Menschheit, wird ein freies, gleichberechtigtes und gerechtes Leben, basierend auf die Arbeit der Frauen neu gewebt. Mutige kurdische Frauen, die hier die Vorreiterrolle spielen, betreten die Bühne der Geschichte und schreiben die Geschichte der Freiheit der Frauen. Genau aus diesem Grund fürchten die Herrschenden sie. Sie haben die Frauen im Visier.

Im Laufe des Jahres 2022 eskalierten die fortwährenden politischen und militärischen Angriffe des faschistischen türkischen Besatzer- und Kolonialstaates gegen Başûr (Südkurdistan) und Rojava und insbesondere gegen Bakur (Nordkurdistan) weiter. Das türkische Staatsregime, das einen rücksichtslosen Angriff in genozidaler Absicht auf Frauenorganisationen und Persönlichkeiten vornahm, die in Bakur aktiv kämpfen, weitete seine mörderische Aktivität auf Başûr, Rojava und Europa aus. Indem es die aktiven Vorreiterinnen des Frauenbefreiungskampfes ins Visier nimmt, zielt es darauf ab, die kurdische Freiheitsbewegung zu neutralisieren und zu liquidieren, wobei die Frauenbefreiungsbewegung die Grundlage für die Hoffnung auf Befreiung des kurdischen Volkes vom genozidalen Zugriff geworden ist. Die ermordeten Personen wurden also gezielt ausgewählt und getötet.

Frauen, die ihr Leben der Freiheit gewidmet haben

Jiyan Tolhildan
Eine von ihnen war Jiyan Tolhildan (Selwa Yusuf), die viele Jahre lang gegen IS-Banden in Rojava gekämpft hat. Am 23. Juli, während die Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Revolution in Rojava noch liefen und die Errungenschaften der Revolution intensiv diskutiert und auf die Agenda gesetzt wurden, wurde sie zusammen mit Roj Xabûr, dem Kommandant der Antiterroreinheiten (YAT), und dem YAT-Mitglied Barîn Botan bei einem Angriff einer bewaffneten Drohne des türkischen Staates getötet. Jiyan Tolhildan war Kommandantin der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Mit dem Beginn der Revolution vom 19. Juli in Rojava arbeitete sie in vielen Bereichen und stand an vorderster Front im Kampf gegen die IS-Banden. Sie war eine der erfolgreichen Kommandantinnen des Kampfes in Nordostsyrien. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Niederlage vom sogenannten Islamischen Staat. Nach einer Erklärung, die sie gegenüber der Presse abgegeben hatte, hatte sie auf die Frage, warum Frauen in Vorreiterrollen ins Visier genommen werden, mit den folgenden Worten geantwortet: »Wir wollen in einem gleichberechtigten und gerechten System zusammenleben, gegen das patriarchale Machtsystem, das nur Vernichtung kennt. Es ist nicht leicht, dies zu verwirklichen. Es gibt sowohl Angriffe von innen als auch von außen. Das ist mit großen Opfern verbunden. Im monistischen System wollen Frauen ihre Ketten sprengen und sich befreien, um nie wieder versklavt zu werden. Und je näher die Frauen ihrer Freiheit kommen, desto mehr nehmen die Angriffe auf sie zu. Wir haben keine Angst vor dem Tod. Wir werden frei leben und ein Sklavinnenleben nicht akzeptieren.« Es ist klar, dass sie ins Visier genommen werden, weil sie sich für ein freies, demokratisches Zusammenleben einsetzen und die Aufgabe haben, dieses aufzubauen.

Zeyneb Mihemed
Die Kampf- und Lebensprofile all der ermordeten Frauen in Vorreiterrollen, sind einander sehr ähnlich. Im Jahr 2022 wurde mit Zeyne Mihemed eine weitere Frau durch eine bewaffnete Drohne des türkischen Staates getötet. Am 27. September 2022 wurde sie in der Stadt Dêrik in der Region Cizîrê ermordet, als auf das Fahrzeug, in dem sie sich befand, gezielt wurde. Zeyneb Mihemed, die auf vielen Ebenen der Autonomen Selbstverwaltung v. Nord- und Ostsyrien mitwirkte, galt als eine aufopferungsvollsten und größten Kämpferinnen der Revolution. Sie war eine Frau, die ihr ganzes Leben der Freiheit ihres Volkes und der Frauen gewidmet hat, die Tag und Nacht gearbeitet hat. Darum wurde sie aus dem gleichen Grund wie Jiyan Tolhildan ausgewählt.

Nagihan Akarsel
Am 14. April 2022 begann das faschistische türkische Staatsregime einen neuen Angriffskrieg auf Başur. Während der laufenden Angriffswellen wurden zivile Siedlungen angegriffen und Zivilist:innen, darunter auch Kinder, massakriert. Die Angriffe weiteten sich auf die städte aus, kurdische Patriot:innen wurden ins Visier genommen und massakriert. Nagihan Akarsel, Redaktionsmitglied der Zeitschrift Jineolojî und Mitglied der Jineolojî-Forschungsakademie, war das jüngste Ziel der vom türkischen MIT organisierten Mordanschläge in Silêmanî, Başur. Am 4. Oktober wurde sie bei einem bewaffneten Angriff mit 11 Kugeln ermordet, als sie ihr Haus verließ. Sie hatte sich dafür eingesetzt, Frauen und die ganze Gesellschaft mit ihren historischen Wurzeln und Werten zusammenzubringen und zu sensibilisieren. Sie forschte, und jede neue Entdeckung versetzte sie in Aufregung, brachte ihr Glück und Hoffnung auf Freiheit. Sie kämpfte gegen männliche Kodexe, sie war auf der Suche nach der Verbindung der weiblichen Realität mit dem Leben. Jede Entdeckung, die sie machte, versuchte sie mit großer Begeisterung und Liebe den Frauen zu übermitteln. Sie sammelte und wollte die Stimme aller Frauen sein, die sich nach Freiheit sehnen. Sie arbeitete an einem Projekt zur Eröffnung einer großen Frauenbibliothek in Silêmanî. Sie hatte vor, Başur, wo tagtäglich Frauen vom patriarchalen System in jeder Hinsicht vernichtet werden, in eine Oase zu verwandeln, in der die Freiheit der Frauen Tag für Tag blühe. Dafür hat sie gelebt. Sie reiste von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, um Geschichten von Frauen zu sammeln und verfolgte so die Spuren der Göttinnen. Sie versuchte das Unbekannte zu ergründen. Sie widmete ihr Leben der Bildung und Organisation von Frauen. Das faschistische türkische Staatsregime muss wohl sehr große Angst vor ihrer Arbeit gehabt haben, das zeigt die brutale Ermordung mit 11 Kugeln deutlich.

Emîne Kara
Am 23. Dezember wurde Emîne Kara, die zusammen mit dem kurdischen Künstler Mîr Perwer und dem Patrioten Abdurrahman Kızıl in Paris ermordet wurde, aus dem gleichen Grund angegriffen. 30 Jahre lang hat sie für die Freiheit ihres Volkes und der Frauen in vier Teilen Kurdistans gekämpft. Sie arbeitete in diesem Kampf ohne Atempause, in Rojava wie in Paris. 60 Mitglieder ihrer Familie wurden von dem faschistischen türkischen Staatsregime ermordet. Ihre Familie musste aufgrund des Drucks des türkischen Staatsregimes aus ihrem Heimatland emigrieren. Mit ihrer kämpferischen Persönlichkeit und ihrer Haltung war sie so etwas wie das Rückgrat der kurdischen Freiheitsbewegung. Ihre Mitstreiter:innen beschrieben sie immer als solches. Sie war eine fleißige, unermüdliche und kämpferische Frau aus Botan. Sie lebte immer mit dem Ziel, eine sozialistische freie Welt zu schaffen, die auf kulturellen und gemeinschaftlichen Werten beruht.

Diese Vorreiterinnen, deren Kämpfe und die von ihnen geschaffenen Werte immer in Erinnerung bleiben werden, sind auch eine Mahnung für uns Frauen, für alle Frauen der Welt: Sich mit dem Bewusstsein der Selbstverteidigung gegen den patriarchalen Staatsfaschismus zu organisieren. Und natürlich dort weiterzumachen, wo sie aufgehört haben, um den Kampf noch zu verstärken und die Zeiten der Freiheit zu erreichen. Eine auf Frauenbefreiung basierende Gesellschaft gegen den patriarchalen Staatsfaschismus auf globaler Ebene zu organisieren, so wie sie es sich erträumt haben, und ein freies Leben auf der Grundlage der Freiheit der Frauen aufzubauen.


 Kurdistan Report 226 | März/April 2023